Tichys Einblick
Aber was heißt das?

Die EU droht Russland bei einem Angriff auf die Ukraine mit „Vergeltung“

Der EU-Gipfel mag sich soeben in Brüssel in Sachen Ukraine in vielem einig gewesen sein. Aber einmal mehr zeigt sich, dass die EU eben keine Großmacht ist. Ohne die USA und ohne Großbritannien „geht“ nichts.

Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz während einer gemeinsamen Pressekonferenz nach dem EU-Gipfel in Brüssel, 17.12.2021

IMAGO / SNA

Der jüngste EU-Gipfel vom 16. Dezember in Brüssel stand überwiegend im Zeichen des neu entbrannten Ukraine-Konflikts. Wie brandgefährlich die Lage ist und wie sehr die Lage nicht nur die EU-Mitglieder bedrängt, zeigt die Tatsache, dass es vor dem EU-Gipfel ein Dreiertreffen zwischen Bundeskanzler Scholz, Frankreichs Präsident Macron und dem ukrainischen Staatschef Selenskyj gab und die Staats- und Regierungschefs der EU am Tag vor dem eigentlichen Gipfel zu Beratungen mit der Ukraine sowie vier weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau) zusammengekommen waren. Zwischen Frankreich und Deutschland wird über eine Neuaufnahme des Normandie-Formats verhandelt. Damit sind die 2014 begonnenen, halboffiziellen Verhandlungen des Normandie-Quartetts Frankreich, Deutschland, Russland, Ukraine gemeint.

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Was ist jetzt beim EU-Gipfel vom 16. Dezember 2021 herausgekommen? Die EU droht Russland für den Fall eines Angriffs auf die Ukraine mit „Vergeltung“, mit „massiven Konsequenzen und hohen Kosten“ – ziemlich martialisch und entschlossen. Bundeskanzler Scholz meinte in seiner ersten Regierungserklärung vom 15. Dezember wörtlich: „Jede Verletzung territorialer Integrität wird ihren Preis, einen hohen Preis haben.“ EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen drohte Russland im Europaparlament mit „nie da gewesenen Maßnahmen“. Bewusst offen ließ man seitens des EU-Gipfels freilich, um welche Sanktionen es sich handeln könnte. Im Gespräch sind Sanktionen gegen Staatsunternehmen und Oligarchen in Putins Umfeld, ein Betriebsverbot für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 sowie ein Ausschluss Russlands aus dem Zahlungsverkehrssystem Swift als Option. Wird sich Putin davon beeindrucken lassen? Wohl kaum.

Denn eines weiß Putin auch – da mögen die USA und einige EU-Mitglieder mit dem Gedanken liebäugeln, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland doch noch zu blockieren, falls Russland in die Ukraine einmarschiere –, Putin weiß, dass die Gaslager in Deutschland im Moment nur zu 60 Prozent gefüllt sind. Und der Winter hat noch nicht begonnen; die weitere für den 1.1.2022 vorgesehene Abschaltung von drei Atomkraftwerken hat auch noch nicht stattgefunden.

Blicken wir zurück

Im Februar/März 2014 hatte Russland die Krim annektiert und damit die im Mai 1954 von Chruschtschow an die Ukraine verschenkte Krim „zurückgeholt“. Gleichzeitig begannen prorussische Kräfte, für die Abspaltung der zwei durch sie proklamierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine zu kämpfen. Laut UNO-Angaben fanden bei dem bis heute andauernden Konflikt bereits etwa 13.000 Menschen den Tod.

Seit März 2014 hat die EU in Abstimmung mit den USA schrittweise restriktive Maßnahmen gegen Russland verhängt. Zum Beispiel ein Einfrieren von Vermögenswerten und Reisebeschränkungen (betroffen: 185 Personen und 48 Einrichtungen), Beschränkungen der Wirtschaftsbeziehungen zur Krim und zu Sewastopol, Beschränkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. 2014 wurde der EU-Russland-Gipfel abgesagt. Die bilateralen Gespräche mit Russland über Visaangelegenheiten und über das neue Abkommen zwischen der EU und Russland wurden ausgesetzt. Im Juli und September 2014 verhängte die EU Wirtschaftssanktionen, die den Handelsaustausch mit Russland in bestimmten Wirtschaftszweigen betreffen.

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Im März 2015 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, die Aufhebung der geltenden Sanktionsregelung von der vollständigen Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk I und II (vom September 2014 und Februar 2015) abhängig zu machen, die bis Ende Dezember 2015 erfolgen sollte. Da dies nicht geschah, verlängerte der Rat die Wirtschaftssanktionen bis zum 31. Juli 2016. Die Wirtschaftssanktionen wurden seit dem 1. Juli 2016 jeweils um 6 Monate verlängert. Mit diesen Maßnahmen wurde bereits für bestimmte russische Banken und Unternehmen der Zugang zu den Primär- und Sekundärkapitalmärkten der EU eingeschränkt; Russlands Zugang zu bestimmten sensiblen Technologien und Dienstleistungen, die für die Erdölförderung genutzt werden können, eingeschränkt. Ferner gab es ab Juli 2014 Beschränkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Unter anderem wurde die Europäische Investitionsbank (EIB) als Bank der EU ersucht, die Unterzeichnung neuer Finanzierungsmaßnahmen in der Russischen Föderation auszusetzen.

All diese Maßnahmen wurden ab März 2014 exekutiert. Am 21. Juni 2021 hat der EU-Rat diese Maßnahmen bis zum 23. Juni 2022 verlängert. Und nun? Der EU-Gipfel will sich nicht in die Karten schauen lassen und die zeitliche Staffelung von Sanktionen nicht preisgeben. Aber ist das trickreich, oder ist es ein Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit? Vor allem aber will die EU Sanktionen erst für den Fall ergreifen, dass Russland die Ukraine angreift. Aber soll es erst so weit kommen? Und vor allem: Haben all die bisherigen Sanktionen Putin beeindruckt? Nein! Was also will Putin, was fürchtet er?

Putin will vor allem eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU oder gar an die NATO verhindern. Es ist nach wie vor der Phantomschmerz, der die russische Seele peinigt. Phantomschmerz meint: Russland hat mit dem Zerbrechen der Sowjetunion mit Ausnahme von Weißrussland so ziemlich alle westlich von Russland gelegenen Vasallenstaaten verloren. Von Estland bis Ungarn: Alle diese Staaten sind im Zuge der sogenannten Osterweiterung in der EU und in der NATO gelandet. Einen Verlust der Ukraine in Richtung EU oder NATO will Putin mit allen Mitteln verhindern. Deshalb sind ihm auch das im Jahr 2007 initiierte und am 1. September 2017 in Kraft getretene, vor allem wirtschaftlich orientierte Assoziierungsabkommen zwischen EU und der Ukraine sowie die offizielle Verleihung des Status der Ukraine als NATO-Beitrittskandidat vom März 2018 ein Dorn im Auge

Wird es Krieg geben?

Nun, Russland ist militärisch viel stärker als die Ukraine. Deshalb geht in Kiew die Angst vor einem Krieg um. Kiews Oberbürgermeister, der in Deutschland gut bekannte Ex-Boxer Vitali Klitschko, mobilisiert derzeit Reservisten für den Zivilschutz. Ein russischer Angriff wäre jedenfalls riskant. Ein Vormarsch könnte sich in die Länge ziehen und dem Westen die Möglichkeit zu einer Reaktion in Form von harschen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine geben. Die ukrainische Armee gilt ansonsten nach einer Reihe von Reformen nicht mehr als so veraltet wie 2014. Freilich lässt sich Putin auch von der Perspektive der Schaffung einer Landverbindung zur Halbinsel Krim verlocken. Diese Verbindung gibt es derzeit von Russland her nur per Schiff, Flugzeug und über eine neu gebaute Brücke. Ein ukrainischer Landstreifen von 300 Kilometern Breite trennt die Krim nämlich vom russisch kontrollierten Teil des Donbass.

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 Die Lage in und um die Ukraine herum hat sich jedenfalls dramatisch verschärft. Ab Oktober 2021 stationierte Russland (geschätzt) zwischen 90.000 und 120.000 Soldaten in der Nähe der ostukrainischen Grenze. Darunter Teile der 41. Armee, die bereits im Frühjahr 2021 im Zuge des Großmanövers „Sapad“ (Westen) aus Sibirien abgezogen worden waren. Westliche Dienste halten sogar eine rasche Aufstockung auf 175.000 Mann für möglich. Satellitenaufnahmen zeigen die Verlegung von Panzern, Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Iskander-Kurzstreckenraketen per Eisenbahn in die südwestrussischen Regionen um Woronesch, Brjansk und Kursk. Dort entstanden quasi auf der grünen Wiese riesige Militärlager. Auch die russische Kriegsmarine beteiligt sich. Die Schwarzmeerflotte hielt im Oktober 2021 eine „Invasionsübung“ an der Küste der Krim ab.

Begleitet wurden die Stationierungen von einer martialischen Rhetorik aus Moskau. Putin hatte den Ukrainern im Sommer 2021 in einem Aufsatz die Berechtigung abgesprochen, sich als eigenständige Nation zu betrachten. Als unerträglich bezeichnet Moskau nicht mehr nur einen Beitritt der Ukraine zur NATO, sondern auch die amerikanische Militärhilfe für das Land und die Militärübungen der westlichen Allianz in der Schwarzmeerregion. Zudem hat Russland am 13. Dezember 2021 damit gedroht, nukleare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Der stellvertretende russische Außenminister Sergei Rjabkow erklärte, Russland werde zum Handeln gezwungen sein, wenn der Westen es ablehne, sich dem Moratorium für nukleare Mittelstreckensysteme (INF) in Europa anzuschließen.

Währenddessen haben die USA seit 2014 rund 2,5 Milliarden Dollar in die ukrainische Verteidigung investiert. Biden hat gar angekündigt, der Ukraine zusätzliche Waffen (Panzer- und Flugabwehrraketen sowie Helikopter) zu liefern, sollte Russland eine militärische Eskalation suchen. Im Rahmen von bereits früher beschlossenen Maßnahmen trafen kürzlich 80 Tonnen US-Munition und zwei Küstenwachtschiffe in der Ukraine ein. Die beiden Patrouillenboote sollen die ukrainische Marine verstärken. Falls Russland in die Ukraine einmarschieren sollte, würden die USA auch die osteuropäischen Länder aufrüsten und zusätzliche Truppen entsenden. Schon bisher nehmen regelmäßig US-Verbände an Übungen in Polen und im Baltikum teil; die Truppen rotieren, damit sie nicht als dauerhaft stationiert gelten.

Ist Putin berechenbar?

Putin ist selten berechenbar. Man nehme etwa die Kriege, die er vom Zaun gebrochen hat: gegen Georgien 2008, die Besetzung der Krim 2014 und die Militärintervention in Syrien ab 2015. Putin will ernstgenommen werden – und zwar als Lenker einer Großmacht. So gesehen hat er am 7. Dezember 2021 erhalten, was er wollte, nämlich ein Zwei-Stunden-Gespräch auf Augenhöhe mit US-Präsident Biden. Es ist wohl auch zu einer vorsichtigen Annäherung in den amerikanisch-russischen Beziehungen kommen. Der Video-Gipfel zwischen Joe Biden und Wladimir Putin brachte der Ukraine immerhin eine Verschnaufpause. Für den Moment haben sich die Falken nicht durchgesetzt. Washington will Moskau in der Auseinandersetzung mit China jedenfalls nicht als Feind haben. Biden hat allerdings auch klargemacht, dass es keine Beschränkung für NATO-Truppen geben könne, wo diese sich aufhalten können.

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Allerdings hatte die US-Seite im Vorfeld des Gipfels angeregt, die Ukraine möge die von den USA gelieferten Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin aktivieren. Die Russen sehen diese Waffensysteme als echte Bedrohung. Putin verlangte, dass die NATO schriftlich festhält, dass sie die Ukraine nicht aufnehmen wird. Das lehnte Biden strikt ab. Joe Bidens Nachricht an Putin war aber wohl auch, dass die USA die Ukraine im Ernstfall nicht mit eigenen Soldaten verteidigen würden.

Aber Putin wäre nicht Putin, wenn er nicht die eine oder andere gezinkte Karte aus dem Ärmel zauberte. So hat er gerade eben mit dem britischen Premier Boris Johnson telefoniert. Damit treibt Putin zwar keinen Keil in die EU, weil Großbritannien bekanntermaßen aus der EU ausgetreten ist. Aber die Briten sind neben den Franzosen doch die mächtigsten europäischen NATO-Mitglieder.

Einen Keil könnte Putin zudem in die NATO treiben, wenn er auf das Angebot des türkischen Staatspräsidenten Erdogan einginge. Erdogan hat sich jüngst als Vermittler im Ukraine-Konflikt angeboten. Immerhin unterhält das NATO-Mitglied Türkei sowohl zu Kiew wie auch zu Moskau gute Beziehungen. Die Ukraine ist für die Türkei ein wichtiger Wirtschaftspartner – gerade auch bei Rüstungsgeschäften. Siehe etwa die Kampf- und Aufklärungsdrohnen vom Typ Bayraktar TB2, die die Türkei der Ukraine geliefert hat. Andererseits importiert die Türkei Erdgas aus Russland. Hinzu kommt, dass die Türkei Kriegsgerät aus Russland erhält, zum Beispiel das russische Raketenabwehrsystem S-400. Auch dies nicht gerade zur Freude der anderen NATO-Länder.

Und die EU?

Der EU-Gipfel mag sich soeben in Brüssel in Sachen Ukraine in vielem einig gewesen sein. Aber einmal mehr zeigt sich, dass die EU eben keine Großmacht ist. Ohne die USA und ohne Großbritannien „geht“ nichts. Deshalb werden die Staatschefs der EU an engen Konsultationen mit den USA und mit Großbritannien nicht vorbeikommen. Gerade allen Putin’schen Spaltungsversuchen zum Trotz!

Und zweitens: Putin will ernstgenommen werden. Dass der NATO-Russland-Rat vor sich hindümpelt, dass aus der G8-Gruppe mit dem Hinauskomplimentieren Russlands 2014 eine G7-Gruppe wurde, rächt sich jetzt. Denn eines ist private und internationale Erfahrung: Solange man miteinander redet, schweigen die Waffen.

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