Die Stimmen, die gestern im heute journal zu Wort kamen, sagen der Kanzlerin ganz klar: Schluss mit dem Brechen der Regeln in der EU, weil der permanente Regelbruch das europäische Projekt nicht rettet, sondern zerstört. Das Brüsseler Poker konnte nicht gemeint sein, denn dort schaut man kein deutsches TV. An wen also richtet sich die Forderung nach EU-Kurskorrektur? An wen richtet sich eine lange Nachrichtensendung im offiziösen Bundessender, welche die Aussage, dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert, in jene umkehrt, wonach sich eine EU selbst zerstört, die sich nicht an ihre Regeln hält?
Politikwissenschaftler Münkler konstatiert eine „Überdehnung“ der EU und einen Wendepunkt, das Projekt Europa sieht er in einer Krise, wenn nicht an seinem Ende. Historiker Winkler beobachtet in fast allen EU-Staaten Prozesse der Re-Nationalisierung, der Abschottung und Mobilisierung von Vorurteilen. Altbundespräsident Herzog hält eine weitere Stufe der EU-Integration frühestens in zehn Jahren für möglich.
Der Mainzer Historiker Rödder erklärt die europäische Integration gerade mit der Währungsunion für ideologisiert, überfrachtet und moralisch überdehnt, die Doktrin von der immer engeren Union für schuld an unseren Problemen: Wer eine Einbahnstraße befahre, dürfe sich nicht wundern, an eine Wand zu stoßen. Die Krise sei die Chance, einen Schritt zurückzutreten, zu überlegen, was funktioniert in der EU und was nicht. Wenn man einen falschen Weg eingeschlagen hat, sagte er, hilft es nicht, das Tempo zu erhöhen. Die Währungsunion habe sich als Fehlkonstruktion herausgestellt, die so korrigiert werden müsse, dass sich nicht alle gegenseitig moralische Vorwürfe machten. Es lohnt, ihm zuzuhören – nicht nur, weil er sagt, was hier schon zu lesen war.
Der abschließende Kommentar von Vize-Chefredateur Theveßen fordert in seltener TV-Klarheit von der Kanzlerin, zur Einhaltung der Regeln in der EU zurückzukehren. Merkel müsse Verantwortung zeigen und das bedeute: Grexit, wenn Athen die geforderten Reformen nicht zum Gesetz macht und verwirklicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine so unmissverständliche Botschaft gegen das Interesse der derart aufgeforderten Regierungschefin im ZDF erklungen sein soll.
Im Bundestag werden die Abgeordneten aller Parteien wieder einmal unter dem Druck stehen, nach Fraktionsdisziplin abzustimmen – gleichzeitig aber unter dem wachsenden Verlangen aus ihren Wahlkreisen, eine andere Politik in Brüssel zu machen. Soll die massive Botschaft im heute journal Luft aus diesem Überdruckkessel nehmen? Dazu ist die Reichweite und Zuschauerstruktur nicht geeignet. Es sei denn, die Botschaft richtet sich nur an das politische Berlin. Selbst dieses schaut Sonntagabend nicht kollektiv heute journal. Aber ohne Absicht fand diese Nachrichtensendung mit einer auffallend anderen Aussagerichtung als bisher nicht statt.
Soll ein tatsächlicher Kurswechsel vorbereitet werden? Will die Kanzlerin in der heute vereinbarten neue Verhandlungsrunde mit Griechenland die Einhaltung von Regeln mit einer neuen Qualität von Konsequenz verfolgen? Will sie vom Bundestag nur unter dieser Bedingung ein Verhandlungsmandat erteilt bekommen?
Folgte die EU dem Befund von Rödder, wäre der nächste Schritt unabhängig von Griechenland ein Moratorium. Wir werden sehen.