Die Ampeln sind am Montagmorgen im Berliner Regierungsviertel ausgefallen. Ruhige Nebenstraßen entwickelten sich innerhalb von Minuten zu Stauschwerpunkten. Manche Fahrer hupten und randalierten wie in einem von Klischees überladenen Film. Die Szene zeigte zweierlei: Wie abhängig unsere Gesellschaft mittlerweile von komplexen, aber störungsanfälligen Systemen geworden ist. Und wie sehr manche schon mit den kleinsten Störungen in diesem System überfordert sind.
Ein paar Kilometer entfernt von den defekten Ampeln traf sich die CDU zu ihrem drei Tage dauernden Bundesparteitag. Im Stadtteil Neukölln – der spätestens seit der Silvesternacht von 2022 auf 2023 für die real existierenden Probleme der Integrationspolitik steht, die unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) begonnen haben und die unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) schlimmer werden. Jetzt ließe sich an dieser Stelle leicht ein (weiterer) Beitrag schreiben, dass sich die CDU mit der Wahl des Veranstaltungsorts an das grün-rote Milieu anbiedert, dass die Neuköllner Zustände herbeiführt und schönredet. Das stimmt sogar. Aber geschenkt. Darum geht es hier nicht.
Dass Merz Wahlversprechen gebrochen hat, ist bekannt. Der 68-Jährige ist nicht der konservative Erneuerer, den sich seine Anhänger von ihm vor zwei Jahren versprochen haben. Sein Verhalten hat die Abspaltung der Werteunion zur Folge gehabt. Dass Merz die CDU weiter in die Richtung der politischen Belanglosigkeit geführt hat, auf die Merkel die Partei gesetzt hat, werden spätere Kommentatoren noch ausführen. Doch an dieser Stelle soll Platz sein für einen anderen Gedanken:
Vielleicht ist es mit Merz und seinen Kritikern wie mit der ausgefallenen Ampel und den Wartenden, die im Stau ausrasten: Klar ist das ärgerlich, wenn es an einer eigentlich ruhigen Kreuzung plötzlich nicht mehr weitergeht. Aber Hupen hat bisher noch keinen Stau aufgelöst. Und so sehr sich Merz’ Kritiker ein klares Weltbild wie unter Helmut Kohl wünschen. Vielleicht sind die Zeiten komplizierter geworden.
Bleiben wir bei der defekten Ampel, die längst digital gesteuert wird. Die Digitalisierung hat unsere Möglichkeiten potenziert, aber gleichzeitig auch unsere Verletzlichkeit erhöht. Und sie wirft Fragen auf: Merz’ Kritiker wollen eine CDU wie in der Zeit, als die Thinktanks von Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Konservativen weltweit auf möglichst niedrige Steuern und einen zurückhaltenden Staat eingeschworen haben. Das hat zu seiner Zeit auch funktioniert. Doch was ist mit einer Welt, in der die Künstliche Intelligenz Millionen Arbeitsplätze frisst und der Reichtum sich in den Händen weniger ballt, aber nicht mehr durch Arbeitsteilung in die Mittelschicht durchsickert? Weil Arbeitsteilung in 20, 30 oder 50 Jahren immer weniger gebraucht wird. Soll sich da der Staat wirklich komplett raushalten und der Schwache auf der Strecke bleiben?
Das ist nur eine von vielen komplizierten Fragen, die auf die Konservativen genauso zukommen, wie auf die Linken und Liberalen. Der Umgang mit der Rente ist ein anderes Beispiel, von der Frage Krieg oder Appeasement gegen Diktatoren gar nicht zu sprechen. Merz sei zu sehr grün-links, zu opportunistisch, zu beliebig – das alles lässt sich aus der letzten Reihe des Staus leicht hupen. Die deutsche Sprache stellt einem einen reichen Wortschatz zur Verfügung, um den Ärger in alarmierendes Getröte zu kleiden.
Doch was, wenn Merz genau der richtige Mann für die Zeit ist? Wenn es eben nicht mehr genügt, einen klaren Weg stur und mit möglichst hohem Tempo zu verfolgen? Wenn ein besonnenes und kluges Lenken durch die Nebenstraßen – Umwege in Kauf nehmend – einen besser zum Ziel bringt? Der CDU-Parteitag hat sich nun erst einmal für diese Strategie entschieden. Den Stinkstiefeln wie Günther, die nur gut darin sind, Stinkbomben in volle Mengen zu werfen, haben die Delegierten eine Absage erteilt. Sie halten Merz für den richtigen Mann, die Ampel in Berlin abzulösen. Die ist nämlich tatsächlich defekt – nur für den Fall, dass jemand auf diese erwartbare Pointe gewartet hat.