Der Erste Kriminalhauptkommissar M. vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ist ein unscheinbarer Mann, der seelenruhig aus seinen Akten zitiert. Doch was der Ermittler nun zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz vom Dezember 2016 aussagte, hat das Zeug für politischen Sprengstoff. Seit Jahren ermittelt der LKA-Beamte M. zum islamistischen Terrorismus. In diesem Zusammenhang wurde er auch auf Anis Amri, den Attentäter vom Breitscheidplatz, aufmerksam – und das schon ein gutes Jahr vor dem blutigen Anschlag vom 19. Dezember 2016, bei dem zwölf Menschen starben und viele verletzt wurden.
Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags sagte der Ermittler nun aus, dass eine seiner wichtigsten Quellen zu Amri – der V-Mann »Murat«, der im Untersuchungsausschuss VP-01 (Vertrauensperson 1) genannt wird – durch eine Anweisung von »ganz oben«, das soll wohl bedeuten vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière, im Frühjahr 2016 aus dem Verkehr gezogen wurde. Mitglieder des Untersuchungsausschusses zeigten sich erstaunt und entsetzt ob dieser Enthüllung. Die Hinterbliebenen kritisieren die Hinhaltetaktik der Bundesregierung und zeigen sich fassungslos angesichts der Tatsache, dass deren Vertreter »sich mit uns an einen Tisch setzen und uns anlügen – und hinterher kommen immer wieder solche Tatsachen heraus. Das macht uns wütend.«
Der Beamte des Bundeskriminalamtes allerdings, der laut Aussage von Kriminalhauptkommissar M. diesem die Anweisung gab »Murat« abzuziehen, versicherte seinerseits, dass er weder dem Wortlaut noch dem Sinn nach so etwas gesagt habe. Er könne ausschließen, dass de Maizière eine entsprechende Weisungen erteilt hätte. Das heißt: Einer von beiden lügt. Sollte es der BKA-Beamte sein, dürfte aus dem Fall Amri bald auch ein Fall de Maizière werden.
Der V-Mann machte »zu viel Arbeit«
Besonders nah war schon zuvor der V-Mann »Murat« – im Untersuchungsausschuss VP-01 (Vertrauensperson 1) genannt – Anis Amri gekommen. Der Spitzel, der laut einem anderen LKA-Mitarbeiter Erkenntnisse erster Güte lieferte (»was er gebracht hat, war tippitoppi«), hatte sich Zugang zu dem »Deutschsprachigen Islamkreis« verschafft, den der gebürtige Iraker Ahmad Abdulaziz Abdullah A. alias »Abu Walaa« 2012 in Hildesheim gegründet hatte. Abu Walaa, der 2001 nach Deutschland gekommen war und sich nach gestelltem Asylantrag zunächst als Jeans-Verkäufer und Cola-Vertreter betätigt hatte, trat später als Prediger in der eigenen wie in anderen Moscheen auf, gerierte sich als Kopf des IS in Deutschland, soll Jugendliche islamistisch geschult und ihre Ausreise in den Irak und nach Syrien organisiert haben. Seit September 2017 steht der Iraker wegen dieser mutmaßlichen Taten in Celle vor Gericht.
Von Anis Amri hatte der V-Mann des LKA erstmals im November 2015, kurz vor den Terroranschlägen in Paris, berichtet. Amri habe eigene Anschläge angekündigt und behauptet, sich aus Frankreich Schusswaffen und Sprengstoff dazu beschaffen zu können. Im Rahmen einer Schulung bei Abu Walaa soll es auch zu einem Gespräch unter vier Augen zwischen Walaa und Amri gekommen sein. Den Beamten des LKA Nordrhein-Westfalen galt Amri folglich als »Gefährder«. Eine umfangreiche Beobachtung setzte ein, vor allem mittels V-Mann »Murat« alias VP-01. Doch nun kommt das eigentlich Merkwürdige an diesem deutsch-islamischen Agententhriller: Bald schaltete sich ein Beamter des Bundeskriminalamts ein, bezweifelte den Wert der Quelle und verkündete, der V-Mann mache »zu viel Arbeit« – angeblich eine Order von »ganz oben«, hinter der die Leitungsebene des Bundeskriminalamts und letztlich das Innenministerium, damals von Thomas de Maizière (CDU) geführt, stünden.
Kriminalhauptkommissar M. zeigte sich damals »konsterniert und geschockt«, suchte das Gespräch mit zwei Staatsanwälten und versuchte, den Fall Amri wieder unter seine Fittiche zu bekommen – was aber vom BKA mit dem Hinweis auf Amris Eigenschaft als »hochmobiler Gefährder« abgelehnt worden sei. Man reibt sich die Augen … einerseits war die Quelle »Murat« angeblich nicht belastbar genug für eine Überwachung, andererseits wollte man mit bundesweit agierenden Gefährdern wie Anis Amri lieber keines der Landeskriminalämter belasten. Beide Äußerungen werden vom Bundesinnenministerium inzwischen heftig dementiert. Als M. von dem Anschlag hörte, war sein erster Gedanke wie der all seiner Kollegen: »Lass es nicht Amri sein.«
Ein rätselhafte Affäre mit vielen offenen Fragen
Schon im Oktober 2018 war mehreren Medien aufgestoßen, dass de Maizière noch vor seinem Abgang als Bundesminister die Beamtin Dr. Eva Maria H. als Beauftragte der Bundesregierung in den Untersuchungsausschuss entsandt hatte. Eva Maria H. hatte bis in den Sommer 2016 als Referatsleiterin in der Islamismus-Abteilung des Verfassungsschutzes gearbeitet, käme in Sachen Anis Amri also durchaus als Zeugin in Frage. Als neutrale »Beauftragte« des Ministeriums hatte sie dagegen volle Akteneinsicht, wäre also als Zeugin wohlgerüstet. Kurz darauf wurde die Ministerialbeamte aus dem Ausschuss abgezogen. Trotzdem entstand der Eindruck, dass man im Innenministerium – vorsichtig ausgedrückt – besorgt um das Bild war, das der Verfassungsschutz und das eigene Haus im Fall Amri abgibt.
Merkwürdig erschien im Rückblick auch die eilige Abschiebung des Marokkaners Bilel Ben Ammar, eines mutmaßlichen Komplizen Amris, im Februar 2017 nach Tunesien, obwohl zu dieser Zeit noch Ermittlungen gegen ihn wegen Mordes liefen. »Diese Nacht-und-Nebel-Aktion lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Ben Ammar sollte als Zeuge weder den Ermittlern noch dem Parlament zur Verfügung stehen«, sagte der Berliner FDP-Politiker Marcel Luthe damals dem »Focus«. Eine rätselhafte Affäre und viele Fragen, die eine Antwort verdienen. Thomas de Maizière, der zuletzt ein Buch unter dem Titel »Regieren« veröffentlichte, schuldet wohl noch ein paar »Innenansichten der Politik«.