Landrat ist ein Job, den man meist nicht nur für wenige Jahre ausübt. Viele Amtsträger bleiben über Jahrzehnte im Amt und haben so zum einen Vergleichsmöglichkeiten in die Vergangenheit, zum anderen erwarten sie, auch über die nächste Wahl hinaus Verantwortung zu tragen und von den Bürgern zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es sind sozusagen „Landesväter“ im Kleinen, nur ohne die Volatilität von Landtagswahlen.
Der Grüne Jens Marco Scherf ist seit dem 1. Mai 2014 Landrat im fränkischen Miltenberg, direkt an der hessisch-bayerischen Grenze. Sein Vorgänger war seit 1986 im Amt gewesen. Scherf hat nun einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben, den er zugleich an die Landes- und Bundesspitzen seiner eigenen Partei schickte. Und das sind die Grünen. Bei den Grünen in Land und Bund erntete der Landrat angeblich Antworten und Dialogbereitschaft. Die Grünen-Spitzen hätten „verstanden, was unsere Probleme vor Ort sind“. Vom Kanzler kam noch nichts.
Wohnungsmangel, Kita-Knappheit, Schulnöte
Auch Scherf steht, so sagt er es im Interview mit der FAZ, „hinter meiner Bundesregierung und hinter der werteorientierten Außenpolitik der grünen Außenministerin“, aber trotzdem sieht er es als seine Pflicht an, die Regierenden in Berlin darauf hinzuweisen, dass „das mit der Flüchtlingspolitik“ gerade eben nicht mehr funktioniert. 2022 nahm Deutschland mehr Flüchtlinge auf als in den Krisenjahren ab 2015. Mit anderen Worten, die Migrationskrise ist – in anderem Gewand – zurückgekehrt.
Im Kreis Miltenberg bedeutet das so wie in vielen anderen Kreisen, dass es derzeit etwa so viele Ukraine-Flüchtlinge wie Zuwanderer aus anderen Länden gibt. Die Rede kann hier immer nur von den letzten Neuankömmlingen sein, andere sind schon einen Schritt weiter, haben das Asylsystem verlassen, leben in Wohnungen, die im Zweifel das Amt bezahlt, sind vielleicht sogar berufstätig und können sich bald einbürgern lassen. Der Wohnungsmarkt ist schon heute durch die anhaltend hohe Zuwanderung über die vergangenen sieben Jahre zum Zerreißen angespannt. Jetzt gibt es bald nichts mehr zu vergeben. Überall im Land sprießen Wald-und-Wiesen-Projekte aus dem Boden, wo die Neuankömmlinge in Containern oder dergleichen unterkommen sollen. Ein Schwebe-Cube-Hersteller aus Baden-Württemberg freut sich über einen „Riesenschub für Mini-Wohnungen“. Vielleicht bald auch für Studenten in Frankfurt, München oder Berlin?
In Miltenberg am Rande der dichtbesiedelten Rhein-Main-Region gibt es laut Scherf „kaum noch leerstehende Häuser“. Von den Bundesimmobilien, die Nancy Faeser letzten Herbst so großzügig vergab, steht keine in seinem Kreis. Von Kollegen aus anderen Kreisen hat er gehört, dass die Nutzung der Bundesliegenschaften nicht immer problemlos möglich sei. Aber der Wohnungsmarkt ist ja auch „nur ein Problem“, so Scherf. Hinzu kommen die überlasteten, „extrem angespannten“ Kindergärten und Schulen, an denen „seit 2015 … Großartiges bei der Aufnahme und Betreuung“ geleistet werde. Trotzdem, so gibt er zu, gibt es heute in Deutschland geborene Kinder, die wie ihre Mütter kein Deutsch sprechen. Die Kommunen seien so „dauerhaft überfordert“, heißt es in Scherfs Brandbrief. In seiner Pressemitteilung geht Scherf noch weiter: „Wir sind am Ende der Leistungsfähigkeit, es geht nicht mehr!“ Das muss auch der ewig besänftigende Bayerische Rundfunk berichten.
Die Grünen-Wähler vom Sommer ’21 wünschten sich übrigens ausreichende Kita-Plätze und ordentlich ausgestattete Schulen, und beklagten, dass immer wieder „Ziele formuliert werden, die dann nicht erreicht werden und nicht ernsthaft angegangen werden“. Also ganz konkrete Probleme, die angeblich mit den Grünen an der Macht gelöst werden sollten. Und dabei hätte auch der Kreis Miltenberg genug eigene Probleme: Gerade hat eine Kinderarztpraxis geschlossen, die die Versorgung im Kreis auf eine ernste Probe stellt. Auch die Unterbringung von zunächst 30 Afghanen in einer leerstehenden Schule bereitet den Anwohnern Sorge – nicht weil der Raum genutzt wird, sondern weil man nicht weiß, welche Folgen das für den kleinen Ort Klingenberg haben wird.
Integration wird so „zum Zufallsprodukt“
Als Grüner sieht Scherf die endgültige Integration der eingereisten „Flüchtlinge“ natürlich als legitimes Ziel. Aber, so ergänzt er: „Gerade weil mir die Integration so wichtig ist, ist es auch meine Verantwortung darauf hinzuweisen, wenn Dinge flächendeckend nicht optimal laufen.“ So sei die Trauma-Bewältigung durch qualifiziertes Personal nicht möglich: „Da kommen Menschen, die enorm belastende Situationen erlebt haben, sowohl in ihrem Heimatland als auch auf der Flucht. Und wer kümmert sich dann um sie? Ich habe niemanden mehr.“ 3,5 Stellen finanziere man ihm für derzeit 3.000 Migranten aus der Ukraine und von anderswo. Eben darum glaubt Scherf, dass es mit der Zuteilung von Unterkünften eben nicht getan ist. Das zeigt übrigens auch der Fall des Messerstechers von Brokstedt, der bis zuletzt in solchen Unterkünften lebte und dort immer wieder auffällig wurde. So werde Integration „zum Zufallsprodukt“, heißt es in Scherfs Brief an Olaf Scholz.
Scherf wünscht sich einen „fachlichen Austausch“ der höheren Ebenen mit den kommunalen Spitzenverbänden, vermutlich um zu erklären, dass der große Einschiffungs- und Einflugplan der grünen Parteiführung nicht funktionieren kann. Der Bund könne die Flüchtlingshilfe nicht immer weiter „nur an uns“ – die Landkreise und Kommunen – „delegieren“. Es ist eine vage, vermutlich vergebliche Hoffnung, die Scherf da hegt, dass man in Berlin auf ihn hören könnte und die mutwillig gemachten Aufnahme- und Transportangebote an illegale Migranten einstellt.
Ist es Ausdruck grüner Moral, Schlepper in Nordafrika zu bestärken?
Nun sagt auch Scherf nicht, dass man einfach die Grenzen zumachen solle. Seinen „Willen zur Differenzierung“ will auch er beweisen. Doch eins steht für ihn fest: „Die Bundesregierung muss anerkennen, dass die Flüchtlingshilfe, wie sie derzeit abläuft, humanitären Ansprüchen nicht genügt.“ Und nun geht es etwa im Duktus eines Mathias Tesfaye, einer Mette Frederiksen weiter. „Im Moment verleiten wir Menschen, extrem gefährliche Fluchtwege zu gehen. Und wer dabei nicht ums Leben gekommen ist oder versklavt wurde, der bekommt als Prämie einen Aufenthaltsstatus in Deutschland. Das ist doch nicht menschenwürdig.“
So wie bisher könne es nicht weitergehen – mit jährlich steigenden Asylantragszahlen, die im letzten Jahr deutlich die Grenze von 200.000 sprengten. Und selbst wenn es weniger wären, muss man ihm erwidern, kommen die neuen Anträge ja immer zu den älteren hinzu. Die Regierung organisiert so einen beständigen Zufluss in Systeme, die ihrer Natur nach begrenzt sind. Das gilt vor allem für die knappe Ressource Fachkräfte, die durch die Zuwanderung via Asylantrag eben nicht gestärkt wird. Im Gegenteil, das belegen auch die Worte des grünen Landrats, wird genau der Pool an Lehrkräften, Ärzten, Handwerkern, Ingenieuren usw. immer stärker gefordert durch die jährlich stattfindende Zuwanderung ungelernter Menschen, die aus unterentwickelten Ländern zu uns kommen.
Das „Wir haben Platz“ bröckelt
Scherf wundert sich nicht darüber, dass ein so gestricktes Asylsystem überlaufen sei von jungen Männern: „Entschuldigung, welche Familie ist so bekloppt, sich in Syrien oder Afghanistan auf diesen gefährlichen Weg zu machen?“ Zumal die Verwandten ja dann im zweiten Schritt nachreisen können, per Familienzusammenführung.
Langsam bröckelt das „Wir haben Platz“ der grünen Hohepriester von der reinen Menschlichkeit. Wie human ist es, zehntausende Migranten in „Mini-Wohnungen“ zu pferchen ohne Chance auf einen vernünftigen Job, Spracherwerb, Integration und echten Anschluss an die Gesellschaft? Die heikleren Fragen der Kultur hat Scherf natürlich ausgeblendet. Für ihn sind auch „syrische und afghanische Familien, die jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft haben“ und in denen vielleicht sogar einige Mitglieder arbeiten, mögliche Erfolgsmodelle.