Der Haushalt ist das Königsrecht des Parlaments. In stolzen Tagen nutzen die Abgeordneten dieses Recht, um der Regierung ihre Macht als Gesetzgeber zu demonstrieren. In diesem Sinne spricht – anders als sonst – in der Generaldebatte zum Haushalt zuerst der Oppositionsführer und dann der Regierungschef. Letzterer ist derzeit Olaf Scholz (SPD). Bei Wahlen geschlagen. Am bittersten dann, wenn seine Partei sein Gesicht plakatiert hat. Inhaltlich handlungsunfähig bis ins Groteske hinein. Der Kanzler gibt in diesen Tagen das Bild eines wankenden Boxers ab. Welche Chance für den Oppositionsführer, ihn in der wichtigsten Rede des Jahres zu stellen.
Friedrich Merz schickt aber Alexander Dobrindt vor. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe spricht auf dem prominentesten Platz, den das parlamentarische Jahr zu bieten hat. Ein taktisches Spielchen. Merz will erst Scholz’ Rede abwarten, um auf diese reagieren zu können. Der Oppositionsführer könnte mit dem Kanzler in einen knallharten Infight gehen – doch er zieht es vor, um diesen herumzutänzeln.
Inhaltlich ist Dobrindt der falsche Mann für diese Aufgabe. Der Oppositionsführer sollte an dieser Stelle Probleme ansprechen wie marode Brücken oder ein vernachlässigtes Schienennetz. Als Verkehrsminister unter Angela Merkel (CDU) war Dobrindt aber genau der Mann, unter dem die Straßen und Schienen verkümmerten. Auch vom Kampfgeist her ist Dobrindt der falsche Mann. Er ist ein zweitklassiger Redner, der drittklassige Gags vorträgt: „Herr Bundeskanzler, Sie haben den Wumms verloren.“
Olaf Scholz wirkt in diesen Tagen wie ein wankender Boxer. Doch nach Dobrindt hat selbst dieser Kanzler es leicht, kampflustig und siegesgewiss zu wirken. Dabei wirkt Scholz eben nur kampflustig. Etwa wenn er Merz angreift, der da noch eine Stunde auf seine Rede warten muss, der CDU-Chef inszeniere nur Politik und sei nie bereit gewesen, wirklich einen Kompromiss zur Abweisung illegaler Einwanderer an der Grenze finden zu wollen. Merz habe von Anfang an vorgehabt, ohne Ergebnis vom Verhandlungstisch aufstehen zu wollen. Der antwortet. Eine Stunde später. Wenn er als Folge seines taktischen Spielchens erst an der Reihe ist.
Was Scholz sagt, ist weniger entscheidend. Wichtiger ist, wie er es tut. Die meisten Medien übernehmen daher auch als Ergebnis der Generaldebatte, dass der Kanzler kämpferisch aufgetreten sei. Das, was sein PR-Team vermutlich als taktisches Ziel hatte. Noch wichtiger ist aber bei Scholz, was er nicht sagt. Was zwischen den Sprachregelungen verborgen bleibt. Wenn er in seiner Rede zuerst den „Kampf gegen Rechts“ beschwört. Ein Ersatzgefecht, weil die eigenen Inhalte nicht für Scholz sprechen würden.
Zwar haut der Kanzler raus: „Wir müssen uns aussuchen können, wer nach Deutschland kommt.“ Nur steigt halt unter der Ampel die Zahl erwerbsfähiger Ausländer im Bürgergeld, während Fachkräfte auswandern. Scholz verteidigt sein Zögern im Kampf gegen illegale Einwanderung mit Verweis auf die EU: „Die Macht der Bundesrepublik Deutschland endet an der Grenze der Bundesrepublik Deutschland.“ Stimmt. Aber sie beginnt halt auch dort. Oder wenn Scholz seine Erfolge feiern will. Die Ampel habe Abschiebungen nach Afghanistan angekündigt – „und wir haben es getan“.
Was für eine offene Deckung, in die ein Oppositionsführer vorstoßen kann. Doch es ist nicht Friedrich Merz, dem dieser Konter gelingt. Es ist die Fraktionsvorsitzende der AfD, Alice Weidel: Exakt 28 Afghanen hat die Ampel abgeschoben. Darunter Schwerverbrecher. Vergewaltiger von Kindern. Kurz vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen erfolgte die Abschiebung. Selbst Schwerverbrechern hat der Bund noch 1000 Euro als Geschenk für ihre Taten in Deutschland mitgegeben. Weidel stößt in die offene Deckung vor: „Sie inszenieren kurz vor der Wahl eine absurde Luxusabschiebung.“ Als „Lohn für Mord und Vergewaltigung“ gebe es für die Täter noch ein Taschengeld, das einem doppelten Jahreseinkommen in Afghanistan entspreche. Solches Handeln schrecke niemanden ab, das sei eine „weitere Einladung“, nach Deutschland zu kommen. „Wir brauchen die Migrationswende sofort“, fordert Weidel und hat damit ihr Thema verkauft.
Nancy Faeser (SPD) hat das Taschengeld für die Kinder-Vergewaltiger verteidigt. Das sei halt so Brauch bei Abschiebungen. Doch damit zeigt die Innenministerin, wie wenig Gespür die Ampel für Themen und Zusammenhänge hat. Dass es in Deutschland Brauch geworden ist, Vergewaltiger mit großzügigen Geschenken zu belohnen, ist keine Entschuldigung. Es ist das Problem. Weidel erinnert daran, dass Faesers Innenministerium fast zeitgleich mit der „Luxusabschiebung“ ein Internetportal eröffnet habe, das illegalen Einwanderern Tipps gebe, wie sie sich gegen Abschiebungen wehren könnten. Die Ampel-Vertreter können so sehr beschwören, wie sie wollen, dass sie gegen die illegale Einwanderung ein „besseres Management“ wollen, wie es Scholz ausdrückt. So wie Weidel sie in der Ecke stellt, wird deutlich, wie handlungsschwach die Ampel ist.
Weidel stellt die Ampel und Scholz. In ihrer Schwäche: „Ihre Kanzlerpartei wurde zur Splitterpartei degradiert. Sie sind der Kanzler des Niedergangs.“ Sie listet die schlechte Bilanz auf. Etwa den massiven Verlust von Arbeitsplätzen. Oder: „Ihr Haushalt ist so dilettantisch und zusammengeschustert wie Ihre ganze Regierungskoalition.“ Vor allem aber zeigt Weidel die Doppelmoral der „Demokratischen Mitte“ auf, die sich selbst gerne als Koalition der Anständigen inszeniert. Diese Demokratische Mitte setze den Geheimdienst auf politische Gegner an, verweigere diesem seine Rechte, etwa bei der Vergabe von Vizepräsidenten-Posten und die Demokratische Mitte zeige die „hässliche Fratze des totalitären Ungeistes“, wenn der Grüne Anton Hofreiter ein Verbot von X fordert.
Weidels Rede ist ein Festival der Volltreffer. Da dauert es noch über eine halbe Stunde, bis Friedrich Merz an der Reihe ist. Er spricht dann zwischen Christian Dürr (FDP) und Rolf Mützenich (SPD). Das taktische Spielchen ist nach hinten losgegangen. Im Fußball würden die Fans von einem Eigentor sprechen. Im Boxen gibt es keinen, der sich selbst ins Gesicht schlägt. In der Politik schon: Friedrich Merz.
Der beginnt seine Rede mit einem Exkurs zum 11. September 2001. Merz wirft Scholz vor, dass der Kanzler den 23. Jahrestag des Anschlags in seiner Rede zum Haushalt nicht erwähnt hat. Da hat es sich ja echt mal gelohnt, sich hinter Scholz als Redner setzen zu lassen: schrumpfende Wirtschaft, steigende Arbeitslosigkeit bei angeblichem Fachkräftemangel, marode Straßen und Schienen, steigende illegale Einwanderung und Gewaltkriminalität, Städte und Gemeinden, die damit überfordert sind. Mit allem hätte Merz Scholz attackieren können. Und er startet mit dem Versäumnis, einen 23. Jahrestag nicht zu erwähnen. Wer jetzt Merz noch zuhört, der wird dafür bezahlt.
Merz hat sich selbst um den Hauptkampf gebracht und zu einem von vielen Rummelboxern degradiert. Das erspart ihm Peinlichkeiten wie seine Behauptung, dass die unkontrollierte Einwanderung nur ein Problem sei, das eine „kleine Minderheit von vor allem jungen Männern“ betreffe. Auch vernünftige Punkte bleiben ungehört, etwa wenn Merz fordert, dass Deutschland nur noch die Antragsteller von Asyl aufnehme, die nicht schon durch sichere Länder nach Deutschland gereist seien.
Zudem verpuffen Merz’ Konter gegen Scholz. Etwa, dass es „infam“ sei, dass der ihm eine Inszenierung in der Abweisungs-Debatte vorgeworfen hat. Der Anlass für den Konter ist da eine gute Stunde her. Immerhin: Einmal zeigt sich Friedrich Merz schlagfertig. Als SPD-Chefin Saskia Esken dazwischenruft. Er wünsche sich von ihr noch viele Auftritte in Talkshows, sagt Merz. Wenn sie so weitermache, schlage er sie noch als Ehrenmitglied der CDU vor. Immerhin Esken abräumen kann Merz noch.
Die Generaldebatte lebte von dem, was außerhalb des Parlaments passiert. Am Rande wird deutlich, um was es derzeit wirklich geht. Etwa wenn Scholz Merz angesichts der Abweisungs-Debatte vorwirft: „Sie haben angeboten, ich soll meine Koalition sprengen … Hab’ ich nicht gemacht.“ Das zeigt, worum es dem Kanzler in erster Linie geht. Nicht darum, die illegale Einwanderung zu stoppen. Die will er nur managen. Er will die Ampel am Leben und sich damit selbst im Amt halten.
Das wäre in ruhigen Zeiten auch okay. Doch Deutschland befindet sich in Umbrüchen. Das zeigt sich in der Rede der Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Katharina Dröge. Sie sagt: „Der Islamismus gehört zu den größten Gefahren unserer Gesellschaft“ und spricht offen vom „Gift des Islams“, das junge Menschen übers Internet in Deutschland erreiche. Das ist neu. Wegen ähnlicher Behauptungen wollten Grüne wie Hofreiter bisher Medien und Plattformen verbieten lassen.
Doch auch da gilt es, zwischen den Zeilen zu lesen: Nach Solingen gibt Dröge vor, auf das „Gift des Islams“ reagieren zu wollen. Solingen dient ihr aber nur als Vorwand für weitere Schritte. Etwa ein Verbot von X, auch wenn Dröge das nicht ausspricht. Nur: Ist X erstmal verboten, sind die Gegner der Grünen mundtot gemacht worden. Ob dann noch über das „Gift des Islams“ geredet wird oder geredet werden darf, ist fragwürdig.
In diesem Sinne noch ein Bonmot für die These, es gelte in der Generaldebatte, zwischen den Zeilen zu lesen. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich: „Zuletzt hat uns das Attentat von Solingen verstört und erbittert.“ Zuletzt. Es geht der Ampel nicht darum, auf Solingen zu reagieren. Sie will nur die Zeit der Verstörung und Erbitterung überbrücken. Alice Weidel hat dies in ihrer Rede deutlich rübergebracht, Friedrich Merz hat das in Folge seiner Selbstverzwergung nicht rüberbringen können.