Tichys Einblick
Wenn der Kanzler schweigt

Ende der Ampel: Was macht Christian Lindner eigentlich richtig?

Christian Lindner will die Ampel beenden. Das wissen TE-Leser bereits seit Donnerstag. Mit einem Thesenpapier versucht Lindner dieses Ende nun herbeizuführen – und macht es damit Olaf Scholz leicht, ihn vorzuführen.

picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Für die rheinland-pfälzische SPD war der Freitag immer ein wichtiger Nachrichtentag. Besonders der Nachmittag. In der Zeit ihrer absoluten Mehrheit hatte die Partei Kurt Becks jede Menge Leichen im Keller angesammelt. An Freitagen steckte die SPD danach das Wissen über diese Leichen an geneigte Medien. Damit stellte sie sicher, dass deren Existenz zwar öffentlich bekannt wurde – aber auch in der Aufmerksamkeit verpuffte. Freitags sind an den Nachmittagen die Zeitungen schon geschrieben, die Redakteure wollen ins Wochenende und sind kaum noch bereit die Seiten umzubauen. Also berichten sie über Leichen im Keller nur dort, wo ohnehin noch Platz ist: also am Rande. Radio, Fernsehen und Internet müssen an Freitag-Nachmittagen damit leben, dass die Aufmerksamkeit ihrer Kunden sich schon Richtung Wochenende verabschiedet hat – zu Konzerten, Abendessen, Club-Besuchen, Fußballspielen oder Einkäufen in schwedischen Möbelhäusern.

Lambsdorff 2.0
Lindner konfrontiert Koalition mit Papier zur Wirtschaftspolitik
Christian Lindner hat nun ein Thesenpapier geschrieben. Eines, das die Reformation der Ampel einläuten soll. Eines, das er an die Türen von Kanzleramt und Wirtschaftsministerium nageln will. Das überall vom neuen Glauben an die freie Marktwirtschaft verkünden soll, den der FDP-Chef nach drei Jahren rot-grüner Planwirtschaft predigen will. Dieses Papier soll die FDP in einen neuen Glanz rücken. Und wann veröffentlicht es Lindner? An einem Freitag-Nachmittag. Und zwar nicht an irgendeinem Freitag, sondern an einem, der in den drei größten Bundesländern als staatlicher Feiertag begangen wird. Lindner wollte mit seinem Papier die Stimmungswende einläuten, aber veröffentlicht es in dem Moment, in dem das Nachrichtengeschäft maximal tot ist. Gibt es eigentlich irgendetwas, was Christian Lindner richtig macht?

Nun springt ihm die notorisch FDP freundliche Springer-Bild bei: Lindner habe das Papier gar nicht selbst veröffentlicht, sondern nur vertraulich an Kanzler Olaf Scholz (SPD) und „Wirtschaftsminister“ Robert Habeck (Grüne) geschickt. Angeblich um – ganz unter Freunden – den Sozialdemokraten davon zu überzeugen, dass Tariftreuegesetz und Asylleistungen doch keine so gute Idee sind. Und der Grüne sollte überlegen, ob ihm Klimaschutz und Lieferkettengesetz wirklich so wichtig sind.

Seit Jahrzehnten macht das zwar alles die Agenda von SPD und Grünen aus – aber der eine Brief von Christian Lindner hätte das alles verändert, wenn er denn vertraulich geblieben wäre. 2024 ist es schwer geworden, Politikern zu vertrauen.
2024 ist es aber in Deutschland auch gefährlich geworden, Politikern nicht zu vertrauen. Wer das öffentlich bekundet, den verfolgt der Inlands-Geheimdienst als Delegitimierer des Staates. Dessen Äußerungen lässt die staatlich finanzierte „Zivilgesellschaft“ im Netz als „Hass und Hetze“ zwangsweise löschen. Auch wer sich unterhalb der Strafbarkeitsgrenze äußert, den verfolgt in Deutschland 2024 der Staat. Dafüri hat die Politik die Strafbarkeitsgrenze nach unten gesetzt. Wer Politikern das Gefühl vermittelt, sie in ihrer Amtsausübung einzuschränken, den verfolgt der Paragraph 188 des Strafgesetzbuches. Um die Meinungsfreiheit steht es in Deutschland nach drei Jahren Ampel nicht gut – obwohl oder gerade weil die FDP mitregiert. Es gibt Gründe, warum Christian Lindner an einem Feiertags-Freitag Briefe verschicken muss.

Die Bild sagt, Scholz oder Habeck haben vielleicht Lindners Papier an die Presse gegeben. Der gesunde Menschenverstand sagt, das Verschicken hat der FDP-Parteichef schon selber getan. Warum sollte er ein solches Papier schreiben, wenn nicht um der Öffentlichkeit zu signalisieren, dass sich der Oberliberale von der Ampel löst? Um das Ende der Bundesregierung einzuläuten, in der die FDP in den Ländern unter ein Prozent der Wählerstimmen abrutscht?

Verkehrsminister Volker Wissing hat zuvor an dem besagten Freitag einen Gastbeitrag platziert. Darin verteidigt er die Ampel und fordert die FDP auf, in dieser zu bleiben. Das muss er. Als Landesvorsitzender hat Wissing 2016 in Rheinland-Pfalz die Ur-Ampel zusammengebracht. Als Generalsekretär der Bundespartei hat er dieses Modell 2021 nach Berlin gebracht. Die Ampel ist sein Lebenswerk. Scheitert sie, ist Wissing gescheitert – und wird weder in der Politik noch in der bundesdeutschen Geschichte je wieder eine andere Rolle spielen. Wissing hat Lindner unter Zugzwang gesetzt.

Regierungskrise
Die FDP plant das Aus der Ampel noch im November
Also ist danach Lindners Papier an die Öffentlichkeit geraten. Vielleicht unter seinem Zutun. Der Autor dieses Textes ist ein von der FDP regierter Bürger – und muss sich daher hüten, Offensichtliches zu deutlich zu formulieren. Paragraph 188 und so. Gesetzt der Fall, also hypothetisch, Lindner hat das Papier selber lanciert, dann hat er auf Wissing reagiert, um seinem ehemaligen Generalsekretär nicht die Deutungshoheit über das künftige Handeln der FDP zu überlassen. Er hat also die Gesetze der öffentlichen Wahrnehmung ignoriert und ist den Gesetzen der inneren Befindlichkeiten des Berliner Regierungsviertels gefolgt. Wer der Hypothese folgt, dass sich ein Politiker wie Christian Lindner nur an seiner Binnenwelt orientiert und die Außenwelt mittlerweile komplett aus seinem Bewusstsein verbannen kann, der ist ganz nah an der Antwort auf die Frage, warum unter ihm die Partei in Richtung Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Christian Lindner hat sich mit seinem Papier in die Tradition von Otto Graf Lambsdorff gestellt. Der frühere FDP-Chef hat 1982 ebenfalls ein Thesenpapier geschrieben, das ein SPD-Kanzler – damals Helmut Schmidt – gar nicht unterstützen konnte. Damit hat er die Koalition mit der SPD quasi aufgekündigt und die Koalition mit der CDU-CSU eingefädelt. Eine gut bekannte Anekdote.

Nun wiederholt sich Geschichte meistens nicht. Wenn doch, dann macht sie aus dem, was einst eine Tragödie war, eine Farce. So auch Christian Lindner. Lambsdorff hatte damals eine Option, eine neue Regierung zu bilden. Die fehlt der FDP heute. Auch weil sie sich freiwillig hinter der „Brandmauer“ eingesperrt hat, die eigentlich die AfD ausschließen soll. Zudem hat Lambsdorff mit seinem Papier einen klaren Bruch mit der gemeinsamen sozial-liberalen Politik vollzogen. Lindner will so tun, als ob mit der FDP unter der Ampel „nicht alles schlecht war“.

Mit keinem Wort fordert Lindner in seinem Papier, die „Diskriminierungsbeauftragte“ Ferda Ataman zu entlassen. Auch nicht, den „Nicht-Regierungsorganisationen“ das staatliche Geld entziehen zu wollen. Oder Meldestellen nicht mehr staatlich zu finanzieren, die legale, aber unbequeme Äußerungen im Netz verfolgen. Und vor allem das „Selbstbestimmungsgesetz“ zurückzunehmen, das Männern erlaubt, in die Schutzräume von Frauen einzudringen. Das es unter staatliche Strafe stellt, einen Geschlechtswechsel in Frage zu stellen und das Eltern mit dem Verlust des Sorgerechts bedroht, wenn sie sich der Geschlechtsumwandlung ihres Kindes in den Weg stellen.

Mit einem Papier, das sich wirtschaftspolitischen Fragen widmet, kann Christian Lindner so tun, als ginge es um Punkte, die er schon immer gefordert habe – und nun platze ihm halt der Kragen. Mit der Forderung nach der Entlassung Atamans, mit dem Ende der Meldestellen oder des „Selbstbestimmungsgesetzes“ müsste Lindner eigene Fehler eingestehen. Müsste zugeben, dass sein engster Vertrauter Marco Buschmann als nützlicher I…nteressenvertreter grüner Ideen an diesem grünen Wahnsinn mitgebastelt hat. Das andere I-Wort für Buschmann würde unter Paragraph 188, Majestätsbeleidigung demokratischer Politiker, fallen. Ist aber nicht nötig, denn solche Fehler würde Lindner nie eingestehen. Vielleicht glaubt er noch, auf diese Weise das Ruder für die FDP umwerfen zu können. Ganz sicher geht es ihm aber eigentlich nur noch um die Rettung des eigenen Rufs. Um ab 2026 als Mietmaul der Wirtschaft so tun zu können, als wenn er als Politiker kein kompletter Versager gewesen wäre. Ganz sicher aber, um wenigstens den Mann im Spiegel genau davon überzeugen zu können – selbst wenn das der einzige Mensch wäre, der Lindner das glaubt.

Das Netz war am 1. November voll von Liberalen, die den Verrat gegeißelt haben, den die FDP mit dem Selbstbestimmungsgesetz an der Freiheit begangen hat. Der 1. November war der Tag, an dem dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Lindner wollte ein Papier veröffentlichen, dass nach drei Jahren rot-grünen Bütteltums in der Ampel plötzlich liberale Eigenständigkeit ausruft. Er lanciert es an einem ohnehin ungünstigen Freitag-Nachmittag. Obendrein an einem, der ein Feiertag ist. Und er verbindet es mit einem Gesetz, das der FDP massiv geschadet hat, dass er aber bei seinem liberalen Aufbruch ausspart. Wollte man einen Tag schaffen, der denkbar schlecht gewesen wäre, um Lindners Papier zu positionieren, dann wäre es der Tag gewesen, an dem Lindner sein Papier positioniert hat.

Nun fragen sich die Medien, ob Lindner mit seinem Papier die Ampel beenden will. Blöde Frage. Natürlich will er das. Was denn sonst? Nur Scholz und Habeck oder die anderen Spitzenpolitiker der Koalitionspartner können den FDP-Chef nun auf eine einfache Weise vernichten: Sie können ihn und sein Papier einfach ignorieren. So wie es Scholz schon mit Habecks Vorstoß zu „Deutschlandfonds“ und Investitionsprämie getan hat. Und dann?

Dann müsste Lindner den ehrlichen Weg gehen. Er müsste sich hinstellen und sagen: Die Ampel war ein Fehler, ich beende jetzt diesen Fehler. Das wäre mutig, ehrlich, charakterstark und konsequent. Doch das alles ist Lindner nicht. Stattdessen schreibt er einen Schulaufsatz, der dann irgendwie seinen Weg in die Medien findet. Was zwei Möglichkeiten lässt: Entweder hat Lindner gelogen und das Papier selber lanciert. Oder er hat nicht damit gerechnet, dass Scholz oder Habeck das tun würden. Egal, was von beidem stimmt: Christian Lindner ist ein Politiker, der die Frage aufwirft, was er eigentlich kann – und der mit dem Paragraph 188 selbst ein Gesetz beschlossen hat, das die Antwort unter Strafe stellt.

Die Ampel ist tot. Entweder steigt Christian Lindner selbst von diesem Pferd ab oder es verrottet bis zum September 2025 unter ihm. Alles spricht dafür, dass eine Regierung der CDU mit SPD und/oder Grünen folgt. Dass das für Deutschland nicht besser wird, ist eine andere Geschichte. In diesem Text geht es darum, dass die FDP aus der Geschichte verschwindet. Und trotz Paragraph 188 sei klar gesagt: Um eine Partei, die ein Jahrzehnt lang meint, keinen besseren Chef als Christian Lindner zu finden, um die ist es wirklich alles andere als schade.

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