Tichys Einblick
Dammbruch bei der Europawahl

Die Deutschen wollen die Anderen

Die Europawahl zeigt: Die Deutschen sind nicht nur mit der Regierung unzufrieden. Sondern auch mit der Opposition. Sie wählen Parteien nach vorne, die bisher wenig bekannt waren. Dieser Unmut ist kein rechtes Phänomen.

picture alliance / Panama Pictures | Dwi Anoraganingrum

„Demos gegen Rechts“ am Wahlwochenende. Organisiert von der „Zivilgesellschaft“, die von der Ampel massiv gesponsert wird. Breit ins Land getragen von staatlichen und staatsnahen Medien. Gedenkfeier anlässlich der NSU-Morde am Wahltag. Der politisch-mediale Komplex hat nichts unversucht gelassen, die regierende SPD zu pushen. Dem politisch-medialen Komplex ist nichts zu peinlich, um die regierende SPD zu pushen.

Doch obwohl staatliche und staatsnahe Organisationen am Wahlwochenende das Wahlkampfthema der SPD in den Mittelpunkt stellen – „Gegen Hass und Hetze“ –, trudelt die SPD in Richtung historisch schwächstes Ergebnis. Dabei brachte schon die Europawahl 2019 den Sozialdemokraten einen negativen Rekord. Der Milliarden schwere Propaganda-Apparat reicht nicht, um den Menschen im Land die SPD schön zu reden. Die Bilanz von Kanzler Olaf Scholz ist verheerend. Auf ihn hat die Partei im Wahlkampf gesetzt. Auf ihn und auf die Wahlverliererin von 2019, die Rheinland-Pfälzerin Katarina Barley. Minus plus Minus ergibt einen weiteren Negativ-Rekord.

Union und AfD haben Grund genug, ihr Ergebnis zu feiern. Doch knapp über 30 Prozent und an die 15 Prozent sind ordentlich – aber eigentlich zu wenig für die beiden größten Oppositionsparteien angesichts einer derart schwachen Bundesregierung. Dass die eine Partei jede Zusammenarbeit mit der anderen kategorisch ausschließt, ermutigt die Wähler nicht gerade, sie zu wählen. So bleiben sowohl die Regierungs- wie auch die Oppositionsparteien selbst zusammengenommen von einer theoretischen Mehrheit deutlich entfernt.

Die Brandmauer, die CDU-CSU gegen die AfD aufgebaut haben, bringt eine ungute Arithmetik in die Regierungsbildungen in Deutschland: Egal, wie sehr die Menschen sehen, dass es ein Land sich nicht leisten kann, Langzeitarbeitslose besser zu bezahlen als Arbeitende. Egal, wie sehr die Menschen die Deindustrialisierung fürchten, die von den Grünen ausgeht. Am Ende sind trotzdem – mit einer Ausnahme in Bayern – SPD und/oder Grüne in jeder Regierung vertreten.

Wähler sind wie Wasser. Die Politik kann sie eindämmen und umleiten. Doch wie die Bewohner im Ahrtal und Bayern gelernt haben, dass sich Wasser früher oder später das Bett seiner Wahl sucht, so sehr werden Union, SPD, Grüne, Linke und FDP einsehen müssen, dass sich diejenigen einen Weg außerhalb des gängigen Politikangebots suchen, die mit dem aktuellen Politikangebot massiv unzufrieden sind. Die Europawahl ist da ein weiterer Schritt. Nicht mehr der erste und bei weitem nicht der letzte.

FDP und Linken droht schon jetzt der Abgang in die Geschichte. Die Dauerpräsenz von Marie-Agnes Strack-Zimmermann in den Talkshows hat nicht geholfen. vielleicht sogar geschadet. Eine Flüchtlings-Schleuserin aus reichem Haus, die später nicht in Deutschland leben will, weil es hier so voll ist, ist auch keine so zugkräftige Topkandidatin, wie es sich die Linken ausgedacht haben.

Neue Parteien drängen nach vorne. Die Parteien, die früher unter „Die Anderen“ zusammengefasst wurden, haben zusammen bis zu 20 Prozent geholt. Das ist kein rein rechtes Phänomen. Auch in der linken Hälfte der Bevölkerung gibt es Unmut. Deswegen ist eine Partei wie Volt nach vorne geprescht, die grüner als die Grünen sind. Deswegen hat sich ein Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem Stand in der Parteienlandschaft etabliert. Weil es viele Menschen in Deutschland gibt, die sich zwar eine linke Sozialpolitik wünschen, aber trotzdem für eine realistische Einwanderung votieren – und die gegen die Einschleusung von „Bad Guys“ sind. Und deswegen haben die Freien Wähler ein bemerkenswertes Ergebnis geholt, obwohl der Auftritt manch ihrer Landesverbände gruselig ist.

Das Wasser sucht sich einen Weg. Die Deutschen wollen die Anderen. Buchstäblich und im übertragenen Sinn. Die Bürger sind eine Regierung leid, die das Land deindustrialisiert. Ebenso wie eine Opposition, die keinen überzeugenden Gegenentwurf liefert. Vorerst ist kein Wahlergebnis möglich, bei dem nicht SPD und/oder Grüne anschließend in der Regierung sind. Bald finden die Wähler Konstellationen, in denen das anders sein wird.

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