Seit langem gibt es Anlass, an der Erzählung der griechischen Regierung vom zur Gänze „versiegelten“ Evros zu zweifeln. Allein die anhaltende Fülle der Schlepperaufgriffe im Landesinneren – die von Polizei und Medien ohne Zögern gemeldet werden – deutet darauf hin, dass der Zustrom von Migranten aus der Türkei nie ganz abgerissen ist. Allein für den Dezember 2022 finden sich Berichte über sieben Schlepper, die am Evros oder im Landesinneren festgenommen wurden, meist mit illegalen Migranten im Schlepptau. Auch das „FlussinselDramolett“ vom Sommer wurde nochmals inszeniert. Dieses Mal stellte die griechische Polizei umgehend fest, dass die gewählte Kleininsel nicht zum griechischen Staatsgebiet gehört, und forderte die Türkei auf, die Migranten wieder einzusammeln.
Der Verdacht lässt sich weiter von den beiden Seiten des Problems zuschnüren und erhärten. Einerseits blüht die Schleuserkriminalität auf dem West- wie Ostbalkan. Neben den schieren Zahlen (140.000 durchreisten allein den Westbalkan bis Ende November) belegen das auch die Werbekanäle der Schlepper in den sozialen Medien, die in Videos zeigen, wie sie Menschen von den Nachbarstaaten der Türkei (Griechenland und Bulgarien) bis nach Österreich und Italien schleusen.
Andererseits zeigen Videos der griechischen Behörden die Praktiken der Schlepper am Evros, wo Migranten mit Militärbussen – die angeblich zur türkischen Gendarmerie gehören – an die Grenze gefahren und dort losgelassen werden. Auch „farbige“ Vorfälle mit großem Nachrichtenwert wie der – vermutlich nie geschehene – Tod der kleinen Syrerin „Maria“ auf einer Evros-Insel oder der Aufgriff von 92 vollkommen unbekleideten jungen Männern am Grenzfluss deuten darauf hin, dass die Schleppermafia bemüht ist, mediale Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erzeugen. Vermutlich taugen auch solche „vermischten Meldungen“ im weitesten Sinne als Werbung für ihr illegales Geschäft.
Balkanroute oder Ferienflieger? Eine Frage des Preises
Kurz vor Weihnachten konnten die griechischen Behörden einen neuen Schlepperring aufdecken, der die schamlosen Ausmaße dieses kriminellen Gewerbes erneut offenlegt. Am 20. Dezember wurden in und um Thessaloniki und in der Region Attika 18 Personen festgenommen, wobei auch 13 illegale Migranten aufgegriffen wurden, die zwecks Abschiebung den zuständigen Behörden übergeben wurden.
Der Weg der Migranten begann zum Beispiel im abgelegenen Dörfchen Lavara, das weder besonders weit im Süden noch im Norden des griechisch-türkischen Grenzverlaufs liegt. Hier befindet sich angeblich einer von vier illegalen Schlepperübergängen der nun aufgeflogenen Bande. Der griechische Fernsehsender Antenna (ANT1) zeigte ein Video aus buschig bewachsener Heide. Im silberfarbenen Auto erwarten die Schlepper die illegal eingereisten Migranten. Danach sieht man dasselbe Auto vor einem Mehrfamilienhaus, in das die Migranten eilig laufen. Die PKWs sind häufig gemietet oder gestohlen. Mit ihnen geht es in die Metropolen Thessaloniki und Athen oder deren Vororte. Von da aus können die Illegalen sich für eine Autofahrt an die nordmazedonische Grenze, also für die Balkanroute entscheiden. Oder aber sie nehmen einen Ferienflieger vom Athener Flughafen, dann sicherlich mit gefälschtem oder gestohlenem Pass.
In Athen wurden 136 Ausweisdokumente sichergestellt, die übergroße Mehrzahl von ihnen (110 Stück!) gestohlen und zweckentfremdet. In der griechischen Hauptstadt wurden schon in der jüngeren Vergangenheit Passfälscherwerkstätten und Passhehlerläden ausgehoben.
Daneben stellte man zwölf eigene Kraftfahrzeuge, 69 Mobiltelephone, eine Geldzählmaschine inklusive 48.000 Euro in bar sowie 61 Gramm der Droge Crystal Meth sicher. Übrigens war auch ein Ausländer, der wegen Vergewaltigung gesucht wurde, unter den Festgenommenen. Diese Razzien haben offenbar einen umfassenden Nutzen für den Kampf der griechischen Polizei gegen die Kriminalität im Lande.
Der Westbalkan als „Tasche“ und Durchzugsgebiet
Der berichtende Generalmajor der Athener Flughafenpolizei, Kostas Makropoulos, spricht von einer „kriminellen Organisation“, die offenkundig aus Erwerbsinteresse handelte – also ein Schlepperring im klassischen Sinn. Jedes Teilstück der illegalen Reise kostet laut der Athener Polizei 2.000 bis 5.000 Euro, die über das Untergrundbanksystem Hawala von den Migranten oder ihren zurückgebliebenen Verwandten zu zahlen waren.
Im Fernsehbericht von Antenna werden dem Geschehen die Aussagen von Migrationsminister Notis Mitarakis gegenübergestellt: Die illegalen Migrationsströme nach Griechenland seien demnach gegenüber dem Jahr 2019 um 80 Prozent zurückgegangen. Statt 92.000 Migranten in mehr als 100 Zentren seien es nun 15.000 Asylbewerber in „nur“ 33 Einrichtungen.
Das sind Aussagen, die sich an die griechischen Bürger richten. Über die Sicherheit der griechischen Grenze für die Schengenzone insgesamt sagen sie genaugenommen noch nichts aus. Denn auch die nun festgenommenen Schlepper operierten im Verborgenen. Die Geschleppten gingen damit in keine griechische Statistik ein, sondern fanden ihren Weg direkt auf den Westbalkan – hinein in die berühmte, vorgebliche „Tasche“ der neueren Migrationshypothesen – oder an einen Flughafen, der noch näher am jeweiligen Zielland liegt.