Tichys Einblick
Der Bosporus wird breiter

Erdogans Reichstagsbrand?

Wird Erdogan die Gunst der Stunde nutzen, angefangen von seinen Plänen einer weitreichenden Verfassungsänderung bis hin zu einem antidemokratischen Präsidialregime mit ihm an der Spitze?

An unidentified man uses his belt to hit Turkish soldiers involved in the coup attempt that have now surrendered on Bosphorus bridge on July 16, 2016 in Istanbul, Turkey.

© Gokhan Tan/ Getty Images

Am Abend der sich überschlagenden Ereignisse stocherten die internationalen Agenturen noch weitestgehend im Dunkel. Aber schon am heutigen Morgen scheint es so, als wäre Erdogan wohlauf und der Militärputsch missglückt. Die dramatischen Bilder der Nacht sind einer Ernüchterung gewichen. Die klammheimliche Hoffnung im Westen auf ein Ende der Erdogan’schen muslimen Eskalation in der Türkei haben sich bereits nach wenigen Stunden zerschlagen.

Hatte der US-Außenminister in einer Pressekonferenz in Moskau, wo er sich derzeit zu Gesprächen aufhält, Stunden nach den ersten Nachrichten über den Putsch noch merkwürdig ambivalent reagiert – man konnte fast den Eindruck gewinnen, er schlage bereits eine Brücke hinüber zu den Putschisten, als er lapidar erklärte: „Er hoffe auf Frieden, Stabilität und Kontinuität“ – ist die Haltung zu den Ereignissen in der Türkei bereits am frühen Samstag morgen gekippt. Die New York Times zitiert Erdgan um 5:59 Uhr: „Erdogan: ‘There is no power higher than the power of the people’“. Und auch die AKP–Anhänger in der Türkei selbst haben in Rekordzeit Anti-Putsch-Plakate aus dem Hut gezaubert. So schnell arbeiten die Druckerpressen selbst bei der BILD nicht.

Grenzwächter von EU und NATO

Nun können die USA die Nacht zum Tag machen, die Zeitverschiebung lässt das zu. Das politische Amerika ist also zitierfähig, keiner ist wieder ins Bett gegangen. Obamas Dienste haben die Situation schnell analysiert: So fordert Obama dann auch folgerrichtig die Türken dazu auf, sich hinter Erdogan zu stellen. Zwar hatte der türkische Präsident in der Vergangenheit so gut wie jeden Kredit in Washington verspielt, aber das alles gilt nun nicht mehr. Die Konfrontation des Westens mit Putins Russland macht die US-amerikanischen Militär-Basen in der Türkei zu einem wirkmächtigen Faustpfand. Die Nato-Mitgliedschaft der Türkei hat in den letzten 12 Monaten noch einmal an Bedeutung gewonnen für die Schlagkraft des Westbündnisses.

Erdogan hat aber noch drei weitere starke Buben auf der Hand: Europa hofft weiter drauf, das Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei verbleiben, dafür braucht es stabile Verhältnisse – eben ein sicheres Herkunftsland. Die Kurdenpolitik des Westens hat Erdogans ambivalentes Verhältnis zum IS gefährdet – davon kann nun nicht mehr die Rede sein. Aber am stärksten wiegt wohl die Kritik an den antidemokratischen Bestrebungen Erdogans. Wie soll der Westen Erdogans Angriff auf die Verfassung nun noch kritisieren? Der Raum für Ermächtigungsgesetze war nie so groß wie in diesem Moment. Die liberalen politischen Kräfte, die Presse- und Kulturvertreter, die sich allzu schnell auf die Seite der Putschisten geschlagen haben, werden das in den kommenden Wochen mit ihrer Freiheit bezahlen müssen. Einige möglsicherweise sogar mit ihrem Leben, wenn der türkische Präsident bereits in altbekannter Tonalität von „Säuberungen“ spricht.

Man darf auch nicht vergessen, dass nichts mehr so ist, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Türkei bereits drei Militärputsche erlebte. In wenigen Jahrzehnten sind die globalen Vernetzungen samt Internet und sozialer Medien in rasender Geschwindigkeit angewachsen – fast so, als wären in Jahren Jahrhunderte vergangen. Die Welt von heute ist nicht mehr die von 1980. Im Vergleich mit 1980 ist die Türkei heute ein geradezu weltoffenes Land.

Die wichtigste Frage der Stunde dürfte also sein: Sollte der Putsch niedergeschlagen werden, wird Erdogan die Gunst der Stunde nutzen, angefangen von seinen Plänen einer weitreichenden Verfassungsänderung bis hin zu einem antidemokratischen Präsidialregime mit ihm an der Spitze?

Präsidialregime?

Der Historiker Sven Felix Kellerhof schreibt in „Der Reichstagsbrand“:
„Nur einen Tag nach dem Brand, am Abend des 28. Februar 1933, wurde die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“, später bekannt als „Reichstagsbrandgesetz“, im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Sie verhängte den zivilen Ausnahmezustand über das gesamte Reich und setzte alle wichtigen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft – zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“. SA- und SS-Schläger verschleppten echte und vermeintliche politische Gegner, folterten sie in Kellern und Hinterhäusern. Der einsetzenden Verhaftungswelle bis Ende April 1933 fielen rund 40.000 Personen zum Opfer – vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten.“

Ein agressiver Sultan
Erdogan und türkische Blut- und Boden-Ideologie
Nun ist Erdogan nicht Hitler. Aber auch er hat mit einem missglückten Putsch nun seinen Reichstagsbrand – inszeniert oder nicht. Und es wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen, wie er diesen mächtigen Trumpf  ausspielt. Der Spiegel berichtete Anfang des Jahres, dass Erdogan kurz nach seiner Rückkehr von einem Besuch in Saudi Arabien von Journalisten gefragt wurde, „ob die Türkei zu einem Präsidialsystem umgebaut werden und zugleich zentralstaatlich organisiert bleiben könne.“ Erdogan antwortete: „Es gibt aktuell Beispiele in der Welt und auch Beispiele in der Vergangenheit. Wenn Sie an Hitler-Deutschland denken, haben Sie eines. In anderen Staaten werden Sie ähnliche Beispiele finden.“ Wenn das Volk Gerechtigkeit erfahre, würde es ein solches System akzeptieren.

Wird es das wirklich? Oder wird auf einen Putschversuch Erdogans gegen die Verfassung ein Putsch seines Volkes gegen Erdogan folgen? Dafür spricht wenig. Wenn Erdogan diese Krise heil übersteht, werden seine Popularitäswerte im eigenen Land noch einmal ansteigen. Und die lagen zuvor schon bei über 50 Prozent. Politische Popularität allerdings misst sich selten an demokratischen Wertvorstellungen.

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