Tichys Einblick
Opposition in der Coronakrise

Die FDP wacht aus ihrem Tiefschlaf auf

Mit arger Verspätung wechselt die FDP des Parteivorsitzenden Christian Lindner in den Angriffsmodus einer kritischen Opposition. Doch wie lange wird sie den neuen Kurs angesichts des Gegenwinds regierungstreuer Medien beibehalten?

FDP-Vize Michael Theurer

imago Images/Arnulf Hettrich

FDP-Vize Michael Theurer hatte am 7. April mit einem Interview bei Tichys Einblick den lange vermissten Angriff einer Oppositionspartei auf die kritikwürdige Regierungsarbeit von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Fehler in der Corona-Krise gestartet. Zwei Wochen später kündigte FDP-Chef Christian Lindner in einer heftigen Bundestagsdebatte Merkels Regierung die Gefolgschaft auf. Weil die Zweifel an den eingeleiteten Maßnahmen „gewachsen sind, endet heute auch die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements“, kritisierte Lindner Merkels Handeln in der Corona-Krise. Er warf der Kanzlerin vor, dass nach ihrer Meinung jeder fahrlässig handele, der nicht ihre Auffassung teile. Der Staat schränke Grundfreiheiten viel zu weit ein. Die Kanzlerin hatte Tage zuvor im CDU-Präsidium gegen eine „Öffnungsorgie“ gewettert, weil Politiker und Wirtschaftsexperten mehr Lockerungen im Corona-Alltag forderten. Diese Merkel Beschimpfung hatte die FDP wohl endgültig aus dem Tiefschlaf gerüttelt.

Die FDP hat sich selbst reduziert

Seit der Bundestagswahl 2017 rutscht die FDP von 10,7 % runter auf die Fünf-Prozent-Hürde:

Lindners Stellvertreter Theurer lässt derweil nicht locker und schiebt noch einen Brief an die Mitglieder der FDP-Bundestagsfraktion nach. Darin listet er in sieben Punkten seine Kritik an Merkels fehlerhafter Regierungsarbeit und der ihrer Minister auf. 

Harter Vorwurf: Regierung belügt die Bevölkerung

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Was die Wirksamkeit von Gesichtsmasken gegen die Corona-Verbreitung betrifft, sei die Bevölkerung „angelogen worden“, wirft der stellvertretende Fraktionsvorsitzende in dem Schreiben Merkels Regierung vor. Zudem sei der Eindruck falsch, „Bund und Länder hätten von Anfang alles getan, um die sich abzeichnende Pandemie zu bekämpfen.“ Im Gegenteil: „Sie agierten zögerlich, inkonsequent und mit beinahe täglich wechselnden Botschaften.“ Dadurch sei wertvolle Zeit vertan worden, „die durch einen immer länger werdenden Shutdown teuer bezahlt werden muss“.

Nachdem die erste Corona-Infektion in Deutschland bekannt geworden sei, habe die Bundeskanzlerin lediglich davon gesprochen, dass das Virus kein Grund zur Besorgnis sei. Ebenfalls am 28. Januar habe Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zur Gelassenheit gemahnt. Anschließend sei die Kanzlerin bis zum 11. März abgetaucht.

„Im Gegensatz zu anderen Regierungschefs auf der ganzen Welt gibt sie keine regelmäßigen Updates und stellt sich nicht den Fragen der Journalisten, die absolut notwendige Diskussion über Grundrechtsabwägungen macht sie als ‚Öffnungsdiskussionsorgien‘ verächtlich“, kritisiert Theurer weiter.

Erst angeblich Fake News, dann plötzlich Regierungspraxis

Obendrein habe sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit dem FDP-Kollegen sogar gefetzt. Am 28. Februar habe Theurer die Absage der Reisemesse ITB in Berlin wegen Corona gefordert. „Spahn schreit mich am Telefon an und bezichtigt mich der Panikmache. Am 29.2. wird die ITB abgesagt,“ berichtet Theurer seinen Abgeordneten.

Am 14. Märze ließ Spahn auf sozialen Netzwerken ein Bild mit Logo seines Bundesgesundheitsministeriums verbreiten, nach dem in der nächsten Woche bevorstehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens „Fake News“ seien. „Am 16. März werden diese beschlossen und verkündet,“ erinnert Theurer.

Stunde der Union?
In der Krise wachsen die Macher von morgen
Weiter beklagt der FDP-Fraktionsvize, er habe am 14. Februar einen Krisengipfel von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) gefordert. Doch der habe im Radio gesagt: „Im Augenblick glaube ich, dass dadurch keine große Belastung der Weltwirtschaft einhergeht.“ Noch Anfang März habe Altmaier eingeräumt, keinen Notfallplan zu haben. „Auf den Krisengipfel warten wir bis heute.“

Gleichzeitig kritisiert der FDP-Vize die möglichen Kanzlerkandidaten der Union Armin Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU), weil sie die Corona-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und Bayern zunächst unterschätzt hatten. „Karneval wird gefeiert – auch im Kreis Heinsberg. In Bayern finden Starkbierfeste statt, die sich im Nachhinein ebenfalls als Verbreitungsherde herausstellen“, kritisiert Theurer zu Recht.

Auch Bundesinnen und -außenministerium bekommen wegen schwerer Versäumnisse heftige Kritik ab: „Rückreisende Skiurlauber aus Hochrisiko-Gebieten wie dem österreichischen Ischgl und Flugreisende aus dem Iran können viel zu lange ohne Quarantäne, Schnelltests oder auch nur Fiebermessung nach Deutschland einreisen.“

Merkel hat Deutschland auf Pandemie nicht vorbereitet

Vor allem aber habe sich Kanzlerin Merkel seit der Risikoanalyse vom 3. Januar 2013 durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) nicht ausreichend auf eine drohende Pandemie vorbereitet. In dieser Studie unter fachlicher Federführung des Robert Koch-Instituts und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden wurde die Gefahr und die Folgen durch die Einschleppung eines modifizierten SARS-Virus aus China – wie jetzt geschehen – detailliert beschrieben. „Die daraus folgenden strategischen Überlegungen wurden offenbar nach dem Ausscheiden der Freien Demokraten aus dem Deutschen Bundestag nicht weiter verfolgt. Deshalb fehlen bis heute noch Mundschutz-Masken und andere medizinische Ausrüstungsgegenstände“, schreibt Theurer.

Wie lange dieser neue liberale Wachzustand anhält, weiß keiner vorauszusagen. In Thüringen bei der demokratischen Wahl eines bürgerlichen Ministerpräsidenten war die Halbwertzeit freidemokratischer Reflexe extrem kurz. Sie währte nur wenige Tage bis FDP-Chef Lindner seinen gewählten Parteifreund Thomas Kemmerich auf Geheiß der Kanzlerin eiskalt zum Rücktritt zwang.

Schon jetzt greifen staatstreue linke Medien wie RTL mit seinem Nachrichtensender n-tv den neuen, rebellischen FDP-Kurs an. Sie rücken ihn, wie könnte es anders sein, in die politische Nähe zur AfD. Stigmatisierung gehört offenbar zum journalistischen Alltagsgeschäft. Entsprechende Überschriften sind schnell gefunden: „Lindner nimmt sich ein Beispiel – an der AfD“.

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