Tichys Einblick
„Existenzbedrohend, was sich abspielt"

Gewerkschaften wachen auf und fürchten plötzlich um Arbeitsplätze

Langsam wachen zumindest die Gewerkschaften auf. DGB-Chefin Fahimi (SPD) warnt vor Deindustrialisierung und fordert konkrete Maßnahmen statt „kapitalismuskritischer Grundsatzdebatten“. SPD-Ökonom Fratzscher formuliert bereits einen Opfermythos, nach der die Ampel völlig unbeteiligt an der Wirtschaftskrise sei.

DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi beim Festakt "25 Jahre erfolgreich – IGBCE", Hannover, 23.09.2022

IMAGO / Future Image

Während die Ampel-Regierung über den Strukturwandel und Transformation hin zur CO2-freien Wirtschaft und Zukunft räsoniert, ist die Debatte um die zunehmende Deindustrialisierung im Gang. Nicht ohne Grund. Knapp die Hälfte der Beschäftigten in der Chemieindustrie und Energiewirtschaft, nämlich 47 Prozent, machen sich laut einer Umfrage der Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie große oder sehr große Sorgen um ihren Arbeitsplatz. Die Prognose für 2023 lautet: Produktion und Umsatz im Sinkflug.

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„Es ist wirklich nach wie vor existenzbedrohend, was sich derzeit in der Industrie abspielt“, bekundete nun auch DGB-Chefin Yasmin Fahimi (SPD). So kritisierte Fahimi, dass in Unternehmen nach den beschlossenen Energiepreisbremsen bei Zuwendungen über 50 Millionen Euro keinerlei Boni und Dividenden mehr gezahlt werden dürfen. Unternehmen könnten die staatliche Unterstützung nicht annehmen, wenn sie an Dividendenzusagen gebunden seien oder neues Kapital für Investitionen benötigten.

„Das sind die normalen Mechanismen der Marktwirtschaft“, sagte Fahimi. „Es mag ja sein, dass die einem nicht gefallen. Aber jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität.“ Mit dem Ausschluss von Dividendenzahlungen in der jetzigen Situation nehme man billigend in Kauf, „dass in Deutschland das Risiko der Deindustrialisierung größer wird“.

Gewerkschaften bejubelten bislang Ampel-Politik

Fahimis Einwurf kommt überraschend. Bislang haben die Industriegewerkschaften stillschweigend die grüne Wirtschaftspolitik mit beständiger Energieverteuerung, Schwächung der Kaufkraft, sinkender verfügbarer Realeinkommen der Beschäftigten wegen steigender Steuern, Sozialabgaben und Inflation stillschweigend geduldet – oft sogar beklatscht. Die IG Metall beispielsweise, früher die mächtige Vertretung der Beschäftigten in der Automobilindustrie, applaudierte zum Verbrenner-Aus, obwohl damit erwartungsgemäß mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze verlorengehen. Man genügte sich mit Geschwurbel zum Thema Transformation und Qualifizierungsoffensive, ohne der Tatsache ins Auge zu schauen, dass fehlende Jobs nicht qualifiziert werden müssen.

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Auch die grüne Energiepolitik und der Kohleausstieg trafen nicht auf Protest der Gewerkschaften, sondern auf deren Zustimmung. Gefordert wurden auch hier allenfalls Frühverrentung und vage wirtschaftspolitische Zusagen hinsichtlich allgemeiner Strukturpolitik. Klimapolitik rangiert vor Beschäftigungssicherung, so das Motto. Nicht erkannt wurde, dass der Rückgang der Industrie ein sich selbst beschleunigender Prozess ist: Die Energiewende zerstört nicht nur Arbeitsplätze in Kraftwerken, sondern über die Verteuerung der Energie auch andere Branchen. Neuerdings scheint die Angst vor den Geistern umzugehen, die man selbst gerufen hat. Auch die beständige antikapitalistische Rhetorik aus SPD und Grünen scheint plötzlich aufzuschrecken.

Fahimi sagte auch, ihre Befürchtung sei, „dass in den kommenden Monaten viele Betriebe die Produktion drosseln und perspektivisch Arbeitsplätze abbauen könnten“. Doch dieser Prozess ist schon längst Fakt. „Deutschland ist traditionell ein Wirtschaftsstandort mit einem starken industriellen Kern. Aber der Anteil des verarbeitenden Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt seit Jahren und lag 2021 nur noch bei 19 Prozent. 2015 hatte dieser Sektor noch gut ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung ausgemacht. Entgegengesetzt entwickelte sich dagegen der Staatskonsum, der vor allem seit 2018 kräftig ausgeweitet wurde“, schreibt die Welt.

Fahimi hat zwar Chemie studiert, aber eine Karriere in der Chemiegewerkschaft hingelegt. Von Januar 2014 bis Dezember 2015 war sie Generalsekretärin der SPD. Anschließend war sie von Januar 2016 bis September 2017 Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Von 2017 bis 2022 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages.  Sie bekennt sich zum linken Flügel der SPD-Bundestagsfraktion, der Parlamentarischen Linken. Sie lebt in einer Beziehung mit Michael Vassiliadis, dem Chef des IG BCE. Seit Mai 2022 ist Fahimi Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ihr Vorstoß ist im linken Lager nicht unumstritten.

SPD-Ökonom redet Probleme klein

Zeitgleich wirft der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, den Industriekonzernen „Panikmache“ vor. Fratzscher gilt als SPD-nah, auch das DIW gilt als gewerkschaftsnah und ist bislang nur mit unkritischer Bestätigungs- und Rechtfertigungsakklamation der Energiepolitik aufgefallen. Die entsprechende Abteilung im DIW wird von Claudia Kemfert geleitet, dis bislang extrem einseitig die Energiewende verteidigt hat. 

„die lage ist dramatisch“
Prognose 2023: Produktion und Umsatz im Sinkflug
Die Deindustrialisierung sei „ein Popanz“, sagte Fratzscher der Augsburger Allgemeinen. Es sei letztlich „ein Schreckgespenst“, das aufgebaut werde, um „der Politik Geld aus den Rippen zu leiern“, so Fratzscher. „Wenn die BASF chemische Grundstoffe nun billiger in den USA herstellt, ist das insgesamt für das Unternehmen besser und damit auch für die deutsche Wirtschaft.“ Dabei gesteht Fratzscher ein, es gebe zwar das Risiko, dass manche energieintensiven Unternehmen pleitegehen oder abwandern würden. Er sei jedoch sehr optimistisch, dass die Industrie den neuen Preisschock gut wegstecken könne, weil „wir schon lange hohe Kosten haben“. Das ist allerdings eine merkwürdige Argumentation: Weil die Kosten im internationalen Vergleich hoch sind, können sie also weiter erhöht werden?

Aber ganz so sicher ist sich Fratzscher seiner Sprüche dann doch nicht. Denn andererseits sieht der Ökonom laut Focus einige Risiken, die die deutsche Wirtschaft 2023 bedrohen. Zum einen Russlands Krieg gegen die Ukraine, in der Folge eine mögliche Eskalation des militärischen Konflikts, der sich intensiviert und über die Grenzen ausweitet, welcher die europäische Wirtschaft in eine tiefe Rezession oder gar Depression treiben könnte.

„Das zweitgrößte wirtschaftliche Risiko ist eine Gas- und Energieknappheit in Deutschland und Europa. Die Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute sieht eine Rezession von bis zu sieben Prozent auf die deutsche Wirtschaft zukommen, sollten manche Unternehmen gezwungen werden, ihre Produktion einzustellen, was zu dramatischen Kaskadeneffekten führen würde“, schreibt Fratzscher in der Welt.

„Das dritte Risiko sind erneute Unterbrechungen in den globalen Lieferketten. Mögliche Ursachen sind vielfältig und hängen nicht nur mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Das wohl wahrscheinlichste Szenario ist die Covid-Welle in China, die nach Prognosen des ‚Economist‘ mehr als eine Million Menschen in der Volksrepublik das Leben kosten und zu Unterbrechungen bei der Produktion oder den Transport von wichtigen Vorleistungen führen könnte.“ Auch ein globaler Handelseinbruch sei denkbar, sowie ein bedrohlicher Wirtschaftskonflikt zwischen den USA und China.

Deindustrialisierung in Deutschland
Energiekosten bringen zahlreiche Betriebe in Insolvenzgefahr
„Das vierte Risiko ist ein erneuter Einbruch des globalen Handels, der verschiedene Ursachen haben könnte. Zahlreiche Schwellenländer kämpfen mit Finanzkrisen, da ihre Währungen abgewertet wurden und Kapital abgeflossen ist. Aber auch der Handelskonflikt zwischen den USA und China spitzt sich wieder zu.“

„Das fünfte Risiko sind die Inflation und die massiv schrumpfende Kaufkraft für so viele Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Wenn Menschen 15 oder 20 Prozent mehr ihres Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen, dann haben sie weniger Geld, zu reisen, einzukaufen oder sich andere Dinge des täglichen Lebens leisten zu können. Ein schwächerer Konsum schadet auch den Unternehmen, was in eine Spirale von geringeren Einkommen und sinkender Nachfrage führen könnte“, so Fratzscher.

Hier liege ein großer blinder Fleck in der Betrachtung des wirtschaftlichen Ausblicks 2023: „Selbst wenn diese Risiken nicht oder nur zu einem geringen Maße eintreten, so zahlen Menschen und Unternehmen ganz unterschiedliche Preise für diese Krise.“ Vorstellungen, wie diese Risiken begrenzt werden könnten und welche Rolle die umstrittene Wirtschaftspolitik dabei spielt, entwickelt Fratzscher nicht. Die von ihm aufgeführten Risiken stammen nicht von der hausgemachten Wirtschafts- und Energieverteuerungspolitik, sondern brechen von außen über die Wirtschaft herein.

Dabei übersieht Fratzscher geflissentlich, dass die hohe Kosten- und Abgabenbelastung, Energiepreise und wachsende Anzahl von Technologieverboten in Deutschland hausgemacht sind und die Fähigkeit der Unternehmen herabsetzen, eigenständig Risiken abzufedern. Für Fratzscher sind Robert Habeck und die Ampel gewissermaßen unbeteiligte Opfer. Offenkundig wird hier an einem Opfermythos gebastelt, der die Verantwortung der Ampel an der künftigen Wirtschaftskatastrophe kleinreden soll.

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