Tichys Einblick
Irgendwie passt nichts so recht zusammen

FDP-Europaparteitag: Kleine gelbe T-Shirts, keine gelben Westen

Die Liberalen wollen „Europas Chancen nutzen“. Die Aufstellung ihrer Kandidaten und die Verabschiedung ihres Wahlprogramms lassen den nicht betriebsblinden Beobachter allerdings ratlos zurück: Hat die FDP ihre Chancen wirklich erkannt? Und will sie sie wirklich nutzen?

„In Gefahr und grosser Noth bringt der Mittel-Weg den Tod.“
(Friedrich von Logau, „Sämmtliche Sinngedichte“ – Tübingen, 1872)

Prolog

Gleich am Anfang wird es laut, sehr laut. Auf der Großbildleinwand neben der Bühne und über die Saallautsprecher wird ein lärmender Jingle eingespielt, wie man ihn aus dem Privatradio kennt. „Aufwachen, es geht um Europa!“ ruft, nein: brüllt eine Stimme den Delegierten entgegen.

Es ist zehn Uhr morgens.

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Christian Lindner eröffnet den Parteitag. Er trägt ein erkennbar teures Hemd mit Klappmanschetten und den dazugehörigen edlen Knöpfen. Lindner präsentiert es mit offenem Kragen. Das ausdrücklich Elegante und das betont Lässige, irgendwie passt es nicht so recht zusammen.

Der Partei geht es wie ihrem Vorsitzenden: Die FDP wirkt seltsam unentschlossen.

Was sind ihre Kernthemen, ihre Grundüberzeugungen, ihre Prioritäten? Die Liberalen produzieren dazu viele Listen mit vielen Stichpunkten, aber wenig Klarheit. Die FDP drückt sich immer wieder um eindeutige Entscheidungen. Ökologie oder Ökonomie? Integration oder Multi-Kulti? Assimilation oder Parallelgesellschaften? Freiheit oder Sicherheit? Europäischer Bundesstaat oder Europa der Vaterländer?

„Wir wollen scheinbare Gegensätze miteinander versöhnen,“ heißt es dazu aus der Partei. Das klingt nur scheinbar gut. Tatsächlich ist es oft einfach falsch – denn oft sind Gegensätze nicht nur scheinbar, sondern sehr massiv – ja, eben Gegensätze. Und dann ist „Versöhnung“ als einzige verfügbare Antwort schlicht feige. Priorisierung, das lässt man bequemerweise gerne unter den Tisch fallen, bedeutet immer auch Posteriorisierung: Wenn etwas vorrangig ist, ist etwas anderes zwangsläufig nachrangig. Das offen zu sagen, erfordert Mut.

Mut, auch politischer Mut, erwächst aus Überzeugung. Überzeugung bringt einen ins Gleichgewicht und erzeugt eine innere Mitte. Der FDP fehlt die innere Mitte. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die Partei geradezu mantrahaft die gesellschaftliche Mitte als ihr politisches Zielgebiet beschwört. Die Mitte als polit-geografischer Ort ist ein inhaltliches Nullum. Was aber ist die inhaltliche, innere Mitte der FDP?

Es ist elf Uhr.

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Nach Lindner kommen viele Formalia. Dann kommt Generalsekretärin Nicola Beer, sie bringt das Wahlprogramm ein. Exakt mit Beginn ihrer Rede leert sich der Saal, und ein wahrer Delegiertenschwall ergießt sich in die Vorhalle – dorthin, wo es Kaffee und Häppchen gibt. Vorsichtig umschrieben, knüpft das Publikum sichtlich keine allzu großen Erwartungen an Inhalt und Unterhaltungswert von Beers Vortrag. Diese Schwarmprognose erweist sich als – ebenso vorsichtig umschrieben – durchaus hellsichtig.

Dabei war die Ausgangslage für einen spannenden Beer-Auftritt selten besser: Der „Spiegel“ hatte – pünktlich zum Parteitag, auf dem sie zur Spitzenkandidatin für die Europawahl gekürt werden sollte – eine Kampagne gegen sie gestartet: Angeblich hege Beer Sympathien für Ungarns nicht gerade zimperlichen und eher wenig liberalen Ministerpräsidenten Victor Orbán. Wie üblich beim Hamburger Magazin, das nach eigenen Angaben Nachrichten verbreitet, war die Beweislage für den Vorwurf dramatisch dürftig. Trotzdem wurde erwartet, dass sich Beer zu der Sache erklären würde.

Das tut sie dann auch energisch, spricht über Versuche mancher Medien, sie „in die rechte Ecke zu stellen“. Ihre Sympathien gälten nicht Orbán, aber sehr wohl der ungarischen Bevölkerung. Der SPIEGEL ist nicht mehr unfehlbar, seine Kampagnenfähigkeit geschwächt. Und damit ist die Angelegenheit auch vom Tisch.

Es ist Mittag.

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Dann kommt das Schaulaufen der Kandidaten. Nicola Beer als Spitzenkandidatin bekommt 85 %, ohne Gegenkandidaten. Allgemeine Einschätzung: ein durchwachsenes Ergebnis – passend zu ihrer Rede.

Danach wählt der Parteitag viele junge, sehr junge Kandidaten. Das erscheint auf den ersten Blick positiv und zukunftsorientiert. Auf den zweiten Blick ist ein 28-Jähriger, der bereits seit zwei Jahren im Landtag von Nordrhein-Westfalen sitzt und für die kommenden fünf Jahre ins Europaparlament will, vielleicht ja ein Talent – ganz sicher aber ist er eine rein politische Existenz ohne relevante Erfahrung (geschweige denn Leistung) im außerpolitischen Leben.

Diese besondere Art von Politikerbiografien zu fördern, ist möglicherweise keine so gute Idee für eine Partei, die „neue Impulse und mehr Bürgernähe“ erreichen will (Programm der Freien Demokraten für die Europawahl, Zeile 138/139).

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Zwischen den Wahlgängen wird das Wahlprogramm beraten. Es ist lang und gleichzeitig so unverbindlich, dass es nur sehr wenige Diskussionen auslöst. Außerdem war es vorab in den Hinterzimmern von den Strippenziehern so festgezurrt worden, dass fast niemand es wagt, sich ernsthaft daran zu machen, das Paket irgendwo aufzuschnüren.

Zeile 304 sorgt dann doch für eine kurze Kontroverse. „Eine schlanke EU-Kommission als europäische Regierung“, heißt es da. Trotz Warnungen aus dem Plenum bestätigt eine überwältigende Mehrheit diese Formulierung. Gleichsam subkutan, mittels einer in keiner Art und Weise irgendwie näher erläuterten Überschrift, führt die FDP also eine EU-Regierung ein – die allerdings nicht ansatzweise der Kontrolle durch ein Parlament unterliegt, wie es z. B. die Bundesregierung in Deutschland tut.

Man würde es nicht glauben, wenn man nicht dabei wäre.

Durch die Debatte um Zeile 304 wird das Partei-Establishment aufgeschreckt – und reagiert so, wie es sich für das Establishment gehört: Es lässt die Redezeit auf eine (!) Minute begrenzen. Das hat AfD-Qualität. In einer Minute kann man keinen einzigen vernünftigen Gedanken auch nur halbwegs vernünftig vorbringen. Eine Minute reicht gerade, um zwei Parolen ins Mikrofon zu bellen – vielleicht auch drei, wenn man an den weniger bedeutenden Stellen etwas schneller bellt.

Zur Erinnerung: Wir sind bei der FDP. Das war einmal die Partei der intellektuellen Auseinandersetzung, der brillanten Rhetoriker, des ernsthaften Ringens um bessere Lösungen.

Draußen wird es allmählich dunkel.

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Außer bei der Durchsetzung der Redezeitbegrenzung zeigt sich das FDP-Parteiestablishment nicht. Sichtbar wird es nur durch die Fallstricke, über die es diejenigen stolpern lässt, die sich bei der Kandidatenaufstellung oder bei der Verabschiedung des Wahlprogramms nicht an die vorab ausgekungelte Linie halten.

Die graueste Eminenz des Establishments ist Marco Buschmann. Seit 2012 arbeitet er als Lindners Büchsenspanner und Mann fürs Grobe – nicht immer, aber meist im Verborgenen. Derzeit organisiert er als Parlamentarischer Geschäftsführer für seinen Herrn die Bundestagsfraktion, mit eiserner Hand und klarem Auftrag: Er treibt die Partei nach links, um sie anschlussfähig zu den Grünen und zur SPD zu machen. Dabei verfolgt er vor allem zwei sichtbare Strategien.

Erstens holt er linke Journalisten auf die Payroll der Partei, um Zugang zu linken Medien zu bekommen. Zum Beispiel Fabian Leber: In der Hauptstadtpresse ist es ein offenes Geheimnis, dass der frühere Redakteur des Berliner „Tagesspiegels“ sich einen Regierungsjob in einer Jamaika-Regierung ausrechnete und nur deshalb zur FDP ging. Das mit Jamaika klappte allerdings bekanntlich nicht. Deshalb muss Leber jetzt, mäßig gelaunt, als Pressesprecher des Fraktionsvorsitzenden Lindner die Hauptstadtjournalisten bespaßen.

Zum Beispiel auch Thomas Maron: Der war Redakteur der Stuttgarter Zeitung und vorher bei der Frankfurter Rundschau. Seine Verpflichtung sorgt immer noch für besonders viel Kopfschütteln: Maron gilt als ausgesprochener Linker – und als erklärter FDP-Gegner. Ein früherer Generalsekretär der Liberalen erzählt bis heute bei jeder Gelegenheit über ihn: „Dem konnte man erzählen, was man wollte – der zitierte die FDP nur, wenn er dazu gezwungen wurde.“

Das Ergebnis dieser Strategie, sich Feinde ins Haus zu holen, um das Verhältnis zu den Freunden dieser Feinde zu verbessern, ist parteiintern recht umstritten. Gerade auch den jüngsten Frontalangriff des „Spiegel“ auf Beer werten nicht wenige als Beleg dafür, dass der Ansatz gescheitert ist.

Zweitens bricht Buschmann konsequent die Brücken zur Westerwelle-Ära ab: Niemand, der unter Guido Westerwelle etwas war, darf heute noch eine Rolle spielen. Ehemalige Minister bekommen noch nicht mal mehr Einladungen zum Bunten Abend vor dem Parteitag. Dass da erhebliches politisches Potenzial weggeekelt wird, nimmt Buschmann offenkundig in Kauf. Es ist kalt geworden in der neuen FDP mit der Magenta-Farbe.

Mittlerweile ist es Abend.

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Epilog

Eigentlich jeder Redner hat mindestens einen gravierenden Kritikpunkt am real existierenden „Europa“. Eigentlich jeder Redner nennt mindestens eine grundsätzliche Sache, die aus liberaler Sicht unbedingt geändert werden müsse, damit „Europa“ funktioniert.

Eine Tatsache wird auf dem Parteitag trotzdem von keinem Redner angesprochen: Die gravierenden Kritikpunkte sind nicht neu – es gibt sie fast so lange, wie es die EU gibt. Und die Kritikpunkte werden nicht weniger, im Gegenteil – sie werden mehr, je länger es die EU gibt.

Noch eine Tatsache wird von keinem Redner angesprochen: Die grundsätzlichen Dinge, die aus liberaler Sicht unbedingt geändert werden müssen, damit „Europa“ funktioniert, wollen die politischen Konkurrenten ausdrücklich nicht ändern (und wenn, dann nicht in dieselbe Richtung wie die FDP). Und die Liberalen werden europaweit absolut sicher nicht annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen. Es besteht also gar keine Aussicht darauf, dass die grundsätzlichen Dinge tatsächlich geändert werden, die aus liberaler Sicht unbedingt geändert werden müssen, damit „Europa“ funktioniert.

Und eine Frage wird auf dem Parteitag nicht gestellt, obwohl sie angesichts dieser Sachlage doch nahe liegt: Kann man dieses real existierende Europa überhaupt so wollen, wenn denn nun keine Aussicht besteht, dass es in absehbarer Zeit besser wird, als es ist? Reicht eine bessere Idee von Europa, um das reale Europa weiter zu stützen?

Oder anders: Welche Chancen bietet Europa noch, und kann man sie überhaupt nutzen? Darauf gibt die FDP keine Antwort, weil sie die Frage nicht stellt.

Gute Nacht.

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