Eine grüne Steuerberaterin schlägt intern Alarm. Im Februar 2013. Ihre Leute würden jetzt ihre Steuererklärung machen – und nachrechnen. Ihnen werde dabei klar, was die im November beschlossenen Pläne der Grünen für ihr eigenes Konto bedeuten würden und sie sagten zu ihr: Tut mir leid, aber bei aller Liebe, wenn mich das soviel kostet, kann ich dieses mal nicht grün wählen. Im Herbst 2013 ist Bundestagswahl und die Grünen bleiben weit hinter den Werten zurück, die sie im Februar noch hatten.
Das liegt auch an den Steuerplänen der Partei, die teuer für Besserverdiener geworden wären – der Stammwählerschaft der Grünen.
Bettina Jarasch sah in dem zurückliegenden Wahlkampf lange wie die neue Regierende Bürgermeisteirn Berlins aus. Doch auf den allerletzten Metern verpatzte es die Spitzenkandidatin. Das hängt zum einen mit Themen zusammen, die Jarasch im Wahlkampf setzte. Vor allem der Teilsperrung der Friedrichstraße für Autos. Zum anderen liegt es aber an einem Effekt, den die Grünen nicht zum ersten Mal heimgesucht hat: Je näher die Wahl rückt, desto mehr schmilzen ihre Umfragewerte zusammen.
Dieser Effekt ist in den Reihen der Grünen durchaus bekannt. Vor Wahlen warnen die Älteren die Jüngeren vor Euphorie. Die Grünen führen diesen Effekt intern auf die Rolle der Spitzenkandidaten zurück. Das ist nicht ganz verkehrt. Über die Wahlperiode hinweg spielen diese eine geringere Rolle, im Wahlkampf stehen sie aber über Wochen im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Verfügen die anderen Parteien dann über Wahlkampflokomotiven wie Kurt Beck oder Klaus Wowereit, verschieben sich die Stimmanteile entsprechend.
In Berlin spielte das 2011 bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus eine entscheidende Rolle. Im Vorfeld lagen die Grünen in den Umfragen fünf bis zehn Prozentpunkte vor der SPD. Renate Künast galt intern als Favoritin darauf, die erste grüne Landeschefin zu werden – nicht Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Es kam anders. Die Grünen landeten hinter der SPD, Wowereit blieb Regierender Bürgermeister.
Wahlen, die sich an Personen ausrichten, sind unter politischen und journalistischen Funktionären verpöhnt. Auf die Inhalte komme es an. Doch dass der Wähler gar nicht so falsch liegt, wenn er sich an den Menschen orientiert, zeigt sich in Sondersituationen wie der Pandemie. Die hat eins bewiesen: Im entscheidenden Moment kommt es eben doch darauf an, ob da ein Mensch sitzt, der kühl kalkuliert und warm fühlt. Oder Renate Künast.
Den Effekt, von Umfragewerten zu Wahlergebnissen zu verlieren, führen die Grünen intern aber auch deshalb gerne auf den Personen-Effekt zurück, weil ihnen das erspart, sich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen: Es sind die Inhalte. Denn je näher die Wahl rückt, desto eher spielt der Realitäts-Effekt eine Rolle. So wie im Februar 2012: Die Starken geben freiwillig mehr und mit dem Geld lösen wir alle Probleme, so dass wir künftig in Frieden, Freude, Eierkuchen zusammenleben – das klingt toll, da hat keiner was dagegen. Bis die Erkenntnis durchdringt: Ich habe künftig im Moment tausend Euro weniger auf dem Konto. Da überlegt es sich halt doch mancher auf den letzten Metern, ob er die Grünen tatsächlich wählt oder ob es ihm nicht doch reicht, die Grünen nur gut zu finden.
Diese Berlin-Wahl war keine Personenwahl. Franziska Giffey war Teil des Problems der SPD: Bei der Doktorarbeit gemogelt, als Ministerin untragbar, in der Silvesternacht hilflos… 32 Prozent der Befragten hätten laut ARD Franziska Giffey in einer Direktwahl ihre Stimme gegeben. Ein verheerender Wert für einen Amtsinhaber. Trotzdem haben die Grünen unter dem Realitäts-Effekt gelitten: Eine willkürliche Verkehrspolitik, die sich sogar über Gerichtsurteile hinwegsetzt. Vermieter, die zum staatlichen Gesinnungstest müssen. Je mehr sich die Menschen mit den Inhalten der Grünen auseinandersetzten, desto mehr schmolz deren Vorsprung. Am Ende fehlten gut 100 Stimmen auf die SPD.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Realitäts-Effekt die Grünen heimgesucht hat. Nicht in Berlin, wo ihn nach Künast fünf Jahre später dann Ramona Pop traf. Und nicht im Bund. Die Mutter aller Realitäts-Effekte erlebten die Grünen im März 1998. Nach 16 Jahren Helmut Kohl (CDU) hatten sie alle Chancen, im Bund erstmals zweisteillig zu werden. Dann beschlossen sie auf einem Parteitag, unter ihnen solle der Liter Benzin 5 Mark kosten – am Ende reichte es für die Grünen noch zu 6,7 Prozent im Bund und zur Rolle des Kellners von Bundeskanzler Gerd Schröder (SPD).
Den bekanntesten Realitäts-Effekt erlebte Annalena Baerbock. Die lag im März 2021 deutlich vor Olaf Scholz (SPD) und schien die erste grüne Kanzlerin werden zu können. Doch dann kam die Plagiatsaffäre. Aber an der Affäre scheiterte Baerbocks Kandidatur nicht – sondern an dem Umgang mit der Affäre. Sie wand sich; dementierte, bis es nicht mehr anders ging; versuchte sich in der Umkehr vom Täter zum Opfer; verdrehte Sätze und Inhalte, erwies sich somit als unzuverlässig und gab, kurz gesagt: Ein Bild ab von einer Person, die ein Wähler nicht als Bundeskanzler will.
Die Deutschen wollen grüne Inhalte: Als Deutsche das Weltklima retten, die Armen dieser Erde zu Reichen machen, den Weltpolizisten spielen, nur noch erlesenes Essen auf den Tisch lassen, Strom ganz ohne Kraftwerke produzieren – wer will das alles nicht. Zumal ARD, ZDF, Süddeutsche und Co den Deutschen suggerieren, dass das alles ginge. Bis kurz vor der Wahl. Bis 85 Prozent der Menschen darüber nachdenken, dass E-Autos blöd sind, wenn sie mit Braunkohle befeuert werden; doch nicht so viel Platz ist wie gedacht oder ein Stromausfall nur in Kinderbüchern etwas Wünschenswertes ist. Dann überlegen sich 85 Prozent der Wähler – entgegen der Staatsfernsehenräson – ob sie wirklich die Grünen wollen. Und lassen den Realitäts-Effekt über die Partei der hohen Umfragewerte kommen.