Tichys Einblick
Im Containerdorf von Eisenhüttenstadt

Migranten an der polnischen Grenze: „Ihr Land hängt von der Menschlichkeit ab“

In Brandenburg werden Notunterkünfte für Migranten eingerichtet. Die Bürger von Eisenhüttenstadt reagieren mit hinnehmendem Desinteresse. Die Migranten im Containerdorf selbst sind durchaus auskunftsfreudig. Von ihnen kann man einiges lernen.

Matthias Nikolaidis

Die Menschen in Eisenhüttenstadt scheinen oft nur eine schemenhafte Vorstellung von dem zu haben, was hinter dem Zaun des Lagers vor sich geht. Aufgefallen ist einigen aber der erhöhte Personalbedarf in der Erstaufnahme. Ein anliegender privater Parkplatz ist teilweise für die Mitarbeiter reserviert, die abends über ein Seitentor nach Hause strömen. Auch die Asylbewerber trifft man schon mal auf der Straße. Doch woher sie kommen, das weiß man nicht so genau: Afghanen seien wohl dabei, aber auch alle möglichen anderen Herkunftsländer. Auch aus diesem obskuren »Belarus« kämen viele. Dass es sich dabei um ein Nachbarland von Polen und nichts weiter als eine Durchreisestation handelt, scheint allerdings unbekannt zu sein.

Als ich eine andere Frau nach den errichteten Notunterkünften (Containern und Zelten) frage, weiß sie zwar nichts Genaues, ihr fällt dazu aber ein, dass man nach der Wende viele Häuser abgerissen habe. Die hätte man ja auch behalten können. Irgendwie wundert einen diese Unwissenheit der Einwohner, ihr hinnehmendes Desinteresse nicht. Denn einerseits unterliegt das Lagerinnenleben strenger Geheimhaltung. Zum anderen verläuft sich in der sozialistischen Planstadt ohnehin fast alles. Es gibt bald mehr gemähte Rasenflächen als bebauten Grund. Und die weiten Rasenkorridore und Magistralen zwischen den Wohnblocks sind fast menschenleer, zumindest in dem Teil der Stadt, der das Lager umgibt.

Die Einrichtung selbst wirkt unauffällig, fast wie ein Schulgelände, wäre da nicht der Sicherheitszaun mit abgeschrägter Oberkante. Und auch wenn heute ein tiefer Friede über dem Gelände zu liegen scheint, scheint eine gewisse Vorsicht doch angebracht, wie andere Erstaufnahmen (zum Beispiel Suhl in Thüringen) zeigen.

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Die Gebäude sind alle neu saniert – nagelneu auch die Container, die in der Mitte des Geländes eine größere Fläche füllen. Auf den Wegen innerhalb des Lagers gehen die Bewohner spazieren, sie liegen zu zweit oder zu dritt auf dem Rasen oder telephonieren über ihr Headset. In der hintersten Ecke des ehemaligen Polizeigeländes ist ein Spielplatz angelegt, und tatsächlich spielen dort einige Kinder. Überall hängt Wäsche zum Trocknen in der Oktobersonne.
Beheizbare Zelte stehen als Reserve bereit

Ein älterer Herr radelt auf dem asphaltierten Weg hinter dem Gelände entlang. Jenseits des Weges liegen ein paar Kleingärten, eine kleine Gaststätte und die Diehloer Berge. Er ist der erste, der die Zustände erschreckend findet. Ständig kämen neue Menschen hinzu, nur von Abtransporten sei nichts zu bemerken. »Das passiert nur nachts«, mutmaßt der Mann. Aber vielleicht gibt es noch andere, unauffälligere Wege zur Entlastung des Lagers. Man hat nicht den Eindruck, dass tausend Menschen hier ohne weiteres Platz fänden, auch wenn man die Container als Wohnbereich mitzählt.

Am Ende des Geländes, kurz vor dem angrenzenden Solarkollektorfeld, hat sich die Bundespolizei mit zahlreichen Fahrzeugen eingerichtet und vollführt teilweise seltsame Patrouillenfahrten, auch um das Lager herum, die wohl ihren Sinn haben werden.

In der Bundespolizeiecke steht ein mehrstöckiger, provisorisch wirkender Bau. Laut dem Radfahrer war an dieser Stelle einmal der Abschiebeknast untergebracht. Doch so etwas gibt es hier heute nicht mehr. Jetzt dürfte das der Ort sein, an dem die neu ankommenden Migranten von der Bundespolizei aufgenommen und registriert werden, wo ihre Fingerabdrücke abgenommen werden, um zu sehen, ob sie schon irgendwo anders in der EU auf die gleiche Weise registriert wurden.

Der Ein- und Ausgang liegt gleich hinter diesem Bereich, an der schmalsten Seite des Geländes. Man hat dort nicht den Eindruck, dass irgendetwas Außerordentliches passiert. Beamte gehen eilig zwischen der beschrankten Pforte und dem Bundespolizeibereich hin und her. Die herumstehenden Asylbewerber sind gutgelaunt, die Sonne scheint. Und tatsächlich stehen hier einige der großen, beheizbaren Zelte, von denen einige auch auf dem Gelände der Bundespolizeiinspektion in Frankfurt stehen. Hier wie dort dienen sie vorerst vor allem der Registrierung und Quarantäne. Doch langfristig könnten sie auch zur notwendigen Reserve werden, wenn alle anderen Plätze der brandenburgischen Ausländerbehörde besetzt sind. Die Belegungsquote dürfte sich gerade in raschen Schritten den 3.000 von 3.500 Plätzen nähern.

Vor dem Tor stehen einige junge Männer herum, die sich als zwei Syrer und ein Iraker vorstellen und wohl alle Mitte zwanzig sind. Die Syrer beschreiben ihre Reiseroute mit den Worten Selanik (=Thessaloniki), Albania, Serbia, Niemce. Also zunächst die Evros-Westbalkanroute. Doch »Niemcy« ist das polnische Wort für Deutschland, und dabei hat der junge Syrer mit der hellen Haut Polen gar nicht erwähnt. Werden also Westbalkanroute und Polen-Route inzwischen auch schon kombiniert? Das ist nicht zu eruieren, zu schlecht das Englisch der beiden. Es bleiben Zweifel, ob die jungen Männer wirklich über den Westbalkan eingereist sind. Vielleicht sind sie doch, wie angeblich viele Iraker, über Minsk und Polen gekommen?

Ein ausgetretener Pfad zwischen Bäumen führt zu einem nahegelegenen Supermarkt. Dort kann man auch für einige Euros Brathähnchen erstehen. Ein arabisch aussehender junger Mann bezahlt seine zwei Pakete mit einem Zwanziger, erhält ein paar Münzen zurück.

»Hallo an den Präsidenten«

Ein anderer junger Mann kommt gerade vom Einkaufen und ist dank Übersetzungs-App auskunftsfreudiger als die beiden Syrer. Er lobt das »sehr gute« Lager in den höchsten Tönen, es sorge für alle Menschen aus allen Ländern gleich gut. Er selbst sei Kurde aus Kirkuk und zunächst nach Minsk geflogen, um von dort aus nach Deutschland zu kommen. Der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde und der EAE in Eisenhüttenstadt, Olaf Jansen, hat erst dieser Tage wieder bestätigt, dass über die Route Minsk–(Litauen)–Polen »ganz überwiegend allein reisende Männer« kommen. Erst zuletzt seien ein paar Familien auch über diese Route hinzugekommen.

Der Nordiraker spricht Arabisch, seine Heimatstadt liegt nach seinen Worten nicht im eigentlichen Kurdistan wie etwa Arbela (Erbil). Die Übersetzung seiner Worte durch die App präsentiert eine eigentümliche Verbindung aus Poesie und Prägnanz: »Ich komme aus Kirkuk und folge dem Irak. Ich bin nach Deutschland gekommen, weil die Menschlichkeit in diesem Land ausgezeichnet ist. Unser Land hat keine Menschlichkeit, und es gibt keine Lohnarbeit.« Aber musste es unbedingt Deutschland sein, wäre kein anderes Land ebenso gut gewesen? Er sagt, er liebe Deutschland, schon von Kindesbeinen an.

Doch was weiß er eigentlich von diesem Land, dass es für ihn so liebenswert ist? Die übersetzte Antwort verdient wiederum ein wörtliches Zitat: »Hallo an den Präsidenten, Ihr Land hängt von der Menschlichkeit ab, und die Arbeit steckt im Überfluss, weil Sie viele Errungenschaften für jemanden haben, der von Ihnen abhängt.«

Da zu vermuten ist, dass in der Muttersprache des jungen Mannes deutlich weniger gegendert wird als im heutigen Deutsch, lässt sich der erste Satz wohl als Reverenz an die scheidende Kanzlerin verstehen. Interessant ist außerdem, wie der Iraker das Verhältnis zwischen Deutschland und der Menschlichkeit und zwischen Zuwanderern und Deutschen beschreibt, nämlich zweimal als »hängt ab von«. Deutschland hängt von der Menschlichkeit ab; die Menschen, die zu uns kommen, hängen von Deutschland ab. Der perfekte Tausch für ein Land, das seine Interessen vergessen will.

Das stolze Kurdentum der Auswanderer

Dann ist da noch diese kurdische Familie mit der selbstbewussten Tochter und einem jüngeren Sohn. Sie kommen, so sagen sie, aus der Gegend um Diyarbakir in der Türkei, die der Vater nur Kurdistan nennt, und sind über die Ukraine zum Berliner Flughafen geflogen. Da der auch in Brandenburg liegt, ist ihre Anwesenheit in Eisenhüttenstadt erwartbar, auch wenn mit Recht gefragt werden kann, worin ihr Flucht- oder Asylgrund bestehen soll. Beide Länder – die Türkei und die Ukraine – können als relativ sichere Länder gelten.

Auf der anderen Seite des Lagers geht ein Halbwüchsiger mit seinem jüngeren Bruder spazieren. Auf meine Frage, ob sie Deutsch oder Englisch sprechen, antwortet der Ältere mit breitem Lächeln und klarer Stimme: »Kurdisch!« Und so treffen sich in Eisenhüttenstadt vermutlich Kurden, die einander in Kurdistan nie über den Weg gelaufen wären.

Erstaunlich ist, wie sehr gerade diese Kurden von ihrem Kurdischsein durchdrungen sind, und dass sie den Verlust, das Zurücklassen ihrer Heimat anscheinend leicht verkraften können. Es scheint, als brächten sie uns Deutschen ein »Geschenk« mit, so abgenutzt dieses Bild auch sein mag. Das Selbstbewusstsein, das den Deutschen als Nation häufig fehlt, importieren diese stolzen Familienväter und großen Brüder allemal. Am Ende können die Deutschen so noch etwas von ihnen lernen.

Als ich schließlich den Bus Richtung Bahnhof nehme, sitzen schon vier oder fünf junge Männer mit dunklen Haaren darin. Sie müssen eine Station früher eingestiegen sein, vorher hatten sie mit Sack und Pack auf einer Bank vor der Einrichtung gewartet. Geführt werden sie, wie sich bald herausstellt, von einer jungen Schwarzen im DRK-Hemd. Jeder der Männer hat einen Packen Zettel (Formulare?) in einer Klarsichthülle dabei, die sie fast stolz in den Händen tragen, statt sie in ihre Taschen zu tun. Gemeinsam fahren wir nach Frankfurt an der Oder, wo die Männer ihren unbekannten Weg fortsetzen. Die junge Frau vom Roten Kreuz steigt alleine in den Zug Richtung Berlin.

Alle Bilder: Matthias Nikolaidis

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