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Gedenken am Breitscheidplatz: 100 Minuten für die Hinterbliebenen

Vor sechs Jahren ermordete ein islamistischer Terrorist 13 Menschen in Berlin. Für die Hinterbliebenen blieben auf der Gedenkfeier am Montag 100 Minuten. Dann ging es wieder wie immer. Doch der Fall Breitscheidplatz ist nicht abgeschlossen: Die Probleme, die den Anschlag ermöglichten, sind größer als je zuvor.

Poller verperen die Zufahrten zum Weihnachtsmarkt

Quelle: Maximilian Tichy

Am Montag jährte sich der Anschlag auf dem Breitscheidplatz zum sechsten Mal. Es starben 13 Menschen, 70 weitere wurden verletzt. Bei vielen Augenzeugen – Schaustellern, Ersthelfern, Passanten – blieben Narben, die nicht gesehen werden können. Manche von Ihnen trafen sich am vergangenen Montag zum Gedenken in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, an deren Stufen sich die Tat ereignete. Die Veranstaltung war für die Allgemeinheit offen.

Die Andacht zum Gedenken an den Anschlag fand um 19:00 Uhr statt. Anwesend waren die Hinterbliebenen und die, die an dem Abend vor Ort waren. Die Politik hielt sich zurück: Anwesend waren unter anderem die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Senatorin Bettina Jarasch. Sie sprachen nicht auf der Veranstaltung, fanden jedoch – wie auf öffentlichen Trauerveranstaltungen üblich – Platz in der ersten Reihe.

Die Andacht kann nicht in Soundbites verpackt werden, wie es bei anderen öffentlichen Veranstaltungen der Fall ist. Gerade sechs Jahre später ist sie etwas persönliches, ganzes. So müssen an dieser Stelle Beobachtungen reichen. Die Betroffenen wollten in diesem Jahr das Leid der Mütter ins Licht rücken. Jene, die es waren, jene, die es werden wollten. Das Leid derer, deren Liebste von ihnen genommen wurden oder diese zu früh verlassen mussten. Außerdem bräuchten sie noch immer Unterstützung, um die physischen und psychosozialen Folgen zu tragen. Von Seiten der Kirche wurde die Predigt von Bischoff Christian Stäblein gehalten, dazu zwei der Fürbitten und der abschließende Segen. Geführt wurde die Andacht von Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein. Es mag unüblich sein, eine Andacht zu kommentieren, als wäre es eine Wahlkampfveranstaltung, aber, dass der Mörder als Attentäter verklausuliert wird, statt ihn als das zu benennen, was er war, nämlich ein Terrorist, dass ist völlig unangemessen. Im Zentrum der Fürbitten stand der Krieg in der Ukraine. Auch dabei kann man die Frage der Angemessenheit stellen.

Zum Abschluss versammelten sich die Teilnehmer der Andacht sowie eine größere Menge Passanten um die Gendenkstätte am Breitscheidplatz. Schon zuvor waren Kränze niedergelegt worden, ein weiterer wurde von Angehörigen am Ehrenplatz niedergelegt. Auf den Treppenstufen, die die Namen der Opfer tragen, standen Bilder derselben. Trautwein verlas ihre Namen.

100 Minuten Trauer, dann geht es weiter wie zuvor

Um 20:02 Uhr, dem Moment des Anschlags, wurde die Glocke der Kirche 13 mal geschlagen für die Opfer. Es folgten Momente der Andacht, dann um 20:10 Uhr setzte die Musik des Weihnachtsmarkts auf dem Platz wieder ein. Mit einer Einlage „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und dann einem Weihnachts-Jazz-Stück ging es ganz schnell auf den üblichen Weihnachtspop zu. Die Lichter waren wieder an und um 20:40 Uhr räumten die Mitarbeiter die Absperrbänder des Mahnmals zur Seite. Viele Trauernde waren dann nicht mehr da, auch die Politik war schon weg. Aber hätte man denen, die blieben, nicht mehr als 100 Minuten gönnen können an diesem Abend? Der Weihnachtsmarkt jedenfalls hat ganz normal geöffnet. Voll ist er nicht – aber es ist auch ein Montagabend im Berliner Winter.

Doch die öffentliche Trauer um die Opfer des Breitscheidplatzes, die Bestürzung um den Anschlag, ist in der Politik auf diese 100 Minuten und auf diesen Tag begrenzt.

Das Versagen der Sicherheitsbehörden in diesem Fall war eklatant, wie der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags ergibt. Als Amri 2011 nach Italien kam, wurde er in Tunesien kurze Zeit später in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft wegen Raubes verurteilt. In Italien war er zu Beginn als unbegleiteter Minderjähriger gemeldet. Amri hatte ein falsches Geburtsdatum angegeben. Noch im selben Jahr wurde er wegen Körperverletzung und Brandstiftung zu vier Jahren Haft verurteilt und inhaftiert. Er sollte abgeschoben werden, mangels Pass scheiterte das jedoch – obwohl die tunesischen Behörden schon 2011 Amris Geburtsurkunde an die italienischen Behörden weitergegeben hatten. Seine Herkunft war also gesichert. Die Welt berichtete, der italienische Geheimdienst AISI habe ihn beobachtet, verlor ihn aber aus den Augen. Er reiste nach Deutschland und beantragte als „Anis Amir“ das erste Mal Asyl. Aufgrund der Änderung „Amir“ statt „Amri“, wurde er nicht als vorbestraft registriert. Tatsächlich hatte er erst den Namen „Amri“ auf seinen Anträgen eingetragen, diesen dann gestrichen und durch „Amir“ ersetzt. In Folge beantragte er noch mit mindestens acht anderen Identitäten Asyl. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages nennt 16 bekannte Aliasidentitäten. Schon seit 2015 war er dem Staatsschutz bekannt. Ein Mitbewohner im Asylheim beschrieb 2015 Anis Amri gegenüber dem Leiter so:

„Personen wie Anis Amri habe ich viele gesehen in Syrien. Solche Personen haben Gehirnwäsche bekommen, und sie erlauben sich Sachen, die verboten sind: Sie klauen, sie stehlen usw. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass er nicht normal ist. Und das hat sich bestätigt, als ich die IS-Fahne auf seinem Planer gesehen habe“.

Gegenüber dem Sozialamt beschrieb er Amri einige Monate später: „Er [Amri] denkt, dass alle Nichtmuslime getötet werden müssen. Das gilt (aus Amris Sicht) auch für uns muslimische Kurden, die von ihnen (dem IS) als Ungläubige betrachtet werden. Die Deutschen, die Belgier und alle Europäer werden von ihnen (dem IS) als Ungläubige betrachtet und es sei erlaubt, sie zu töten.“

Amri wurde überwacht, festgenommen: Und freigelassen

Trotz Kontakten zu islamistischen Predigern wurde er als ungefährlich eingestuft und nur kurzzeitig überwacht. Bis zu seinem Anschlag wurde neun Mal gegen ihn ermittelt. Beim Versuch, mit einem gefälschten Ausweis in die Schweiz auszureisen, wurde Amri am 29. Juli 2016 festgenommen. Dabei wurden auch einige seiner falschen Identitäten aufgedeckt. Da aber eine Feststellung seiner Identität durch die tunesischen Behörden länger als drei Monate dauern würde, wurde er nicht in Abschiebehaft genommen und am 1. August freigelassen. Anis Amri tauchte unter. Deutsche Behörden beobachteten ihn allerdings indirekt, denn er besuchte die salafistische „Fussilet e.V.“ Moschee, die als IS-Moschee bekannt war und beobachtet wurde. Am 19. Dezember 2016 ermordete er den polnischen Fahrer eines Lastwagens und ermordete mit dem Fahrzeug 12 weitere Personen auf dem Breitscheidplatz. Danach flüchtete er, reiste durch die Niederlande, Frankreich. Am 23. Dezember 2016 wurde er in einer Schießerei mit italienischen Polizisten bei Mailand erschossen.

Bundestag sagt, der Bundestag hat die Probleme beseitigt

Der Untersuchungsausschuss des Bundestags kommt zu dem Fazit, dass eine Wiederholung des Falls Amri „nahezu ausgeschlossen ist“. Denn die Ereignisse der Jahre 2015/16 wären auch wegen der massiven Überlastung des Asylsystems in dieser Zeit möglich gewesen. Außerdem bescheinigen sich die Parlamentarier des Ausschusses selbst, dass der Bundestag mit verschiedenen Gesetzen die Lage verbessert habe. Dazu gehören:

– Beschleunigung von Asylverfahren
– Reduzierung von Fehlanreizen im Asylbewerberleistungsgesetz (nicht näher spezifiziert)
– Teilnahme an Integrationskursen schon im Asylverfahren
– berufsbezogene Deutschsprachförderung als Regelinstrument
– Digitalisierung der Verwaltung
– Mehr Datenzugriff durch Behörden
– Beschleunigte Verfahren für Aussichtslose Asylverfahren
– Vereinfachte Ausweisung
– Vereinfachte Durchsetzung von Ausweisung

Das ist blauäugig vom Untersuchungsausschuss. Wie schnellere Verfahren und Sprachkurse konkret gegen Islamismus helfen sollen, ist nicht klar. Eine Digitalisierung der Verwaltung und damit einhergehende Datenprüfung lässt sich leicht beschließen, aber schwer umsetzen. Auch stoßen die Behörden jetzt wie 2015/16 an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Die offiziellen Asylzahlen sind in diesem Jahr niedriger. So wurden bis November 214.250 Anträge gestellt. 2015 kamen stattdessen 890.000 Migranten nach Deutschland. Doch 2022 wurden auch mehr als eine Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registriert. Sie zählen aber in der Regel nicht als Asylanten.

Ausweisungen wurden auf dem Papier vereinfacht und einfacher durchsetzbar. Doch sie werden selten durchgeführt. 2021 waren 292.000 Flüchtlinge in Deutschland ausreisepflichtig. Davon waren 50.600 unmittelbar ausreisepflichtig. 242.000 waren geduldet. Sie müssten ausreisen, können aber nicht abgeschoben werden. Die größte Gruppe von ihnen sind Personen ohne Reisedokumente (72.000). Weitere 25.500 von ihnen können nicht abgeschoben werden wegen „ungeklärter Identität“. Anis Amri war zu jener Zeit einer von ihnen. 23.000 Menschen werden geduldet, weil sie eine familiäre Bindung zu einer Person haben, die aus medizinischen Gründen geduldet ist oder weil diese Person keine gültigen Reisedokumente hat. Dabei machen diejenigen, die aus medizinischen Gründen geduldet werden, mit knapp 3.000 Personen eine der kleineren geduldeten Gruppen aus.

Im Jahr 2021 wurden allerdings weniger als 12.000 Abschiebungen durchgeführt. Auch brüstete sich die Bundesregierung erst dieses Jahr damit, dass mit dem neuen „Chancenaufenthaltsrecht“ geduldete Personen einen einfacheren Weg erhalten sollen, um sich permanent im Land aufhalten zu dürfen.

Immer wieder Gewalttaten

Straftäter werden nicht abgeschoben. Der bekannteste solche Fall ist der eines Afghanen, der 2019 in Illerkirchberg ein 14 jähriges Mädchen vergewaltigte. Der Mann kam nach zwei Jahren Haft auf freiem Fuß und wurde wieder in derselben Asylunterkunft untergebracht, in der er das Mädchen vergewaltigte. Die Polizei schreibt ihm eine akute „Rückfallgefahr für Sexualstraftaten unbekannter junger Frauen“ zu. Eine Abschiebung bzw. Rückführung des Afghanen wird aber durch das Innenministerium von Nancy Faeser verhindert. In derselben Asylunterkunft lebte der Mörder des 14-jährigen Mädchens, dass Anfang Dezember ermordet wurde. Der Täter ist ein 27 Jahre alter Eritreer, der seit 2016 in Deutschland lebt.

Außerdem wurden im Oktober zwei Männer in Ludwigshafen ermordet und ein weiterer schwer verletzt. Sie wurden von einem 25 Jahre alten anerkannten Flüchtling aus Somalia ermordet. Er soll während der Tat den islamistischen Kampfspruch „Allahu Akbar“ gerufen haben. Nicht alle diese Taten waren islamistisch motiviert – aber sie haben gemeinsam, dass sie mit der Migrationspolitik der letzten 10 Jahre in Verbindung stehen.

Am 19.12. warnte Bundesinnenministerin Faeser vor einer anhaltenden islamistischen Bedrohungslage: „Das islamistische Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz vor sechs Jahren mahnt uns, dass wir den Kampf gegen den islamistischen Extremismus und Terrorismus weiterhin mit aller Konsequenz führen müssen. Denn die Bedrohung hält unverändert an.“

Es scheint, dass sich Faeser nur zu bedeutenden Jahrestagen zum Thema Islamismus äußern kann. Am 11. September dieses Jahres äußerte sich Faeser mit Bezug auf die Anschläge auf das World Trade Center 2001: 26 Anschläge konnten dank der „exzellenten Arbeit unserer Sicherheitsbehörden“ verhindert werden. Einen Tag später wurde bekannt: Faeser löste den „Expertenkreis Politischer Islamismus“ im Bundesinnenministerium auf. Dieser trat im Vorjahr erstmals unter Horst Seehofer zusammen.

Bundesverfassungsschutz benennt Gewaltpotenzial nicht

2021 meldete der Verfassungsschutz ein „Personenpotenzial“ von 28.290 Islamisten in Deutschland. Wie viele von Ihnen Gewalt anwenden könnten, wird nicht gemeldet. Im Vergleich dazu hatte die rechtsextreme Szene ein Personenpotenzial von 35.300 Personen, davon 13.500 gewaltorientiert. Die linksextreme Szene hatte 35.800 Personen bei 10.800 gewaltorientierten. Es wäre also logisch, von einem gewaltorientierten islamistischen Potenzial von mehreren Tausend Personen auszugehen.

Dem entgegen steht die ausschließliche Fokussierung der Innenministerin auf rechtsextreme Gewalt, die auch mit den sogenannten „Reichsbürgern“ vermischt wird, von denen nur ein kleiner Teil als rechtsextrem gilt.

Um diese wird es nun wieder gehen. Islamistische Gefährder werden wohl erst wieder ein Thema sein, wenn ein Anschlag Leben gekostet hat und sich die islamistische Motivation nicht verbergen lässt. Dann ist man wieder betroffen: 100 Minuten, einen Tag, eine Woche. Und dann ignoriert man voraussichtlich das Problem wieder, und nimmt hin, dass Weihnachtsmärkte Festungen gleichen müssen.

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