Während die meisten Politiker in den letzten Wochen vor den anstehenden EU-Wahlen möglichst keine Ausrutscher hinlegen möchten, und wieder andere Politiker mit voller Fahrt auf den erstbesten Eisberg zusteuern, wittern die amtierenden EU-Bürokraten ihre letzte Chance, unerfüllte Steckenpferde doch noch umzusetzen. Eines dieser Steckenpferde ist die Chatkontrolle, die in den letzten Monaten bereits mehrere Abfuhren erhielt, die aber nun mittels eines neuerlichen Etikettenschwindels durchgesetzt werden soll.
Denn ein neuer Vorstoß von Belgiens Innenministerin soll dafür sorgen, dass die Chatkontrolle mittels „freiwilliger“ Zustimmung der Nutzer doch noch Einzug halten soll. Konkret sollen dabei Nutzer von Chat- und Messenger-Apps entweder einer Popup-Nachricht oder den Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Zustimmung erteilen, dass alle verschickten Bilder und Videos automatisch und verdachtslos per Algorithmus gescannt und im Verdachtsfall an die EU und Polizei weitergeleitet werden.
Warum sollten Nutzer dem zustimmen? Ganz einfach: Wer nicht zustimmt, kann zwar weiter den schriftlichen Chat nutzen, aber keine Bilder und Videos mehr versenden. Angesichts moderner Kommunikationsgepflogenheiten stellt dies viele Nutzer vor eine elementare Frage der Mediennutzung, die allerdings mit den üblichen Versprechungen („Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“) versüßt wird. Zusätzlichen Anreiz bietet die Mogelpackung mit dem Verzicht einer Durchsuchung von Textnachrichten auf das sogenannte „Grooming“ (die Anbahnung unangemessener sexueller Kontakte mit Minderjährigen) bzw. auf das Scannen von Audionachrichten.
Die EU hat Kreide gefressen
Wie so oft lautet auch hier die Devise, erst einmal einen Fuß in die Tür zu bekommen. Ist der Spalt der Überwachung erstmal gesichert, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis dieser immer größer wird. Das Diktum des ehemaligen Kommissionspräsidenten und Rückenpatienten Jean-Claude Juncker hat kein bisschen an Aktualität eingebüßt: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Widerstand gegen diesen Vorstoß des Wolfes, der nun Kreide gefressen und die Pfoten geweißt hat, leistet wieder einmal Patrick Breyer von der Piratenpartei. „Der neueste Vorstoß zur Chatkontrolle erinnert an die Fernsehshow ‚Lass dich überwachen‘. Messengerdienste rein textbasiert zu nutzen, ist im 21. Jahrhundert keine ernsthafte Option. Und Auswüchse der Chatkontrolle zu streichen, die ohnehin in der Praxis keine Rolle spielen, ist eine Mogelpackung.“
Besorgniserregend ist, dass selbst kritische EU-Regierungen dem neuesten Vorschlag etwas abgewinnen konnten und die Sperrminorität somit auf den letzten Metern der Legislaturperiode doch noch kippen könnte. Sollte der neueste Vorschlag nicht auf nennenswerten Widerstand stoßen, könnte die Chatkontrolle von den Innenministerin bereits wenige Tage nach der EU-Wahl beschlossen werden.