Die Europäische Union will, auch mit Blick auf die Europawahl im Frühjahr 2019 und bis 2020 anstehende nationale Wahlen in den Mitgliedstaaten, intensiver gegen „gezielte Beeinflussung und Falschinformationen“ vorgehen. Zu diesem Zweck hat sie am 5. Dezember einen umfangreichen „Aktionsplan zum Kampf gegen Desinformation“ vorgelegt.
Er sieht unter anderem ein Frühwarnsystem vor sowie die enge Überwachung der Umsetzung eines von den Online-Plattformen im Herbst dieses Jahres unterzeichneten Verhaltenskodexes. Zugleich sollen die Mittel für die bereits aktive Task Force für strategische Kommunikation im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) von 1,9 Mio. Euro im Jahr 2018 auf 5 Mio. Euro im Jahr 2019 gesteigert werden und soll das Personal der East-StratCom-Einheit von 15 auf bis zu 55 Experten wachsen. Parallel dazu will man die EU-Delegationen in den Nachbarländern durch zusätzliches Fachpersonal und Instrumente zur Datenanalyse verstärken. Von den EU-Mitgliedstaaten wird darüber hinaus erwartet, dass sie ihre eigenen Mittel zur Bekämpfung von Desinformationen erhöhen. Federica Mogherini, „Hohe Vertreterin” der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in der ganzen Welt, begründete den Aktionsplan damit, „eine gesunde Demokratie“ basiere „auf einer offenen, freien und fairen öffentlichen Debatte. Es ist unsere Pflicht, diesen Raum zu schützen und niemandem zu erlauben, Desinformationen zu verbreiten, die Hass, Spaltung und Misstrauen gegenüber der Demokratie schüren“.
Was ist Desinformation?
Zu Beginn des 14-seitigen Papiers definiert Mogherini „Desinformation“ als „nach-weislich falsche oder irreführende Informationen, die mit dem Ziel des wirtschaftlichen Gewinns oder der vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit konzipiert, vorgelegt und verbreitet werden und öffentlichen Schaden anrichten können. Unter ‚öffentlichem Schaden‘ sind Bedrohungen für die demokratischen Prozesse sowie für öffentliche Güter wie die Gesundheit der Unionsbürgerinnen und -bürger, die Umwelt und die Sicherheit zu verstehen.“ Keine Desinformation in diesem Sinne seien allerdings „versehentliche Fehler bei der Berichterstattung, Satire und Parodien oder eindeutig gekennzeichnete parteiliche Nachrichten oder Kommentare“.
Hintergrund und Vorarbeiten
Der Aktionsplan richtet sich vorrangig gegen Russland, das nach Angaben des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Andrus Ansip, jährlich 1,1 Mrd. Euro für Einflussnahme und Desinformation ausgibt. Von russischen Quellen stammende und/oder verbreitete Desinformationen seien bei mehreren Wahlen und Referenden in der EU gemeldet, heißt es im Aktionsplan.
Der Aktionsplan gegen Desinformation baut auf einer Reihe von Statements und Arbeitsgruppen von EU-Organen auf. Dazu gehören
- die Mitteilung der Europäischen Kommission „Bekämpfung von Desinformation im Internet: ein europäisches Konzept“ vom 26. April 2018. Als Folgemaß-nahme verständigten sich zahlreiche Online-Plattformen und Software-Anbieter, darunter Facebook, Google, Youtube, Twitter, Mozilla, und die Werbebranche Ende September 2018 auf einen Verhaltenskodex über Desinformation/Code of Practice on Disinformation;
- die Mitteilung „Stärkung der Resilienz und Ausbau der Kapazitäten zur Abwehr hybrider Bedrohungen“ vom 13. Juni 2018, die nach dem Anschlag von Salisbury den Bedarf an „Strategischer [EU-]Kommunikation“ hervorhob;
- die Forderung der Europäischen Kommission nach Maßnahmen „zur Gewährleistung freier und fairer Europawahlen“ vom 12. September 2018;
- die Forderung des Europäischen Rates nach Maßnahmen „zum Schutz der demokratischen Systeme der Union und zur Bekämpfung von Desinformation, auch im Kontext der bevorstehenden Wahl zum Europäischen Parlament“ vom 18. Oktober 2018.
Das Thema Gefahr von Desinformationskampagnen im Internet würdigte der Europäische Rat der Darstellung des Aktionsplans zufolge erstmals im Jahr 2015. Zum September 2015 wurde dann die East StratCom Task Force/Strategisches Kommunikationsteam Ost eingerichtet, die die Länder der „Östlichen Partnerschaft“ der EU beobachten sollte, sowie innerhalb des Europäischen Auswärtigen Dienstes die Analyseeinheit für hybride Bedrohungen/EU Hybrid Fusion Cell. Außerdem unterstützt das 2017 gegründete Europäische Kompetenzzentrums für die Abwehr hybrider Bedrohungen in Finnland/European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats entsprechende Tätigkeiten der Union und der NATO in diesem Bereich. Mittlerweile hat der Europäische Auswärtige Dienst weitere Task Forces eingerichtet: die Task Force Westbalkan für die Regi-on des westlichen Balkans und die Task Force South für die Länder im Nahen Osten und in Nordafrika und die Golfregion.
Der Kampf gegen Desinformation, verkündet Federica Mogherini in ihrem Strategiepapier, „erfordert politische Entschlossenheit und ein geschlossenes Handeln unter Beteiligung aller staatlichen Bereiche (einschließlich der Bereiche zur Abwehr hybrider Bedrohungen, Cybersicherheit, Nachrichtendienste und strategische Kommunika-tion sowie der für Datenschutz, Wahlfragen, Strafverfolgung und Medien zuständigen Behörden). Dies sollte in enger Zusammenarbeit mit gleich gesinnten Partnern weltweit erfolgen.“
Säulen und Akteure des Aktionsplans
Der EU-Aktionsplan steht auf vier Säulen:
„1. Ausbau der Fähigkeiten der Organe der Union, Desinformation zu erkennen, zu untersuchen und zu enthüllen;
2. mehr koordinierte und gemeinsame Maßnahmen gegen Desinformation;
3. Mobilisierung des Privatsektors bei der Bekämpfung von Desinformation;
4. Sensibilisierung der Gesellschaft und Ausbau ihrer Widerstandsfähigkeit“
Säule 1 sieht vor, die Task Forces für strategische Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Dienstes, die Delegationen der Union und die EU-Analyseeinheit für hybride Bedrohungen zu stärken. Ihnen soll zusätzliches Fachpersonal, etwa Datamining- und Datenanalyse-Experten, zur Verfügung gestellt werden. Zudem will man Verträge mit „weiteren Medienbeobachtungsdiensten“ abschließen, „um ein breiteres Spektrum von Quellen und Sprachen abzudecken und zusätzliche Forschungsarbeiten und Studien über die Reichweite und die Auswirkungen von Desinformation durchzuführen“. Darüber hinaus müsse in spezielle Software investiert werden.
Kern von Säule 2 ist es, bis März 2019 ein „Frühwarnsystem zur Abwehr von Desinformationskampagnen“ zu etablieren, das eng mit den bestehenden Netzen, dem Europäischen Parlament sowie der NATO und dem Rapid Response Mechanism der G7 ( ein Abwehrsystem gegen gezielte Fehlinformationen) in Zusammenhang stehen soll. Zugleich will die EU „Kommunikationsbemühungen im Hinblick auf die Werte und Strategien der Union verstärken“ sowie „die strategische Kommunikation in der Nachbarschaft der Union ausbauen“.
Kontaktstellen in jedem Mitgliedstaat sollen Warnungen weiterleiten und sich mit allen anderen zuständigen nationalen Behörden sowie mit der Kommission, einschlägigen EU-Arbeitsgruppen und dem Europäischen Auswärtigen Dienst abstimmen und gegebenenfalls eng mit den nationalen Wahlkooperationsnetzwerken zusammenarbeiten. Auch Online-Plattformen sollen mit den dem Frühwarnsystem zugrunde liegenden Kontaktstellen kooperieren. Die Organe der Union und die Mitgliedstaaten müssten ihre Abwehr- und Kommunikationsfähigkeit wirksam verbessern. „… so spielen insbesondere die Vertretungen der Kommission und die Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in den Mitgliedstaaten bei der Vermittlung von für die Lokalbevölkerung aufbereiteten Inhalten und auch bei der Bereitstellung gezielter Instrumente zur Verbreitung von Fakten und zur Zerschlagung von Mythen eine Schlüsselrolle.“
Die unter Säule 4 subsumierten Maßnahmen zur „Sensibilisierung der Gesellschaft und Ausbau ihrer Widerstandsfähigkeit“ verfolgen das Ziel, „die Quellen von Desinformation und die dahinter stehenden Absichten, Instrumente und Ziele, aber auch unsere eigene Anfälligkeit für Desinformation besser zu verstehen. So könnte eine solide wissenschaftliche Methodik dabei helfen, die größten Schwachstellen in den Mitgliedstaaten zu ermitteln. Es ist wichtig zu verstehen, wie und warum Bürgerinnen und Bürger, manchmal ganze Gemeinschaften, von Desinformationsnarrativen angelockt werden, und eine umfassende Reaktion auf dieses Phänomen zu entwerfen.“
Gedacht ist hier an „spezielle Schulungen, öffentliche Konferenzen, Debatten und andere Formen des gemeinsamen Lernens für die Medien. Auch müssen alle Bereiche der Gesellschaft gestärkt und insbesondere die Medienkompetenz der Bürger dahin gehend verbessert werden, wie sie Desinformation erkennen und abwehren können.“ In diesem Zusammenhang verweist Fußnote Nr. 37 auf die Arbeit des „Überwachungsmechanismus für Medienpluralismus“, eines von der EU kofinanzierten und vom Zentrum für Medienpluralismus und -freiheit in Florenz/Centre for Media Pluralism and Media Freedom des European University Institute durchgeführten Projekts, das unter anderem die Medienvielfalt in der EU beobachten soll.
Die Mitgliedstaaten sollten, ist weiter zu lesen, „in Zusammenarbeit mit der Kommission den Aufbau von Teams aus multidisziplinären unabhängigen Faktenprüfern und Forschern fördern, die über spezifische Kenntnisse des jeweiligen lokalen Informationsumfelds verfügen, um Desinformationskampagnen in den verschiedenen sozialen Netzwerken und digitalen Medien zu erkennen und zu enthüllen“. Für die „unabhängigen nationalen multidisziplinären Teams“ der Faktenkontrolleure soll im Rahmen der „Connecting Europe Facility“ eine nationenübergreifende digitale Plattform bereit-gestellt werden. Der Aktionsplan verweist in diesem Kontext auch auf das Mitte 2018 vorgeschlagene Programm „Horizont Europa“, welches Mittel für die Entwicklung neuer Instrumente vorschlagen soll, um Desinformation im Internet besser zu verstehen und zu bekämpfen. Im Rahmen der im März 2019 stattfindenden Medienkompetenz-Woche der EU werde die Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten „die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Fachleuten im Bereich der Medienkompetenz sowie die Einführung praktischer Instrumente zur Förderung der Medienkompe-tenz der Öffentlichkeit fördern“. Die Mitgliedstaaten sollten ferner einschlägige Bestimmungen der „Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste“ rasch umsetzen.
Desinformation: nicht immer leicht zu erkennen
Unterm Strich etabliert der Aktionsplan ein dichtes, eventuell auch schwer überschaubares Netz von Desinformations-Enthüllungs-Richtlinien und -Stellen, die EU-weit systematisch koordiniert werden sollen. Zu Beginn war das System offenbar eher als Abwehr von staatlichen Falschmeldungen gedacht. Mittlerweile bezieht es eine halbe Milliarde EU-Bürger als Zielobjekte von Medienpädagogik und Politik mit ein. Die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung der „Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft gegen die von Desinformation ausgehende Bedrohung“ unterstellen jedenfalls klar, dass nicht nur minderjährige, sondern auch alle/eine Menge der (?) erwachsenen EU-Bürger von „Desinformationsnarrativen“ verwirrt werden könnten und „Medienkompetenz“ dringend benötigen.
Hier geraten vor allem die Medien und die „unabhängigen Faktenfinder“ in eine schwierige Rolle. Sollte die Europäische Kommission, wie angekündigt, „auch künftig unabhängige Medien und investigativen Journalismus unterstützen“ und „weiterhin Programme durchführen, die auf die Unterstützung von Medien (auch in finanzieller Hinsicht) in der Nachbarschaft der Union und deren Professionalisierung ausgerichtet sind“, stellt das die „Unabhängigkeit“ besagter Medien durchaus in Frage.
Gleichzeitig schreibt ein Modell, in dem viele „unabhängige Faktenprüfer und Forscher“ „Bedrohungen durch Desinformation“ „ermitteln und enthüllen“, den Journalisten und Forschern, die Falschinformationen auf den Fersen sind, eine umfassende, kaum vorstellbare Kompetenz zur Wahrheitsfindung zu – selbst wenn man das Modell nicht, wie Kommentatoren in einigen Online-Medien, als dezente Vorstufe zu einem „Wahrheitsministerium“ begreift.
Problem: Wahrheit, Lügen und „parteiliche Nachrichten oder Kommentare“/Meinungen, Wertungen sind im wahren Leben keine trennscharfen Bereiche. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Begriff „Desinformation“ künftig überstrapaziert werden und auch dazu dienen könnte, missliebige Kritik in eine Schmuddelecke zu stellen. Welche Aussagen zum umstrittenen UN-Migrationspakt zum Beispiel sind eindeutig als unbestreitbare Information, als Desinformation oder als erlaubte subjektive Meinungsäußerung zu werten? Schon diese Frage müsste seriösen Faktenfindern den Schweiß auf die Stirn treiben.
Dessen ungeachtet erklärte Außenminister Heiko Maas soeben dem SPIEGEL (08.12.): Die Entscheidung, dem Pakt nicht zuzustimmen, sei zwar das souveräne Recht jedes Landes. „Dennoch bedauern wir das sehr. Jede Ablehnung des Migrationspaktes ist Wasser auf die Mühlen derer, die böswillige Desinformationskampagnen gegen den Pakt fahren.“ Das läuft auf ein Verbot auch sachlicher Kritik an dem Pakt hinaus, denn wer will schon böswillige Desinformationskampagnen fördern.
Elke Halefeldt