Tichys Einblick
Kommunen an Grenze der Leistungsfähigkeit

Grüne Realo-Gruppe: Radikaler Kurswechsel in Migrationspolitik gefordert

Nun lenken auch Teile der Grünen in der Migrationsdiskussion ein und sehen, dass die Werte Europas nicht von allen Zuwanderern geteilt werden. Konkret fordern die „Vert Realos“ um Boris Palmer und Rezzo Schlauch die Einrichtung „verpflichtender Aufenthaltszonen an den EU-Grenzen sowie außerhalb der EU unter EU-Kontrolle“.

IMAGO / ULMER Pressebildagentur

Die Gemeinden und Landkreise stehen unter enormem Druck, seit klar wird, dass der Bund die Kosten für die Migration nicht mehr unbegrenzt übernehmen will. Es sind aber nicht nur Geldfragen, die die Kommunen bewegen, sondern ebenso solche des Platzes und der reinen Kapazität. Der Krug geht zur Neige, und keiner kann es ignorieren. So erklärt sich auch dieser Hilferuf einer Gruppe von Grünen.

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Sie nennen sich etwas kryptisch Vert Realos (vom französischen „vert“ für „grün“). In der Nebenbezeichnung heißt es noch merkwürdiger: „Die B¨rgerliche Grüne Mitte“. Das Trema statt dem ü soll vermutlich entkrampfend wirken. „Bürgerlich“ hat immer noch einen miefigen Geruch in diesem Milieu. Die Grünen besetzen den Begriff zwar gelegentlich, wo sie klassisch-bürgerliche Parteien bekämpfen, aber diese Aneignung bleibt oberflächlich – vielleicht bis zu diesem Punkt.

An der Spitze der Gruppe steht mit Boris Palmer jener Grünenpolitiker, den man – trotz gelegentlicher Wahnanfälle – als bürgerlichen Politiker wahrnehmen kann. Vielleicht kann die Gruppe also zusammen eine sinnvolle Veränderung und Umpositionierung sogar der extrem ideologischen und gesinnungsethischen grünen Partei anstoßen, wenn man sie nur lässt.

In ihrer Selbstbeschreibung nennen sie sich „wertkonservative Grüne, Grünliberale, grüne Kommunalos, Ökolibertäre, sozialliberale Grüne“, vor allem „Menschen aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft“. Aber das Trema signalisiert auch: Das Bürgerliche muss erst transformiert werden, damit es bei den Grünen einen Blumentopf gewinnen kann. Man muss es entkernen und die Hülle dann mit grünem Gehalt füllen. Das ist vermutlich der Plan. Das schützt diese grünen Realpolitiker aber nicht vor der Realität. Denn auch wenn das deutsche Bürgertum manchmal etwas abwesend erscheint, am Ende weiß es zu rechnen.

Die Realos fordern eine wertebasierte Migrationspolitik

In dem „Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland“ vom 11. Februar, das 76 grüne Realos unterschrieben haben, darunter Jens Marco Scherf und Rezzo Schlauch, geht es aber sogar um noch mehr. Nicht nur das Geld und die Ressourcen werden inzwischen knapp. Mit den europäischen Werten sieht es nicht viel anders aus. Und so kritisieren die 76 Realos zwar auch die „deutsche Seite“, die „keinen klaren Weg für das Leben hier bzw. für die Integration in unsere Gesellschaft“ aufzeige. Doch danach werden, deutlich ausführlicher, auch die Probleme der „anderen Seite“ benannt, die vor allem deshalb entstünden, weil die Migrantengruppen „unterschiedlich sozialisiert“ seien.

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In dem Papier ist vielleicht zum ersten Mal auch von „grüner Migrationspolitik“ die Rede, wofür man schon deshalb dankbar sein kann, weil es bisher so aussehen konnte, als wäre jede Befürwortung von Migration unter welchen Bedingungen auch immer zum einen typisch grün, zum anderen aber von allen Deutschen zu akzeptieren. Die Definition der spezifisch „grünen Migrationspolitik“ kann da also nur helfen. Man möchte Großakteure wie Baerbock, KGE und andere zu trennscharfen Definitionen auffordern, ohne allerdings allzuviel Hoffnung darein zu setzen.

Nun zur Sache: „Grüne Migrationspolitik“ laut den Vert Realos ist zwar offen für Veränderungen, orientiere sich aber „dabei eindeutig an den Regeln der freiheitlich demokratischen Grundordnung“. Das Besondere hier: Die zweite Aussage ist nicht als Begründung, sondern als Einschränkung der ersten zu sehen. Das machen die direkt folgenden Sätze deutlich: „Damit ist mehr gemeint, als der reine Gesetzestext, sondern die Hoheit des Rechtes über alle anderen Regelungen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Trennung von Staat und Religion, Freiheit und Gleichberechtigung unterschiedlicher individueller Lebensentwürfe sind für uns nicht verhandelbar.“

Gegen die Relativierung des nationalen Rechts

Das sind nun alles – und so muss man es entschlüsseln – Einwände gegen eine Relativierung des Rechtsstaats im Namen anderer Kulturen und Sozialisationen. Der „aktuell schleichenden Erosion dieser Werte unter dem Banner einer falschen Toleranz“ gelte es entschieden entgegenzutreten. Also nicht nur „schleichend“, sondern sogar „aktuell“. Das dürfte starker Tobak für jeden Grünen-Parteitag sein, obwohl die Parteiführer natürlich erwidern könnten, man tue doch schon alles, was man könne, dafür. Die Antwort der Ultra-Realos wäre dann, das reiche eben noch nicht.

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Für sie ist es „notwendig, dass die grundlegenden Werte eines Landes von allen in ihm lebenden Menschen geteilt werden“. Das sei auch den „neu ins Land kommenden Menschen … schnell“ mitzuteilen. Man müsse diese Menschen „über unsere grundlegenden Werte“ aufklären. Staat, Politik und Gesellschaft müssten diese Grundlagen vermitteln, sie „einfordern und wo nötig auch durchsetzen“. Das klingt ja schon wieder ziemlich repressiv, aber so ist das eben mit Regeln, die für alle gelten. In Bezug auf Immigranten mag das allerdings neu sein für die Grünen als Partei. Deshalb wird es hier so hervorgehoben.

Am Ende wollen die Ultra-Realos innerhalb der Grünen sogar bei den Migrationsgründen unterscheiden, nämlich zwischen „Asylbewerbern, Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen und Menschen, die ein vor allem wirtschaftlich besseres Leben suchen“. Das wäre allerdings revolutionär für eine Partei, die auf diesem Auge traditionell vollkommen kurzsichtig bis absolut blind ist. Die neuen Realos nehmen sich den Satz von Alt-Bundespräsident Gauck zu Herzen: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich!“ Man will daher eine „steuernde Migrationspolitik, auch dann, wenn dies harte Entscheidungen mit sich bringt“. Der Status quo sei jedenfalls nicht haltbar, so die Vert Realos mit einem weiteren Ausrufezeichen.

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Dieser Status quo wird wie folgt beschrieben (nur auszugsweise wiedergegeben):

Die Lösung zu all diesen Problemen liegt nicht rundweg auf der Hand. Man wird sehen, dass auch die Vert Realos davon ausgehen, dass Deutschland und die EU hier als die Haupthandelnden das Migrationsproblem in seiner Gesamtheit lösen müssen.

Immerhin fällt der fortgesetzte Import der Intoleranz auf

Was die konkreten Forderungen der Gruppe angeht, wollen sie am Asylrecht erwartungsgemäß nicht rütteln. Sie fordern aber, dass „die Asylempfänger sich einordnen in die geschichtlich gewachsene gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“. Das klingt eigentlich ziemlich konservativ. Was macht nun die „geschichtlich gewachsene Ordnung“ dieses Landes aus? Die Autoren der Denkschrift denken an „die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Nichtduldung von Antisemitismus, das Existenzrecht Israels, religiöse Toleranz sowie die Akzeptanz etwa von homo- und transsexuellen Menschen“. Insbesondere die „Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Frau“ gehörten zum „kulturellen Kern Europas“. Wer das nicht akzeptiere, könne „hier eigentlich nicht leben wollen“. Immerhin fällt den Memo-Autoren der fortgesetzte Import der Intoleranz nach Mitteleuropa auf.

Daneben dürften die Asylbewerber „ihre Herkunft nicht verschleiern“ und – eigentlich klar, vielleicht aber nicht für Grüne – „nicht straffällig werden“. Andernfalls verfalle ihr Asylrecht und damit auch ihr Aufenthaltsrecht, „was auch eine (möglichst zügige) Abschiebung nach sich ziehen muss“. Die Realo-Grünen führen drei Kategorien ein, die sie unterschiedlich behandelt wissen wollen: (i) politisches Asyl, dann (ii) „Flucht vor Krieg und Vertreibung und aus existenzieller Not“ sowie (iii) „gezielte Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen“.

Die Halblösung: Hot-Spots und löchrige Definitionen

Man muss leider sagen, dass diese Definitionen etwas löchrig sind. Zum einen fügen die grünen Realos eine „Flucht aus existenzieller Not“ ein, was dazu angetan sein dürfte, die Schleusen auch für die Mehrzahl der Armutsflüchtlinge zu öffnen. Zum anderen heißt es im dritten Punkt wohl bewusst „gezielte Einwanderung aus … Gründen“. Wenn es der Syrer oder Afghane also nicht nachweislich „gezielt“ auf wirtschaftliche Vorteile angelegt hat, dann rutscht er wiederum in Kategorie (i) oder (ii). Mit diesen Unterscheidungen wäre also noch nicht viel gewonnen. Später ist auch von der Flucht wegen „Naturkatastrophen“ die Rede, was eine weitere Schleuse ins deutsche Sozialsystem öffnen würde. Gut könnte allenfalls sein, dass auch zwischen dauerhaft hier bleibenden Migranten und zeitweise zu beherbergenden unterschieden wird, wiederum aber nicht trennscharf, sondern eher ansinnend an einen künftigen Gesetzgeber, der vielleicht nie kommen wird. Die Realo-Grünen belasten sich offenbar nicht mit Forderungen, die sie ohnehin nie durchkriegen werden.

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Die wichtigste Forderung, die auch in den einschlägigen Talkshows schon etwas Anklang gefunden hat, ist aus diesem Grund die fünfte: „Wir fordern verpflichtende Aufenthaltszonen an den EU-Grenzen sowie außerhalb der EU unter EU-Kontrolle.“ Das ist natürlich auch nur eine Wiederauflage der Hot-Spot-Politik, die sich dabei etwas konsequenter gibt. Durch den extraterritorialen Charakter sollen Rückführungen leichter gelingen. Dabei kann sich niemand darüber täuschen, dass solche Einrichtungen auch abschreckend wirken, wie ja auch schon im Wörtchen „verpflichtend“ anklingt. Es sind, kurz gesagt, die Lager, die es etwa Griechenland und auf Lampedusa bereits gibt, nur dass sie dort nicht konsequent extraterritorial sind.

Dann heißt es noch, es brauche auch im Rahmen der EU einen Ausgleich der unterschiedlichen Einstellungen zur Aufnahme von Migranten. Deutschland dürfe sich dabei nicht „aufs hohe Ross moralischer Überlegenheit setzen“, solle lieber den „Ländern an der Peripherie der EU“ helfen, auch wenn nicht klar ist, welche Art Hilfe man sich hier vorstellt. Das könnte wiederum heilsam für die grüne Partei und die Ampelkoalition sein, wenn es Gestalt annähme. Aber bis dahin ist der Weg sicherlich noch sehr weit. Vermutlich asymptotisch weit.

Die vergessene Frauen- und Familienpolitik der Linken

Nebenbei erfährt man aber auch, woran der Diskurs in diesem Land mitunter krankt. So heißt es in dankenswerter Offenheit: „Die Gruppe der Vert Realos sei für die gezielte Einwanderung von qualifizierten und zu qualifizierenden Menschen“. Es geht also explizit um gebildete und weniger ausgebildete Menschen, ohne dass hier der Gedanke der Sozialisierung und Integrierbarkeit fortgesponnen wird. Zudem mahnen die Realos aber an, dass die „Einwanderungspolitik … dabei nur ein Baustein von mehreren“ sei, „um die Zukunft der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft und damit auch Wohlstand zu sichern“.

Daneben müsse man „auch weiter an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeiten“. Das ist in der Tat eine andere, bei den Nachbarvölkern viel verbreitetere Methode, um Fachkräfte freizusetzen und zugleich etwas in Sachen Familienpolitik zu tun: Vor allem Frauen muss die Möglichkeit gegeben werden, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bekommen. In Dänemark und Schweden tut man noch mehr und fordert das Gleiche sogar von Migrantinnen (mit und ohne Kopftuch). Insgesamt lässt sich nach der Lektüre des grün-realistischen „Memorandums“ feststellen, dass die Politikfelder rund um Gleichberechtigung und Frauenpolitik, Freiheit, Toleranz und europäische Werte im Vergleich zu der anscheinend allmächtigen Migrationspolitik ein Schattendasein führen.

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