Tichys Einblick
Der Ethikrat lenkt von eigener Rolle ab

Ethikrat: „Maßnahmen gegen eine Pandemie müssen demokratisch legitimiert sein“

Der Ethikrat hat die Corona-Maßnahmen der Vergangenheit stark kritisiert und ein Papier zur Bekämpfung zukünftiger Pandemien vorgelegt. Verblüffend, denn der Ethikrat hatte die Corona-Politik mitberaten und mitgetragen.

IMAGO / Future Image

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, hat das Pandemie-Management in Deutschland scharf kritisiert. Im Zentrum stehen dabei Politik, Medien und Justiz. „Wir rufen nach einer kritischen Aufarbeitung der Krisenbewältigung und besseren Fehlerkulturen“, sagte Buyx. „Maßnahmen gegen eine Pandemie müssen demokratisch legitimiert, ethisch gut begründet und zugleich gesellschaftlich akzeptabel sein.“

Anlass war die Vorstellung eines Papiers zur Aufarbeitung der Pandemiebekämpfung – auf 161 Seiten. So kommt der Ethikrat in seinem Papier auch zur Erkenntnis:

„Eine weitere demokratische Herausforderung für die Pandemie‐Politik liegt in der Gefahr eines ‚technokratischen Regierens‘ auf Basis der Ratschläge von Experten. Die deutsche Politik nahm die Ratschläge von Expertinnen und Experten ernst und befolgte sie vielfach. Außer vom Robert Koch‐Institut und Organisationen wie den großen Forschungsgemeinschaften oder auch dem Deutschen Ethikrat wurde die Politik auch von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, insbesondere aus den Bereichen der Virologie und Epidemiologie, beraten. Zum Teil entstand der Eindruck einer direkten und nicht weiter rechtfertigungspflichtigen Ableitung politischer Entscheidungen aus Zahlen wie dem R‐Wert oder der 7‐Tage‐Inzidenz.“

Ethikrat demontiert das Verhalten von Politik, Medien und Justiz in Corona-Zeiten

Das Vertrauen der Menschen „in den deutschen Staat als Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat“ habe während der Pandemie gelitten. Der Vertrauensvorschuss sei im Laufe der Pandemie wegen der wenig anpassungsfähigen öffentlichen Infrastruktur verspielt worden. Auch die Massenmedien, inklusive des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seien dem „kritischen Teil“ ihrer Aufgaben nicht gerecht geworden. „Im weiteren Verlauf der Pandemie jedoch wurden selbst offenkundige Fehlentwicklungen von einem sich selbst als ‚konstruktiv‘ oder ‚gemeinwohlsensibel‘ verstehenden Journalismus kaum in der notwendigen Deutlichkeit aufgegriffen“, heißt es im Papier.

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Auch die Gerichte, namentlich das Bundesverfassungsgericht, erhielten schlechte Noten. Sie hätten eine „demokratiestabilisierende Rolle“. Im Großen und Ganzen seien die Prinzipien demokratischer Rechtsprechung zwar eingehalten worden. Es sei aber „auch zu offensichtlich problematischen Verordnungen“ gekommen, etwa bei Kontaktbeschränkungen im Freien. Diesen Regelungen sei „vonseiten der Gerichte nicht oder zumindest nicht frühzeitig und entschlossen genug entgegengewirkt“ worden.

Zugleich betont der Ethikrat die Zweischneidigkeit des Begriffs „Vulnerabilität“. Denn nicht nur Risikogruppen seien in einer Pandemie vulnerabel. So etwa seien auch Kinder und Jugendliche von den Einschnitten besonders stark betroffen gewesen. „Die Beachtung der ganz unterschiedlichen Formen von Vulnerabilität könnte hier zukünftig auch eine gezieltere Förderung von Resilienz ermöglichen“, so Professor Andreas Lob-Hüdepohl.

Neue Erkenntnis: keine Rücksicht auf Kinder und Jugendliche

Je länger die Pandemie dauerte und je länger etwa Schulen von Lockdowns betroffen waren, „desto stärker vulnerabel wurde die junge Generation“, sagte Buyx. Sie verwies auf die psychischen Belastungen. Die Folgen für den Bildungsbereich seien nicht genügend berücksichtigt worden. Initiativen von Lehrern oder Sozialarbeitern seien in der Pandemie zudem „häufig ausgebremst“ worden, fügte ihre Kollegin Sigrid Graumann hinzu.

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Der Ethikrat spricht damit ein Thema an, das aus einem anderen Anlass Einzug in die Massenmedien gehalten hat: die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Kleinkinder. Die britische Schulaufsichtsbehörde Ofsted ist nach zwei Jahren Corona-Maßnahmen zur Erkenntnis gelangt, dass das Maskentragen die soziale und sprachliche Entwicklung von Kindern gehemmt hat. Kinder hätten oft Mühe, Freundschaften zu schließen und zu sprechen. Beobachtet worden seien ein „begrenztes Vokabular“ und die „Unfähigkeit, auf einfachste Gesichtsregungen zu reagieren“. Zu diesem Schluss kommt eine Studie nach Gesprächen in 70 Betreuungseinrichtungen.

Kinder, die in diesem Frühjahr zwei Jahre alt geworden seien, „waren ihr ganzes Leben lang von Erwachsenen mit Masken umgeben und konnten deshalb Lippen­bewegungen und Mundstellungen nicht wie üblich sehen“, heißt es darin. Verzögerungen in der Sprachentwicklung hätten dazu geführt, „dass sie mit anderen Kindern nicht so in Kontakt getreten sind wie man dies früher erwarten konnte“. Auch mangelndes Selbstvertrauen sei zu beobachten, weil Kinder nicht an andere Gesichter gewöhnt seien. Viele Kinder lernten verspätet krabbeln, laufen und sich selber anzuziehen; die Studie ging deswegen aus, dass mehrere Kinder nicht wie vorgesehen in die Schule gehen könnten.

Der Bock ist nicht nur Gärtner, sondern nun auch noch Landschaftsgarteninspekteur – und stellt Zeugnisse aus

Angesichts dieses Verrisses deutscher Corona-Politik ist die Frage berechtigt: Wo war dieser Ethikrat mit seinen unbequemen Ansichten auf dem Höhepunkt des Lockdowns, als Kinder und Jugendliche ihrer besten Jahre beraubt wurde? Wo war der Ethikrat, als journalistische Standards unter die Räder der „Gemeinwohlsensibilität“ kam? Warum erhob er nicht seine Stimme, als das Bundesverfassungsgericht die Regierungsverordnungen unterstützte, statt die zu kritisieren? Und weshalb machte er kein einziges Mal den Mund auf, als nicht mehr der Souverän, sondern Bund-Länder-Konferenzen, Expertengremien und insbesondere der innere Zirkel um Angela Merkel den Corona-Kurs bestimmten?

Die Antwort gibt der Ethikrat im obigen Zitat selbst: Er war tief drin im Sumpf des Fehlmanagements. Insbesondere die Vorsitzende Buyx hatte jede Glaubwürdigkeit verspielt, als herauskam, dass sie Gelder von Pharmakonzernen erhält. In vielen Belangen war der Ethikrat Antreiber von restriktiven Maßnahmen – zuletzt bei der allgemeinen Impfpflicht. Nun, da nicht nur Letztere zu kippen droht, sondern sämtliche Probleme der letzten zwei Jahre nicht mehr schöngeredet werden können, setzt sich der Ethikrat an die Spitze der Bewegung, um sich als Aufklärer dessen zu gerieren, was er mit angestellt hat. Der Bock ist nicht nur Gärtner, sondern erhebt sich zum Landschaftsgarteninspekteur und kritisiert das Werk, an dem er selbst Anteil hatte.

Wir erwarten das nächste Manöver: eine grundlegende Verwerfung der Impfpflicht als undemokratisch und unethisch. Offenbar regiert jetzt das Motto: Rette sich, wer kann. Einen Ethikrat, der mit der bahnbrechenden Erkenntnis kommt, dass Kinder und Jugendliche in der Pandemie komplett unter die Räder kamen, sich aber im entscheidenden Moment wegduckte, braucht kein Mensch.

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