Waren das noch Zeiten, als ein sozialdemokratischer Bundesarbeitsminister vor 15 Jahren die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre so begründete: „Da muss man kein Mathematiker sein. Da reicht Volkshochschule Sauerland, um zu wissen: Wir müssen irgendetwas machen.“
Der Mann hieß Franz Müntefering und nahm schlicht die Realität zur Kenntnis: Eine ständig steigende Lebenserwartung der geburtenstarken Jahrgänge, die auf eine über Jahrzehnte massiv gesunkene Geburtenrate trifft, wird die umlagefinanzierte Rentenversicherung in massive Finanznöte stürzen. Die nackten Zahlen bestätigen: Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer erhöhte sich zwischen 1969 und 2019 für Männer von knapp über zehn Jahren auf 18,2 Jahre, für Frauen von 12,5 auf 21,7 Jahre.
Das hat die Rentenausgaben gewaltig in die Höhe getrieben. Gleichzeitig halbierte sich die Geburtenrate. Die Kerze brennt also von zwei Seiten: Immer mehr Rentenbeziehern stehen künftig immer weniger Beitragszahler gegenüber. Während im vergangenen Jahrzehnt eine demografische Atempause zu verzeichnen war, gehen in den 2020ern nämlich die geburtenstarken Babyboomer der 1950er und 1960er in den Ruhestand. Sie treffen dann auf geschrumpfte jüngere Kohorten, die im Arbeitsmarkt aktiv sind und in die Rentenkasse einzahlen.
Hauptautor des von Scholz kritisierten Gutachtens ist Axel Börsch-Supan, Leiter des Center of the Economics of Aging am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, der auch Mitglied der von der Großen Koalition eingesetzten Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ war. Vielleicht ist es ein Nachtreten von Scholz, denn der Max-Planck-Forscher hatte die Rentenkommission unter Protest verlassen und die politische Gängelung durch die Regierungsvertreter in der Kommission moniert.
Die in dem Gutachten geschilderten Fakten sind indes mehr als brisant. Weil die Große Koalition in den vergangenen zwei Legislaturperioden die Rentenreformen der 2000er-Jahre zurückgedreht hat, die für mehr Generationengerechtigkeit zwischen den Beitragszahlern der aktiven Generation und den Rentenbeziehern gesorgt hätten, steigen die Rentenausgaben immer weiter und müssen mit immer mehr Steuerzuschüssen aus dem Bundeshaushalt aufgefüllt werden.
Der aus Steuermitteln – und damit auch von vielen, die überhaupt keine Leistungen aus der Rentenkasse erhalten – finanzierte Bundeszuschuss wird zwangsläufig immer größer. Mehr als ein Viertel des gesamten Haushalts beansprucht die Rentenversicherung inzwischen. Ohne die rund 93 Milliarden Euro Zuschuss wären die monatlichen Rentenauszahlungen überhaupt nicht gewährleistet. Am Ende des aktuellen Finanzplanungszeitraums im Jahr 2024 wird der Zuschussbedarf bereits bei fast 120 Milliarden Euro liegen.
Haltelinien aufgeben
Das Gutachten des Bundeswirtschaftsministeriums-Beirats warnt explizit davor, die bisherige Haltelinie bei Beitragssätzen und Rentenniveau über 2025 hinaus fortzuführen. Der Bundesfinanzminister hatte bereits vor drei Jahren gefordert, die Haltelinien bis zum Jahr 2040 zu verlängern. In der Grundtendenz findet sich diese großsprecherische Rentenpolitik auch in den Wahlprogrammen der SPD, der Grünen und der Linken. Ob die Union hier nachhaltig Widerstand leisten wird, ist fraglich. Denn sie scheut einen Rentenwahlkampf, weil die wahlentscheidenden Wählergruppen älter als 60 Jahre alt sind.
Bereits die Renten-Nullrunde ab Juli dieses Jahres im Westen und die nur
kleine Erhöhung im Osten schlagen womöglich bei Millionen von Ruheständlern stimmungsmäßig negativ zu Buche, zumal die Inflationsrate bis zur Bundestagswahl in Richtung vier Prozent klettern könnte. Kaufkraftverluste sind für Wahlkämpfer Gift.
Es droht schlichtweg der Kollaps der öffentlichen Finanzen. Aber davon wollen Scholz und seine Freunde nichts wissen. Sie malen dem Wahlvolk nach
wie vor eine Wolkenkuckucksheim-Lösung aus: länger leben, weniger arbeiten – aber Lebensstandard halten! Wie das gehen soll? Großes Fragezeichen ohne Antwort.
Vor allem in der Rentenversicherung, aber auch in der Kranken- und Pflegeversicherung verschlechtern sich durch die höhere Lebenserwartung die strukturellen Risiken. Die Bezugsdauer der Leistungen wächst, während die beitragspflichtigen Erwerbsphasen in Relation zur Lebenserwartung abnehmen. Dass da ein Problem besteht, ignoriert aber nicht nur Olaf Scholz. Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier machte sich die Vorschläge seines wissenschaftlichen Beirats „ausdrücklich nicht zu eigen“. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) distanzierte sich vehement. Von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erhielten die Beiratsmitglieder prompt eine Abfuhr. Und die Linke schließlich sprach von einem „asozialen Oberhammer“.
Dabei sind die Ratschläge der Wissenschaftler durchaus bedenkenswert und bei nahezu allen Fachleuten unumstritten. In den Niederlanden und in Großbritannien ist Vergleichbares bereits gesetzlich verankert. Mit dem Renteneintrittsjahr 2030 ist die unter Müntefering vor 15 Jahren beschlossene sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre in Deutschland abgeschlossen. Weil die Lebenserwartung aber weiter gestiegen ist und auch künftig steigen wird, schlägt der Bei- rat ab 2031 eine sukzessive weitere Erhöhung nach dem „2:1-Schlüssel“ vor. Steigt die statistische Lebenserwartung um zwölf Monate, erhöht sich das Renteneintrittsalter um acht Monate.
Schon heute gehören die Deutschen zu den Zahlern der höchsten Steuern und Abgaben in der Welt. Sozialabgaben von in der Summe 20 Prozent (allein der Arbeitnehmerbeitrag) belasten die Bruttolöhne der beitragspflichtigen Arbeitnehmer. Dazu kommen Lohn- und Einkommensteuern, die schon ledigen Facharbeitern, deren Einkommen etwa eineinhalb mal höher liegt als das deutsche Durchschnittseinkommen, für den nächsten verdienten Euro den Spitzensteuersatz abverlangen.
Sozialbeiträge müssen weiter steigen
Wenn Scholz und seine Kollegen ihre Wolkenkuckucksheim-Politik fortsetzen, dann müssen sie die Wähler auf die Konsequenzen aufmerksam machen: Die Sozialbeiträge werden sich in den kommenden zwei Jahrzehnten um mindestens fünf Prozentpunkte erhöhen (allein der Arbeitnehmeranteil). Einkommen- und Mehrwertsteuer werden weiter erhöht werden müssen. Vor allem die Jahrgänge im Erwerbsalter werden den ausufernden Sozialstaat bezahlen.
Sehr pointiert reagiert Moritz Piepel, Mitglied im Jugendrat der Generationenstiftung, auf die Ablehnung der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Unter der Überschrift „Die junge Generation wird zum Opfer im Kampf um politische Machterhaltung“ nimmt er in einer Pressemitteilung Stellung: „Um Stimmen ihrer Kernwählergruppe – der Boomer-Generation – zu sichern, ignorieren Olaf Scholz und Peter Altmaier wissenschaftliche Fakten und verweigern sich einer zielführenden Debatte. Dahinter steckt kurzfristiges, makabres Kalkül. Denn die unbequeme Rentendiskussion könnte schon jetzt Stimmen kosten, während das Rentensystem aber erst zusammenbricht, wenn die heutigen Politiker:innen selbst nicht mehr in der Verantwortung stehen.“
Gut Qualifizierte wandern aus, gering Qualifizierte über den Asylpfad ein. Auch so verschlechtert sich die strukturelle Finanzierungsbasis eines Sozialstaats. Gleichzeitig werden die teuren Zweit- und Drittrundeneffekte der Corona-Pandemie die deutsche Volkswirtschaft noch auf viele Jahre belasten.
Viele mittelständische Unternehmen verschwinden still und leise aus dem Markt. Die Bereitschaft zur Selbstständigkeit sinkt. Die immens gewachsene Staatsgläubigkeit trifft auf einen Staat, dessen Leistungsfähigkeit durch eine gigantische Verschuldung eingeschränkt ist. Gleichzeitig stellt fast die gesamte etablierte Politik die Weichen für eine nationale Klimaschutzpolitik, die zwar das globale Klima praktisch nicht verändert, dafür aber in Deutsch- land die Kosten für Wirtschaft und Bür- ger in die Höhe treibt.
Fass ohne Boden
In seinem legendären Buch „Wohlstand für alle“ warnte Ludwig Erhard, der Vater der sozialen Marktwirtschaft, in den 1950er-Jahren vor dem Marsch in den „Versorgungsstaat“, der aus Bürgern „soziale Untertanen“ eines „allmächtigen Staats“ macht und damit gleichzeitig die „Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit“ provoziert. Er verurteilte „die wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, die um sich greifende Kollektivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat“.
Obwohl schon heute mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts für soziale Leistungen ausgegeben wird, reden sich amtierende Finanz-, Wirtschafts-, Arbeits- und Gesundheitsminister die Welt schön, wenn sie die Warnhinweise von Gutachtern wie jetzt zur Kostenexplosion der Rentenausgaben negieren. Immer mehr vom Staat ist das Motto der Verteilungspolitiker. Das Erwirtschaften wird ausgeblendet oder hinter der Robin-Hood-Strategie versteckt, nach der „die Reichen“ und die Wirtschaft die Zeche schon bezahlen werden.
Dass sowohl die Belastbarkeit der Wirtschaft Grenzen hat und erst recht die Belastbarkeit der abhängig beschäftigten Mittelschicht, belegen doch die Zahlen. Die niedrige volkswirtschaftliche Produktivität, die seit vielen Jahren rückläufige Investitionstätigkeit im Inland, aber auch der Exodus von gut qualifizierten Mitbürgern dokumentieren, was an Wahrheit im Bonmot steckt: „Man kann die Kühe nicht im Himmel füttern, aber auf Erden melken.“
Dazu kommt: Gut gemeinte Sozialpolitik ist häufig destruktiv, lähmt, statt dass sie Leistungsbereitschaft anreizt. Nicht wenige Sozialleistungen sind so ausgestaltet, dass sie wie Stilllegungsprämien wirken. Wollen wir das?