Tichys Einblick
Interview TE 06-2021

Ex-Chefökonom Stark: Wir stecken mitten im Systemwechsel

Maastricht spielt keine Rolle mehr – Deutschland hat Souveränität über Haushalt verloren – „Ich kann einen Crash nicht mehr ausschließen“

Jürgen Stark, promovierter Volkswirt, zur Wende Referatsleiter im Bundeskanzleramt, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Vizepräsident der Bundesbank, Direktoriumsmitglied der EZB bis 2012: „Man hat sich in dem Wahn verfangen, große Zahlen zu produzieren“

IMAGO / Wolf P. Prange

Frankfurt. Ein verheerendes Urteil über die Haushalts- und Währungspolitik der EU zieht der frühere Chefökonom der EZB, Jürgen Stark. Demnach hat Deutschland die Souveränität über seinen Staatshaushalt verloren, die Maastricht-Kriterien spielen keine Rolle mehr. Stark spricht sogar von einem laufenden Systemwechsel.

Die galoppierende Verschuldung werde unweigerlich in eine Inflation münden, über die sich die hoch verschuldeten EU-Staaten entschulden werden. Sogar einen Crash will Stark nicht mehr ausschließen. „Nach meinem Eindruck haben wir die Erosion der nationalen Souveränität auf dem Gebiet der Haushaltspolitik längst“, kritisiert Stark im Gespräch mit dem Monatsmagazin Tichys Einblick. „Bei jedem euphemistisch als EU-Integrationsfortschritt deklarierten Vorgang, etwa den diversen Rettungsfonds des Jahres 2010, die später dann in den dauerhaften Stabilitätsmechanismus umgewandelt wurden, handelte es sich jeweils um eine Beschränkung der nationalen Budgetsouveränität.“

Stark greift die EZB frontal an, weil sie durch den gezielten Aufkauf der Staatsanleihen der südlichen Krisenländer deren Verschuldungspolitik direkt unterstützt. „Mit einheitlicher Geldpolitik hatte dieser selektive Anleihekauf nichts zu tun. Das war der entscheidende Schritt in die monetäre Staatsfinanzierung, die vertraglich verboten ist.“ Stark weiter: „Heute sind wir in einer Situation, in der die Explosion der öffentlichen Verschuldung ohne dieses aktive Handeln der EZB gar nicht möglich wäre.“ Jetzt werde die Staatsverschuldung noch befeuert durch das PEPP-Programm. „Im März 2020 waren es erst 750 Milliarden Euro, die für Anleihekäufe annonciert wurden, im Juni wurde dann um weitere 600 Milliarden Euro aufgestockt, und im Dezember gab es noch einmal 500 Milliarden Euro on top. Die unvorstellbare Summe von 1850 Milliarden steht zum Kauf von Anleihen bis zum ersten Quartal 2022 zur Verfügung.“ Das habe die Finanzmärkte noch einmal beflügelt, führe aber „zu einer Abkoppelung der Aktienmärkte von der Realwirtschaft“. Das könnte fatale Folgen haben. „Ich will einen Crash nicht herbeireden, aber ausschließen kann man ihn nicht.“

Als „Mogelpackung“ bezeichnet Stark das Corona-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ (NGEU). Das Programm habe „nichts, aber auch gar nichts mit den Folgen der Pandemie zu tun“, so der Ökonom. Es gehe vor allem um einen Machtzuwachs für die EU und die Finanzierung der Krisenländer. „Allein Italien erhält, wenn man Zuschüsse und Kredite addiert, rund 200 Milliarden Euro. Diese riesige Summe taucht nirgendwo in der italienischen Schuldenstatistik auf.“ Stark zieht ein düsteres Fazit. „Was wir hier erleben, hat mit Maastricht und den Verträgen, denen Deutschland zugestimmt hat, nichts mehr zu tun. Wir stecken mitten in einem Systemwechsel.“


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