Datenschützer haben im Tauziehen um die Grundrechte in der EU einen herben Rückschlag erlitten. In einem Urteil vom 30. April 2024 wich der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erstmals von seiner Position ab, dass die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Bürger darstellt und nur in Ausnahmefällen – zum Beispiel zum Schutz der nationalen Sicherheit – erfolgen dürfe. Nun argumentiert der EuGH im Gegenteil, dass dies standardmäßig keinen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte darstelle und nur in bestimmten Fällen durch geeignete Schutzmaßnahmen abgesichert werden müsse.
Dieses Urteil erfolgte im Zuge der Klage diverser Datenschutzorganisationen gegen das französische Anti-Piraterie-System HADOPI, das im Zusammenhang mit urheberrechtlich geschützten Werken auf IP-Adressen zugreift und diese an bürgerliche Identitäten koppeln kann. Unzulässig sei dies laut dem neuesten Urteil nur mehr, wenn damit in „atypischen Situationen“, also wenn damit politische Meinungen oder sexuelle Orientierungen offenbart würden, ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre einherginge. Ebenso dürfe dieser Prozess nicht vollständig automatisiert vonstattengehen, dies gelte aber explizit nicht in anderen Fällen, in denen massiv und automatisiert auf bürgerliche Identitäten zugegriffen werden dürfe.
Der Beschluss des EuGH läutet somit eine Zeitenwende ein, denn bislang hatte das Gericht über ein Jahrzehnt lang vergeblich auf das Recht auf Privatsphäre gepocht. Doch die Regierungen und Behörden der Mitgliedsstaaten entschieden sich bewusst, die bestehenden Urteile nicht umzusetzen, sodass stattdessen nun der EuGH einen Schritt in Richtung der Mitgliedsstaaten machte und faktisch eingestand, dass er bereit ist, die Rechtsprechung anzupassen, wenn Urteile nicht umgesetzt würden.
Datenschützer äußern sich besorgt
Diese Wende in der Rechtsprechung führte zu großer Sorge bei Datenschutzorganisationen. La Quadrature du Net, die französische Organisation, die gegen HADOPI geklagt hatte, bezeichnete das Urteil als „enttäuschend“ und befürchtete, dass der Gerichtshof damit „die Möglichkeit einer Massenüberwachung des Internets“ zulasse. Die Datenschützer verwiesen darauf, dass das Urteil den „massenhaften, automatisierten Zugriff auf IP-Adressen genehmigt, die mit der bürgerlichen Identität und dem Inhalt einer Kommunikation verbunden sind“. Dieser Zugriff, so fürchtet La Quadrature du Net, könne sogar zu Bagatellzwecken und ohne Vorprüfung durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde durchgeführt werden.
Ähnlich sah es Erik Tuchtfeld vom Zentrum für Digitalen Fortschritt D64, der von „ganz schlechten Nachrichten“ sprach. Dem pflichtete auch Chloé Berthélémy vom Dachverband europäischer Digitalorganisationen zu. Das Urteil stelle „eine traurige Wende in der europäischen Rechtsprechung zum Schutz des Grundrechts auf Privatsphäre im Internet dar“, so Berthélémy. Die bisherige Rechtsprechung würde aufgeweicht, „um Internetnutzer leichter identifizieren zu können“. Dies gefährde auch das Recht auf Online-Anonymität, das zunehmend auch im Zusammenhang mit der Unterdrückung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und der europäischen Zivilgesellschaft im Allgemeinen verstanden werden müsse.
Auch Patrick Breyer von den Piraten bezog eindeutig Stellung gegen die neuerliche Erweiterung der Vorratsdatenspeicherung. „Zuerst hat der EuGH zur Verfolgung von Kindesmissbrauchsdarstellungen und anderer schwerer Straftaten eine flächendeckende Vorratsdatenspeicherung über die Internetverbindungen der gesamten Bevölkerung erlaubt. Ab heute soll unsere Internetnutzung aber schon zur Verfolgung von Filesharing und anderer Bagatelldelikte offengelegt werden“, kritisierte Breyer. „Wo ein Trog ist, sammeln sich die Schweine.”
Innenministerin Faeser begrüßt das EuGH-Urteil
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßt dagegen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung. Der Gerichtshof habe sehr deutlich entschieden, „dass eine Pflicht zur Speicherung von IP-Adressen zur Verbrechensbekämpfung nicht nur ausdrücklich zulässig ist, sondern auch zwingend erforderlich ist“, so Faeser am Donnerstagnachmittag. „Der Gerichtshof hat genauso festgestellt, dass die IP-Adresse oft der einzige Ermittlungsansatz ist. An der Beschränkung auf Fälle schwerer Kriminalität wie der entsetzlichen sexualisierten Gewalt gegen Kinder hält der Europäische Gerichtshof nicht mehr fest.“ Dies seien wesentliche Neuerungen und Wegmarken, die das höchste EU-Gericht vorgibt, so die SPD-Politikerin.