Die Diskussion überschlägt sich gerade, inwieweit die Bundesregierung und die Landesregierungen in Düsseldorf und Mainz vorgewarnt waren, welches katastrophale Unglück über die Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hereinbrechen würde. „Bundesregierung wurde schon Tage vor der Flut gewarnt!“ hieß es etwa in Bild.
Tage vorher? Das wäre eine schlimme Nachricht für die Betroffenen, die Hinterbliebenen und die, welche viel oder alles unter den Schlammmassen verloren haben. Denn das hieße, dass man das Unglück durchaus hätte abwenden oder zumindest mildern können.
Vorweg: Armin Laschet hat als verantwortlicher NRW-Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Union kurz nach der Katastrophe nicht als einziger, aber als einer der ersten den menschengemachten Klimawandel ins Spiel gebracht: „Das bedeutet, dass wir bei den Maßnahmen zum Klimaschutz mehr Tempo brauchen“. Aber er wusste es zu dem Zeitpunkt besser! Seine Landesregierung sah sich spätestens im August 2019 via Kleine Anfrage mit der drohenden Katastrophe konfrontiert – und es passierte … nichts!
Das Anzeigenblatt Wochenspiegel aus der Region empörte sich im März 2021, also noch wenige Wochen vor der Zerstörung von Ortschaften wie Stolberg: „Diskussion um Hochwasserschutz am Vichtbach. Heimatfreunde aus Roetgen und Rott schlagen Alarm.“ Was in dieser Regionalzeitung steht, liest sich aus heutiger Sicht wie eine düstere Prophezeihung: „Die Geschichte ist nicht neu, sie ist auch längst noch nicht „gegessen.“ Die Rede ist von zwei geplanten Hochwasserrückhaltebecken (…), um die Stolberger Altstadt vor möglichem Hochwassergefahren zu schützen. Es gab Gespräche mit dem Wasserverband Eifel-Rur (WVER), Planungen wurden angekündigt, mit der belgischen Seite versuchte man, eine Weserbach-Rückführung zu erwirken, doch alles blieb bisher erfolglos.“
Doch alles blieb bisher erfolglos!
In Armin Laschets sofortigem Verweis auf den Klimawandel könnte man in diesem Licht durchaus den Ruch des Verschleierungsversuches erkennen – flankiert von Angela Merkel, die wenig später im zerstörten Örtchen Schuld ebenfalls ihre Klima-Agenda vortrug.
Kommen wir zur Kleine Anfrage Nr. 2844 des NRW-Landtagsabgeordneten Stefan Kämmerling (SPD) vom August 2019. Da heißt es: „Berechnungen des WVER (Red.: Wasserverband Eifel-Rur) zufolge, entstehen bei einem Jahrhunderthochwasser in Stolberg derzeit Schäden in Höhe von fast 50 Millionen Euro.“ Rückhaltebecken sollen also her, die attestierte mögliche Katastrophe zu verhindern.
Der Sozialdemokrat fragt die Landesregierung: „Wie bewertet die Landesregierung die Pläne des WVER, zwei Rückhaltebecken (…) zu bauen?“ Und: „Wie bewertet die Landesregierung die Aussage der Wassergewinnungs- und Aufbereitungsgesellschaft Nordeifel mbH (WAG): „Trinkwasserschutz verträgt sich nicht mit Hochwasserschutz“?“
Weiter will der Abgeordnete 2019 wissen, was die Landesregierung von Armin Laschet davon hält, einen Teil des Wassers in die belgische Wesertalsperre abzuleiten und zuletzt fragt Stefan Kämmerling konkret nach: „Wie wird sich die Landesregierung in Gesprächen gegenüber dem WVER und der WAG für alternative Lösungen beim Bau von Rückhalteräumen zum Schutze der Stadt Stolberg und zum Wohle der Gemeinde Roetgen einsetzen?“
Stolberg wurde im Juli 2021 von den Wassermassen zerstört, auch deshalb, weil es bis heute keine Rückhaltebecken gibt. Im Folgenden die Antwort des NRW-Umweltministeriums (Drucksache 17/7244) von Ende August 2019:
Die Landesregierung halte es für eine der wichtigsten Aufgaben des Wasserverbandes, „den Hochwasserschutz in seinem Verbandsgebiet sicherzustellen.“ Der Verband hätte per Gesetz „den Wasserabflusses (sic) einschließlich des Ausgleichs der Wasserführung zu regeln und den Hochwasserabfluss der oberirdischen Gewässer oder Gewässerabschnitte in deren Einzugsgebieten zu sichern.“
Die Landesregierung bestätigt dem fragenden Abgeordneten, dass Pläne für Hochwasserschutzmaßnahmen für die Stadt Stolberg seit Oktober 2007 (!) der Bezirksregierung Köln vorliegen.
Die Landesregierung weiß also 2019 um die drohende Katastrophe durch einen fehlenden Hochwasserschutz: „Auch für die anderen Ortslagen entlang der Vicht bestehe nach heutigem Ermessen kein ausreichender Hochwasserschutz.“
Die Empfehlung der Landesregierung – also der zwingende Auftrag an sich selbst: „Eine Verbesserung des Hochwasserschutzes für die betroffenen Anlieger sei dringend erforderlich, zumal sich in den Überflutungsflächen entlang der Vicht neben Wohngebäuden auch eine Vielzahl von Industrie- und Gewerbebetrieben befinden. Somit sei neben dem Schutz hoher Sachwerte auch einer Gefährdung der zahlreichen Arbeitsplätze durch Hochwasser vorzubeugen. Diese Erläuterungen sind seitens der Landesregierung nachvollziehbar und nicht zu beanstanden.“
Die Landesregierung bestätigt dem Fragesteller weiter, dass sich Aufgaben einer Talsperre „Hochwasserschutz“ und „Trinkwasserbereitstellung“ gegenseitig beeinflussen können.
Eine Erklärung wird mitgeliefert: „Die Aufgabe des Hochwasserschutzes erfordert einen großen Hochwasserschutzraum und damit eine möglichst leere Talsperre. Die Aufgabe der Trinkwasserbereitstellung erfordert hingegen eine große Menge an Rohwasser und deshalb eine möglichst volle Talsperre.
Konkret zu der Stolberg maßgeblich betreffenden Talsperre schreibt die Landesregierung: „In der Dreilägerbachtalsperre kann daher nicht der Zufluss von mehreren Jahren gespeichert werden. Würde man das Volumen für die Trinkwassernutzung um das Volumen für Hochwasserschutz (Hochwasserschutzraum) verringern, würde dies die Situation noch verschärfen und die Trinkwasserbereitstellung würde wesentlich erschwert.“
Eine Vorstudie zu den möglichen Rückhaltebecken soll es 2019 gegeben haben. 2021 gab es diese Becken, die Stolberg und weitere Ortschaften mutmaßlich gerettet oder seinen Schaden gemildert hätten, aber immer noch nicht.
Die Landesregierung identifizierte 2019 eine Reihe von Standorten für Hochwasserrückhaltebecken: „Ergebnis der Vorstudie war, dass keiner der potentiellen Standorte alleine den gesetzlich geforderten Hochwasserschutzgrad für ein Hochwasser, das statistisch alle 100 Jahre vorkommt, gewährleisten kann. Nur eine Kombination aus zwei Becken, die zusätzlich durch örtliche Hochwassermaßnahmen ergänzt werden müssen, kann dies sicherstellen.“
Ja, selbst gegen die von Fachleuten statistisch erwartete weniger große Zerstörungswelle alle fünfzig Jahre schloss man Wetten ab, dass sie nicht eintreten würde und kleinere Zerstörungen alle 5-10 Jahre nahm die Landesregierung von Armin Laschet ebenfalls billigend in Kauf.
Und dann passierte es eben doch: Die Regierung Laschet verlor ihre Wette und die größte anzunehmende Katastrophe, eben jenes „100-jährliche Hochwasserereignis“ trat für die betreffenden Regionen ein. Mindestens 165 Todesopfer werden beklagt, die Zahl wird vermutlich noch steigen, es gibt etliche Vermisste, ganze Ortschaften sind unwiederbringlich zerstört.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung sollte jetzt in den Fokus kommender Ermittlungen gestellt werden, wenn es um Schuld und Verantwortung geht. Aber auch Umweltbewegte und Klimaschützer, welche besagte dringend erforderliche Schutzmaßnahmen wie Hochwasserrückhaltebecken kritisierten (vgl.: Wochenspiegel) und damit der Landesregierung aus heutiger Sicht schwer kontaminierte Argumente geliefert haben, Ortschaften wie Stolberg nicht sofort und auf dem schnellsten Wege zu schützen, tragen eine Mitverantwortung.