In der Ukraine blieb die Lage an der Front über Nacht weitgehend unverändert. Die russische Armee versucht nach Angaben Kiews weiterhin erfolglos, die Städte Popasna und Rubischne in der Region Donezk zu erobern. Auch von einem missglückten russischen Angriff in der Region Charkiw berichtet der Generalstab der ukrainischen Armee. Teilweise soll Moskau Bataillonsgruppen wegen hoher Verluste aus der Front nehmen müssen. Der Beschuss durch russische Mörser und Artillerie halte fast an der gesamten Frontlinie an, heißt es im Lagebericht. Unabhängige Berichte bestätigen das insbesondere für die Frontlinie im Oblast Dnipro im Süden des Landes.
In Mariupol halten die letzten ukrainischen Verteidiger weiterhin den Industriekomplex „Asovstal“. Russland will nach Einschätzung der ukrainischen Regierung das belagerte Stahlwerk in der Hafenstadt bis Montag ganz erobern. Präsident Wolodymyr Selenskyjs Berater Olexij Arestowytsch sagt, das Asovstal-Werk solle zum 9. Mai erobert werden. „Das schönste Geschenk an einen Herrscher ist der Kopf seines Gegners. Ich erkenne klar das Bestreben, Azovstal zu erobern und Putin zum 9. Mai den ‚Sieg‘ zu schenken“, wird er von der Agentur Unian zitiert. Mariupol war wochenlang hart umkämpft, im Stahlwerk „Asovstal“ halten sich neben Zivilisten auch Truppen des rechtsextremen Azov-Regiments auf.
Ein Sieg über diese Einheiten zum 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, wäre eine perfekte Inszenierung im Rahmen der russischen Propaganda-Kampagne, die den Krieg gegen die Ukraine als eine „Spezialoperation“ gegen Neonazis und eine angebliche faschistische Junta in Kiew bezeichnet. Die noch im Stahlwerk eingeschlossenen Zivilisten sollen derweil in einem erneuten Evakuierungsversuch aus dem unterirdischen Komplex gebracht werden, in dem sie sich seit Wochen versteckt halten.
Laut UN-Generalsekretär António Guterres würden Hunderte aus der Gefahrenzone gebracht werden. Er bestätigte die Evakuierungsoperation der UN in einer Sitzung des Sicherheitsrats in New York. Einzelheiten nennt er nicht. „Es ist unsere Politik, nicht über die Details zu sprechen, bevor sie abgeschlossen ist, um einen möglichen Erfolg nicht zu untergraben.“ Rund 200 Zivilisten sollen noch im Stahlwerk eingeschlossen sein. Die Ukraine bestätigt, dass heute Mittag weitere Evakuierungen beginnen sollen. Die Situation für die Eingeschlossenen ist kritisch: Ein Sanitäter vor Ort berichtet darüber in einem veröffentlichten Video. „Hier sterben Menschen, die einen durch Kugeln, die anderen vor Hunger, die Verwundeten aus Mangel an Medikamenten, unter schrecklichen Bedingungen.“ Für eine Evakuierung bat er die Türkei um Hilfe. „Uns bleibt keine Zeit, ich weiß nicht, ob es noch ein morgen gibt“, sagt er.
Die Frage stehe im Raum, „inwieweit die Wirtschaft mit ihren Entscheidungen im Bereich Energie falsche Abhängigkeiten forciert hat“, so Mangold mit Blick auf das Projekt „Nord Stream 2“ und die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas. Dafür würden Wirtschaft und Politik gleichermaßen Verantwortung tragen. Eine schnelle Rückkehr zu alten Geschäftsbeziehungen hält er für unvorstellbar. „Allein, um die Folgen der bereits verhängten Sanktionen zu überwinden, wird das Land mindestens eine Dekade brauchen.“ Dennoch sollte Europa bereits jetzt aktiv darüber nachdenken, wie eine Zukunft mit Russland gestaltet werden könne. Mangold ist überzeugt: „Es wird eine Zeit ‚danach‘ geben. Und wir, Politik und Wirtschaft, tun gut daran, uns schon heute Gedanken über ein ‚morgen‘ zu machen.“