Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte nur wenige Tage nach der Wahl 2021: „Nach unseren derzeitigen Erkenntnissen sind die Unregelmäßigkeiten nicht in einem Umfang zu sehen, die mandatsrelevant oder wahlverfälschend sind.“ Er gab damit die Linie vor, mit der die Wahlpannen in Berlin weggeredet werden sollten. Spätestens seit den TE-Recherchen der letzten Wochen ist klar, wie flächendeckend das Wahldesaster war, wie systematisch die Fehler auftraten und dass zehntausende Wählerstimmen betroffen sind.
Die „Mandatsrelevanz“ ist die letzte Verteidigungslinie des Senats. Es ist eine juristisch-bedingte, rein theoretische Rechnung. Demnach hätten die Wahlpannen und Manipulationen keine Auswirkung auf die Mandatsverteilung.
Den Leser weisen wir daraufhin, dass es sich hier in weiten Teilen um eine theoretische Rechnung handelt, die juristisch bedingt ist. Wenn Sie sich für die mathematischen Einzelheiten nicht bis ins letzte Detail interessieren, dann überspringen Sie beim Lesen einfach die kursiven Absätze. Wir haben die Ergebnisse auf Wahlen spezialisierten Mathematikern vorgelegt und diese haben sie bestätigt. Und sogar die Landeswahlleitung bestätigt uns (siehe unten).
Die Mandatsrelevanz – es geht um berlinweit 1746 Stimmen
Die Mandatsrelevanz liegt berlinweit dann vor, wenn die systematischen Wahlfehler theoretisch eine Veränderung des Zweitstimmenergebnisses zum Berliner Abgeordnetenhaus hätten ergeben können, so dass sich am Ende die Sitzverteilung des Parlamentes dadurch ändern könnte. Dafür wird immer eine theoretische Kontrollrechnung durchgeführt: Angenommen, alle Stimmen, die durch Wahlpannen nicht regulär abgegeben werden konnten, wären für einen der Wahlvorschläge ausgefallen – würde sich die Mandatsverteilung dann ändern?
Ist das der Fall, muss berlinweit wiederholt werden.
Die gegenwärtigen 147 Sitze des Abgeordnetenhauses werden nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren auf die Wahllisten der Parteien verteilt. Dabei wird zunächst eine theoretische Sitzverteilung gemäß der Stimmenverhältnisse errechnet. Das geht aber natürlich nicht auf, weil nur ganze Sitze vergeben werden können und nicht beispielsweise 35,94 für die SPD. Es wird dann gerundet. Und zwar nach folgendem Prinzip: Zunächst wird berechnet, wie viele Sitze jeder Liste gemäß ihres Zweitstimmenanteils mindestens zustehen – also „die Zahl vor dem Komma“, im Falle der SPD 35. Anschließend wird geprüft, wie viele Sitze so verteilt werden können und wie viele zur feststehenden Gesamtsitzzahl insgesamt fehlen. Im aktuellen Fall können 144 Mandate so im ersten Schritt verteilt werden, drei Mandate fehlen. Diese drei Mandate werden nun auf jene Listen verteilt, die entsprechend die höchste Nachkommastelle aufweisen. Im aktuellen Fall sind das die SPD mit 35,94, die Grünen mit 31,70 und die Linkspartei mit 23,60. Sie bekommen im Ergebnis 36 bzw. 32 und 24 Sitze.
Eine Veränderung der Sitzverteilung des Abgeordnetenhauses durch veränderte Stimmergebnisse ist nun am ehesten denkbar, wenn diejenige Partei, die am knappsten ein weiteres Mandat verfehlte, bei der Nachkommastelle jene Partei überholt, die gerade noch ein weiteres Mandat erhielt. Am knappsten erhielt die Linkspartei ihr zusätzliches Mandat mit 23,60 theoretischen Sitzen und 24 Sitzen, die sie am Ende tatsächlich bekam. Die Liste, die am knappsten an einem weiteren Mandat scheiterte, war die AfD mit einer theoretischen Sitzanzahl von 13,43, die am Ende lediglich eine tatsächliche Sitzanzahl von 13 ergab.
Damit die AfD die Nachkommastelle der Linkspartei überholen könnte, bräuchte sie 1746 Stimmen zusätzlich – dann würde sie einen Sitz mehr und die Linkspartei einen Sitz weniger erhalten.
1746 Zweitstimmen (wohlgemerkt in ganz Berlin) sind also notwendig, um die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses grundsätzlich zu verändern und eine Wiederholung unumgänglich zu machen.
Die Frage ist nun, ob die zweifelsfrei quantifizierbaren verlorenen Stimmen durch Wahlfehler die Zahl 1746 übersteigen. Denn wie beschrieben werden diese für die Kontrollrechnung immer fiktiv einer einzigen Partei zugeschlagen, um zu prüfen, ob sich die Sitzverteilung ändern könnte.
Die Wahl hängt an 264 Stimmen
TE-Recherchen zeigen, dass allein 1297 Wahlzettel für die Zweitstimme versehentlich nicht an Wähler ausgegeben wurden. Das heißt, Wähler gingen ins Wahllokal, wurden im Wahlregister abgestrichen, gaben etwa zum Bundestag und zur Bezirksverordnetenversammlung ihre Stimme ab – aber eben nicht die Zweitstimme zum Berliner Abgeordnetenhaus, da sie den entsprechenden Wahlzettel nicht bekamen.
Diese Zahl wurde mittlerweile auch offiziell von der Landeswahlleiterin bestätigt: 1297 Wähler wurden also eindeutig um ihr Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus gebracht, weil sie zwar im Wahllokal waren, alle Stimmen abgeben konnten, ihre Zweitstimme zum Abgeordnetenhaus allerdings nicht. Unsere 1746 erforderlichen Stimmen minus diese 1297 machen nun 449 weitere Stimmen, die zur Mandatsrelevanz noch fehlen.
An jenen 264 Stimmen Differenz hängt jetzt also die Legitimität der Abgeordnetenhauswahl von Berlin.
Eine frei erfundene Kontrollrechnung
Offenbar hat man sich große Mühe gegeben, die Überschreitung dieser Zahl zu verhindern. Dabei geht es um 1969 irreguläre Zweitstimmen aus Friedrichshain-Kreuzberg. Wie TE-Recherchen bereits gezeigt haben, wurden diese Stimmen auf falschen Wahlzetteln (solchen aus Charlottenburg-Wilmersdorf) abgegeben, später aber dennoch wieder für gültig erklärt. Das widerspricht eindeutig dem Berliner Wahlgesetz, in dem explizit steht, Stimmen auf Wahlzetteln, die für einen anderen Wahlbezirk vorgesehen sind, seien ungültig.
Wären diese Stimmen als ungültig gewertet worden, wäre die Grenze zur Mandatsrelevanz sofort sichtbar überschritten gewesen. An ihnen hängt also der Bestand dieser Wahl. Deshalb lohnt sich ein genauer Blick.
Zunächst zum Hintergrund dieser dubiosen Entscheidung, die Stimmen dennoch zu werten: Nach TE-Informationen griff die Senatsverwaltung für Inneres direkt ein und wies den für die Feststellung des Ergebnisses zuständigen Bezirkswahlausschuss auf ein 12 Jahre altes Urteil zu einer Personalratswahl hin. Auch der Bezirkswahlleiter war offensichtlich verdutzt. Dabei hatte er öffentlich zunächst klar gesagt, dass alle diese Stimmen für ungültig erklärt werden müssen.
Denn das besagte Personalratswahl-Urteil erlaubt es zwar, Stimmabgaben auf fehlerhaften Stimmzetteln für gültig zu erklären – aber nur unter der expliziten Bedingung, dass dabei eine Mandatsveränderung durch diese wieder gültigen Stimmen ausgeschlossen werden kann.
Nach Auffassung der zuständigen Bezirkswahlleitung von Friedrichshain-Kreuzberg ist für die Anwendung dieses Urteils eindeutig folgende Rechnung zur Mandatsrelevanz notwendig. Die Pressestelle erklärt gegenüber TE: „Diese [die Mandatsrelevanz] könnte sich theoretisch z.B. dann ergeben, wenn man alle 1.969 Stimmen einem Wahlvorschlag zurechnet und dadurch entweder die 5%-Hürde überschritten würde oder in der Verteilung zwischen den an der Mandatsverteilung teilnehmenden Wahlvorschlägen bei fiktiver voller Zurechnung aller dieser Stimmen zu jeweils einem Wahlvorschlag eine Veränderung der Mandatszahl ergäbe“. Wohlgemerkt: „bei fiktiver voller Zurechnung aller dieser Stimmen zu jeweils einem Wahlvorschlag“.
Das muss nun ganz einfach rechnerisch überprüft werden. Der Bezirkswahlleiter erklärte gegenüber TE, dass man sich dafür auf die Landeswahlleitung verließ. Diese habe die eindeutige Auskunft erteilt, dass eine solche Kontrollrechnung erfolgt sei, mit dem Ergebnis, dass eine Mandatsrelevanz nach eben beschriebener Rechnung ausgeschlossen werden kann. Explizit unter Verweis auf diese Rechnung hat der Bezirkswahlausschuss die Stimmen daraufhin für gültig erklärt.
Doch es gibt da ein kleines Problem: Es ist schlichtweg falsch. Eine Mandatsveränderung durch diese Stimmen ist entgegen dieser Aussage tatsächlich nicht auszuschließen. Würden die 1969 betroffenen Kreuzberger Stimmen nämlich zu mindestens 75 Prozent auf die SPD entfallen sein, würde sich die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses verändern.
TE fragte bei der Landeswahlleitung an, diese bestätigte die Rechnung nun eindeutig. Die Pressestelle erklärte: „Die fehlerhaften Stimmzettel hätten sich nur dann auf die Mandatsverteilung auswirken können, wenn von den 1.969 Zweitstimmen – bei hypothetischer Ausgabe korrekter Stimmzettel – mindestens 1.454 (73,8 %) auf die SPD entfallen wären.“
Die Landeswahlleitung führt dann zwar aus, dass das unwahrscheinlich sei, weil die SPD ansonsten natürlich viel weniger Zweitstimmen habe. Das ist aber nicht der Punkt. Denn im genannten Urteil zur Personalratswahl von 2010, auf dem diese absurde Argumentation beruht, heißt es eindeutig: „Ist ein Einfluss der fehlerhaften Stimmzettel auf das Wahlverhalten naheliegend, muss vom größtmöglichen Einfluss auf das Wahlergebnis ausgegangen werden, d.h. es müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten […] zu den Stimmen der einen oder der anderen Liste hinzugerechnet werden. Spekulationen über ein anderes hypothetisches Wahlverhalten verbieten sich.“
Genau solche Spekulationen führt die Landeswahlleitung nun gegenüber TE aber aus. Die Landeswahlleitung erklärte zudem erst vor wenigen Tagen gegenüber dem Landesverfassungsgerichtshof von Berlin, dass die Landeswahlleitung keine Information über die tatsächliche Verteilung dieser 1969 Kreuzberger Zweitstimmen habe.
Die Landeswahlleitung hat der zuständigen Bezirkswahlleitung eindeutig erklärt, dass eine Kontrollrechnung mit fiktiver Stimmverteilung durchgeführt worden sei. Das war gelogen. Denn eine solche Rechnung ist nicht möglich, wie man nun selbst zugibt. Alternativ wäre lediglich ein schlichter Rechenfehler möglich. Das würde dem Chaos allerdings nur die Krone aufsetzen.
In jedem Fall steht fest: Das festgestellte Endergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahl basiert auf einer falschen Rechnung und hätte so nie Bestand haben dürfen. Der Bezirkswahlausschuss wurde durch die Landeswahlleitung getäuscht, um ein Ergebnis passend zu machen. Es wurden 1969 falsche Stimmen für gültig erklärt, die nach keiner erdenklichen Sicht für gültig hätten erklärt werden dürfen. Die Landeswahlleitung liegt im Aufgabenbereich der Senatsverwaltung für Inneres, damals unter Senator Andreas Geisel (SPD). Für weitere Auskünfte stand man auf Anfrage nicht zur Verfügung.
Wenn diese 1969 Stimmen ungültig sind, dann ist die Mandatsrelevanz der Pannen in Berlin unmittelbar gegeben – und wäre sofort ablesbar gewesen. Die Wahl hätte wiederholt werden müssen. Genau das wurde aber verhindert, indem diese Stimmen über Umwege dennoch gültig wurden.
Auch ganz praktisch ergibt sich eine Mandatsrelevanz: Da wir die genaue Verteilung der Stimmen nicht kennen, gehen wir einmal davon aus, dass die 1969 Zweitstimmen gemäß der Verteilung der sonstigen Zweitstimmen im Bezirk ausgefallen sind. Dann wären es besonders viele Stimmen für Rot-Rot-Grün und besonders wenige für die AfD.
Ausgehend von dieser Stimmverteilung würde sich also ganz praktisch der Abstand von AfD und Linkspartei verringern, wenn man diese Stimmen gemäß der Rechtslage für ungültig erklärt. Rechnet man abzüglich der verteilten 1969 die Berliner Stimmen insgesamt wie eingangs beschrieben nach, so fehlen nunmehr lediglich 1476 Stimmen zur Mandatsrelevanz. Wie eingangs beschrieben, machen die zweifelsfrei belegbaren Wahlfehler 1482 Stimmen aus. Damit ist eine Mandatsrelevanz – wie immer man es drehen und wenden will – bei den Wahlpannen in Berlin gegeben.
Die Wiederholung der Wahl ist berlinweit damit unumgänglich. Geht alles mit rechten Dingen zu, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Landesverfassungsgerichtshof das feststellen muss. Wenn man jetzt weiter hinauszögert, ist die Folge lediglich, dass eine Wiederholung immer weiter vom ursprünglichen Wahltermin abweicht und die Legitimität der Wahl damit nochmals in Mitleidenschaft gezogen wird.