Abstruser geht es kaum noch: Deutschland verfehlt die Reformvorgaben zur Auszahlung von 25 Milliarden Euro nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Die EU-Kommission hat nun, wie das Handelsblatt berichtet, die Bundesregierung zum Nachsitzen verdonnert. In der vergangenen Woche haben Spitzenbeamte mit Berlin so gesprochen wie ein Lehrer, der seinen Klassenprimus ermahnt, gefälligst seine Rolle als Vorbild gegenüber den Lümmeln in der letzten Bank wahrzunehmen: „Deutschland ist der Reform-Benchmark für alle anderen Länder. Das ist Ihnen doch hoffentlich klar“, sollen EU-Vertreter deutschen Spitzenbeamten gesagt haben. In Berlin sitzt man angeblich schon an „einem Plan, um die Kommission zu besänftigen“.
Das Handelsblatt nennt die Affäre „Deutschlands Eigentor“. Denn nicht zuletzt die Bundesregierung hatte im Mai 2020 in der Europäischen Union „Reformen“ zur Bedingung für die Einrichtung des so genannten Wiederaufbaufonds gemacht. Der wäre ohne Deutschlands Wirtschaftskraft und vor allem ohne die Zahlungsbereitschaft seiner Regierung in diesem Umfang nicht vorstellbar. Auch wenn die 25 Milliarden doch noch nach Berlin fließen sollten, wird Deutschland nach angaben der Bundesregierung rund 50 Milliarden Euro mehr in den Wiederaufbaufonds einzahlen, als es aus dem Topf erhält.
Was der Bundesregierung nun widerfährt, ist die Offenbarung von mindestens zwei geplatzten Illusionen: Die harmloseste dürfte noch die Illusion sein, Deutschland sei nach eineinhalb Jahrzehnten Merkel noch ein Musterknabe des Reformeifers im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit. Daran glauben vermutlich nicht einmal mehr die Redenschreiber von Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Und darum wundert es auch nicht, dass deutsche Ökonomen den Befund der EU-Kommission sachlich bestätigen. Deutschland sei tatsächlich „kein Reformvorbild“, zitiert das Handelsblatt Ifo-Chef Clemens Fuest.
Allerdings ist eine andere Illusion wohl noch viel grundlegender: Nämlich der jahrzehntealte Glaube deutscher Politik, durch Freigebigkeit in Brüssel nicht nur die Angleichung der ökonomischen Verhältnisse in Europa, sondern auch eine Art universalpolitische Generalabsolution für Deutschland zu erreichen. Die EU-Kommission hat mit ihrer Rüge mal wieder überdeutlich gemacht, dass es die nicht gibt. Im Gegenteil: Man weiß in der Kommission, dass sich kein anderes Mitgliedsland so bequem rügen lässt wie Deutschland.
Ein scharfe Abfuhr aus Berlin für pedantische EU-Bürokraten? Undenkbar!
So lässt sich also Deutschland aus Brüssel vorhalten: „Umfassende Maßnahmen zur Verbesserung des Rentensystems stehen weiter aus“, während deutsche Arbeitnehmer im Schnitt länger arbeiten und weniger Rente erhalten als etwa italienische oder griechische.