Tichys Einblick
Chat-Kontrolle

Um einen Tag verschoben: EU-Rat will Briefgeheimnis abschaffen

Die EU-Mitgliedsstaaten wollen das moderne Briefgeheimnis abschaffen. Im EU-Rat soll die Polizei künftig private Chatverläufe verfolgen können und derartige briefliche Kommunikation überwachen dürfen. Experten warnen, Signal und WhatsApp könnten die EU verlassen.

picture alliance / NurPhoto | Jaap Arriens

Die EU der Bürgerrechte – hat man diese Wortkombination schon einmal gehört? Aber die EU der Regierungen, die gibt es wohl. Die Wahlen in Belgien fanden parallel zu den EU-Wahlen am 9. Juni statt und endeten mit einem Triumph für die flämischen Rechtskonservativen (N-VA) und den Vlaams Belang. Der liberale Premierminister Alexander De Croo erklärte umgehend seinen Rücktritt, bleibt aber geschäftsführend im Amt. Seine Mitte-links-Koalition wird es nach den erlittenen Verlusten wohl nicht noch einmal geben.

Doch nun könnte das Land einen letzten Coup in EU-Brüssel landen. Noch bis zum 1. Juli hat die belgische Regierung den halbjährlich wechselnden Vorsitz im EU-Rat inne. Seit Anfang des Jahres bemüht sich die Regierung De Croo darum, eine allgemeine Chatkontrolle in der EU durchzusetzen, speziell bei Ende-zu-Ende-verschlüsselten Diensten wie WhatsApp oder Signal. EU-Gremien planten diesen Vorstoß seit längerem. Bisher gab es im Rat ein oder zwei Vetos zuviel. Doch nun ließ sich Frankreich aus der Sperrminorität herausbrechen. Und so könnte der belgische Vorschlag schon am Mittwoch im Rat verabschiedet werden.

Die Verordnung enthält laut Titel „Regeln zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch“. Es geht angeblich um Bildmaterial, das Kindesmissbrauch festhält (child sexual abuse material, CSAM), daneben sollen auch versendete Internetlinks automatisch gescannt werden. Letztlich geht es um den Zugriff auf die Online-Kommunikation der Bürger. Die an sich löbliche Bekämpfung der Kinderpornographie ist der Riesenhammer, mit dem der kleine Nagel Datenschutz und das Recht auf Privatheit für alle Bürger im Boden versenkt werden soll.

Ein Zuwachs an Sicherheit ist nicht zu erwarten

„Schick mir mal eine Whatsapp“, hört man (noch) allenthalben. Viele Bürger nutzen die Chat-Apps alltäglich, fast selbstverständlich, versenden natürlich auch einmal ein Bild, ein Meme, einen Internetlink. EU-weit sind drei Viertel der 16- bis 74-Jährigen bei einer der diversen Apps wie Skype, Telegram, Threema usw. registriert. In Deutschland nutzen allein 60 Millionen den Chatdienst WhatsApp, der seit einiger Zeit zum Facebook-Konzern Meta gehört. Seit das so ist, suchen viele nach Alternativen, weil Facebook als Datensauger mit teils dubiosen Nutzungsbedingungen gilt. Nun will die EU es dem Big-Tech-Konzern gleichtun und Einblick in die private Kommunikation der Bürger nehmen, sie im Falle des Falles blockieren oder strafrechtlich verfolgen. Der Staatenblock bemächtigt sich der technischen Dienste und wird zum Nachahmer der großen Tech-Konzerne, die er eigentlich im Sinne der Freiheit seiner Bürger einhegen sollte.

Kommt die EU-Verordnung, dann werden App-Nutzer wohl irgendwann eines dieser Fenster sehen. Darin werden sie gefragt, ob sie der Überprüfung ihrer versendeten Bilder, Photos und Videos durch künstliche Intelligenz (KI) zustimmen oder nicht. Falls nicht, werden sie den Dienst nicht mehr nutzen oder zumindest keine Bilder usw. damit versenden können. Wahrscheinlich ist aber, dass viele den neuen Nutzungsbedingungen fast unbesehen zustimmen werden – und so würde die EU der umfassenden Kontrolle ihrer Bürger wieder etwas näherrücken.

Jene, die etwas zu verbergen haben, werden den neuen Bedingungen schlicht nicht zustimmen und dunklere Kanäle benutzen, so wie sie es heute schon tun. Einen Zuwachs an Sicherheit für kleine Kinder, die dem sexuellen Missbrauch zum Opfer fallen und deren Bilder dann verbreitet werden, gäbe es also nicht. Letztlich läuft die EU-Verordnung darauf hinaus, die Bürger eine Massenüberwachung auszusetzen und damit möglicher Strafverfolgung auch dort, wo kein Kläger ist. Etwa, wo Teenager sich anzügliche Bilder zusenden. Und auch die KI kann sich natürlich irren und harmlose Inhalte als möglicherweise gefährlich einstufen.

Rechtsdienst des Rats: Willkürliche Kontrolle verletzt Grundrechte

Anfangs war sogar die Überprüfung der Chat-Nachrichten und von aufgenommen Sprachnachrichten auf Schlüsselworte angedacht. Das sind Einzelregelungen, die laut dem ehemaligen EU-Abgeordneten Patrick Breyer (Piraten) fürs erste zurückgezogen wurden. Daneben hat Frankreich sich eine Ausnahmeregelung für Sicherheitsbehörden und Militärs erbeten, die dann auch weiterhin Bilder und Videos versenden können, ohne dass diese einem wie auch immer gearteten Scanning unterworfen werden.

Der Rechtsdienst der Rats hat noch am 24. Mai festgestellt, dass eine „willkürliche Chatkontrolle“ bei Personen, die keiner Straftat verdächtig sind, weiterhin auf der Agenda der EU steht und natürlich eine Verletzung von Grundrechten darstellt (in Deutschland Artikel 13 des Grundgesetzes).

Kommt die Verordnung, dann können auch die privaten Chat-Anbieter eines ihrer wichtigsten Versprechen nicht mehr halten. Die Präsidentin von Signal, Meredith Whittaker, schreibt in einer aktuellen Pressemitteilung, dass „Upload-Moderation“ nur ein neues Wort für Massenchatkontrolle sei: „Es gibt keine Möglichkeit, solche Vorschläge im Zusammenhang mit Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation umzusetzen, ohne die Verschlüsselung grundlegend zu untergraben und eine gefährliche Schwachstelle in einer Kerninfrastruktur zu schaffen, die weltweite Auswirkungen weit über Europa hinaus haben würde.“

Die Behauptung, dass ein Inhalt noch „vor“ seiner Verschlüsselung überprüft werde, widerspricht dem Ende-zu-Ende-Prinzip, mit dem WhatsApp und Signal für sich werben. Signal hatte die Open-Source-Technologie einst entwickelt, WhatsApp übernahm sie, Mark Zuckerberg hat sie bisher nicht angetastet. Verschlüsselung und „Upload-Moderation“ gehen laut Whittaker nicht zusammen – das sei eine „mathematische Realität“, über die auch neue Worte nicht hinwegtäuschen könnten. Es gehe beim EU-Vorschlag zur Chatkontrolle mittels „Massenscanning“ um „dieselbe alte Überwachung mit neuem Etikett“.

Klar ist: Wenn die Chat-Dienste aufgrund der Überwachung von Bild-Inhalten und Internet-Adressen, die wohl ihnen obläge, etwas über „illegale Aktivitäten“ erfahren würde, müssten sie gemäß dem Digitale-Dienste-Gesetz (DDG, auch DSA) der EU nicht nur staatliche oder überstaatliche Stellen umgehend davon informieren, sondern auch „zügig handeln, um diese Inhalte zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren“. Aus der KI-gestützten Aufspürung eines vermeintlich illegalen Inhalts würde also auch seine Löschung resultieren.

Whittaker: Eher verlassen wir den EU-Markt

Schon im Mai hatte Whittaker angekündigt, den EU-Markt eher zu verlassen, als sich auf eine Unterminierung der Verschlüsselungstechnologie einzulassen. Nun ist Signal mit weltweit 40 Millionen Nutzern eher ein Nischen-Anbieter geblieben.

Neben der Signal-Chefin protestieren auch die Gesellschaft für Freiheitsrechte die Organisation European Digital Rights (unter dem Titel „Be scanned – or get banned!“) und das Center for Democracy & Technology (CDT) Europe scharf gegen den Verordnungsentwurf der belgischen Ratspräsidentschaft.

Kürzlich drohte aber sogar der Branchenriese WhatsApp laut den Fachmagazinen Rest of World und Inside Digital mit seinem Rückzug aus Indien innerhalb von 60 Tagen. Zuvor hatte die Regierung eine Regelung erlassen, wonach bedeutende Dienste (jene mit mehr als fünf Millionen Nutzern) den ersten Urheber einer Information offenlegen müssen. Mit einer halbe Milliarde Nutzern in Indien gehört WhatsApp in diese Kategorie, ähnlich wie es gemäß dem Digital Services Act (DSA) der EU eine „sehr große Plattform“ ist und daher dem Zensurgesetz der EU unterliegt. Aufgrund der Bedeutung von WhatsApp für die indische Wirtschaft wird ein Kompromiss erwartet.

In der EU waren bisher Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, Österreich und Polen gegen die Pläne. Nun gelang es offenbar den Belgiern, Frankreich durch das Zugeständnis für Sicherheitsdienste und Militär einzufangen. Die Sperrminorität im Rat könnte daher an diesem Mittwoch kippen. Erschreckend ist, dass die Verhältnisse im EU-Rat überhaupt so knapp werden konnten, dass eine Mehrheit greifbar ist. Noch nicht festgelegt haben sich Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Portugal, Schweden, Slowenien und die Tschechische Republik.

Das EU-Parlament in Straßburg-Brüssel hatte sich im November für eine Beibehaltung der Chat-Verschlüsselung ausgesprochen. Kommt der Beschluss des Rates am Mittwoch zustande, dann könnte vielleicht wirklich einmal die Stunde dieses Parlaments schlagen: Es müsste dann alles dafür tun, um die Chatkontrolle im sogenannten „Trilog“ der drei EU-Institutionen zu verhindern.

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