Das Fällen der über 100-jährigen Buchen im Reinhardswald in Nordhessen hat schon begonnen. Die Waldarbeiter standen offenbar mit ihren Sägen schon bereit, als am Mittwoch das Regierungspräsidium Kassel grünes Licht gab für die ersten 18 Windkraftwerke auf einem exponierten Höhenzug hinter der berühmten Sababurg, dem Tierpark Sababurg und dem Sagen umwobenen „Urwald“. Ein Jahre langer, erbitterter Kampf gegen dieses Sakrileg, ein anderes Wort fällt einem dazu nicht ein, scheint nun verloren. Zwar wollen die Gegner klagen, doch vor einer gerichtlichen Entscheidung werden wohl längst Fakten geschaffen sein. Der Reinhardswald in Nordhessen, eines der wertvollsten Waldgebiete Deutschlands, ja Europas, wird also der „Energiewende“ geopfert werden.
Für die Windräder müssten laut der Energiegenossenschaft Reinhardswald mit rund 250 Buchen und mehreren Fichten nur eine „äußerst geringe“ Anzahl an Bäumen gefällt werden. Durch Stürme, Dürresommer und den Borkenkäfer sei bereits ein Großteil der benötigten Fläche „baumfrei“, welch schauriges Wort. Die groteske Frage lautet: Warum forstet man mit Windrädern auf anstatt mit Bäumen? Und die Schönheit der Landschaft ist für die Klimaretter ohnehin eine quantité négligeable, ein krudes Hobby alter weißer Romantiker, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben und endlich ihre Klappe halten sollen.
Als einstiger „Reichsforst“ fiel der Reinhardswald zunächst an geistliche Territorialherren, später an die Landgrafen von Hessen, die ihn als ergiebige Wildbahn nutzen. Auch heute noch gehört der Reinhardswald fast ganz dem Land Hessen und ist zudem weitgehend „gemeindefrei“. Dieser Umstand ist ein wichtiger Grund dafür, dass die schwarz-grüne Landesregierung große Teile des Reinhardswaldes für die Windkraftnutzung vorgesehen hat. Die 18 jetzt genehmigten Windräder mit einem Rotordurchmesser von 150 Metern und einer Nabenhöhe von 244 Metern sollen erst der Beginn des Zerstörungswerks sein, zu dem die hessische „Umwelt“-ministerin Priska Hinz (Grüne) keine Alternative sieht. Im gesamten Gebiet des erst 2017 ausgewiesenen Naturparks Reinhardswald wäre Platz für mehr als 100 der Energiegiganten einschließlich großzügiger Zuwegungen. Eine solche Dichte an Windkraftwerken gäbe es wohl erstmals in einem der naturnahen Erholung gewidmeten Schutzgebiet.
Gerne hätte man auch den Pächter der Sababurg gefragt, was er über die Windkraftwerke denkt, die wohl sehr bald auf einem Höhenzug hinter der Burg, dem Langenberg, aufragen werden? Doch das Anwesen wird umgebaut und soll touristisch neu ausgerichtet werden. Zwölf Millionen Euro will das Land Hessen in das Baudenkmal investieren. Ein detailliertes Konzept für die künftige Nutzung gibt es immer noch nicht, doch solle die Sababurg mit einer „Kombination aus Übernachtung, Gastronomie und Tagungsbetrieb“ auch in Zukunft ein attraktives Touristenziel in Nordhessen bleiben, schreibt das Wirtschaftsministerium. Doch werden die erhofften Gäste auch kommen, wenn die Sababurg mitten in einem Windindustriegebiet liegt?
Der bisherige Pächter hatte ganz auf das Märchenthema gesetzt. Zwar ist nirgends bezeugt, dass die Sababurg als Vorbild für das Grimm‘sche Dornröschenschloss diente, doch hat sich das Bild bei vielen Touristen und Reiseunternehmen durchgesetzt. Entlang der Deutschen Märchenstraße ist die Sababurg, sie geht zurück auf eine zum Schutz von Pilgern im nahe Wallfahrtsort Gottsbüren angelegten Höhenburg aus dem 14. Jahrhundert, zusammen mit dem von langen Eichenalleen durchzogene Tierpark Sababurg eine der bekanntesten Attraktionen. Der Tierpark feierte gerade sein 450-jähriges Bestehen. Er gilt nicht nur als einer der ältesten Europas, sondern erzielte erst 2019 mit 352 000 Gästen einen neuen Besucherrekord.
Statt des Pächters erreicht man Hermann-Josef Rapp, die „Stimme des Reinhardswaldes“. Rapp war lange Zeit Förster im Reinhardswald und kennt das Gebiet wie seine Westentasche. Er ist zwar nicht grundsätzlich gegen die Nutzung der Windenergie, doch der Reinhardswald, SEIN Reinhardswald müsse frei von solchen Industrieanlagen bleiben, eine „Tabulandschaft für Windenergie“. Die allerletzten unzerschnittenen Landschaften seien, unabhängig von Fragen des Habitat- und Artenschutzes, ein unschätzbares Kapital nachhaltiger Regionalentwicklung und eines sanften Tourismus, meint Rapp.
Es gab schon einmal den Versuch, dem Reinhardswald einen ökonomischen Mehrwert abzutrotzen über die Holzproduktion und einen moderaten Tagestourismus hinaus. Im Jahre 2005 wurden Pläne bekannt, die Hessische Staatsdomäne Beberbeck mitten im Reinhardswald zu einem gigantischen Ferienresort umzubauen. Für fast ein halbe Milliarde Euro sollten mehrere First-Class-Hotels und ein Chaletdorf gebaut werden, nebst Reitbahn, Golfplatz, Poloplatz und Binnensee. Doch es fand sich kein Investor. Der Kasseler Filmemacher Klaus Stern hatte einen Dokumentarfilm über das größenwahnsinnige Projekt des Hofgeismarer Bürgermeisters Heinrich Sattler gedreht. „Henners Traum“ ließ kein gutes Haar an „Europas größtem Tourismusprojekt“ und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Das Land Hessen und die Projektträger, darunter mehrere oberhessische Stadtwerke, verweisen darauf, dass keine wertvollen Waldflächen abgeholzt würden. Bei den ausgewiesenen Windkraftzonen handelte es sich „in weiten Teilen um Wirtschaftswald, der durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wie Windwurf, Trockenheit und Borkenkäferbefall gravierend und über große Flächen in Mitleidenschaft gezogen wurde“. Bei Abständen von mehr als 2000 Metern sei zudem nicht davon auszugehen, dass die Sababurg und der Tierpark akustisch beeinträchtigt würden. Dass die Rotoren die Landschaft des Weserberglandes weithin prägen werden, bestreitet das Ministerium nicht generell, betont aber, dass sie zumindest von der Aussichtsplattform der Sababurg „kaum zu sehen“ seien.
Der Reinhardswald scheint verloren zu sein, falls kein Wunder geschieht. Wenn schon bald die Rotoren in den Himmel ragen, so hoch wie die Hochhäuser der Frankfurter Skyline, wird er seinen Reiz einer einzigartigen historischen Kultur- und Naturlandschaft verloren haben. Und seit der „Klimaschutz“ ganz oben auf der politischen Agenda steht, seit sich alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der AfD dafür aussprechen, zwei Prozent der deutschen Landesfläche für die Windkraft in Anspruch zu nehmen, seit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und seine Ampel-Kollegen Deutschland endlich ins Kohlenstoff freie Ökoparadies führen will, droht dieses Schicksal auch anderen, letzten Refugien des Mythos vom deutschen Wald: Odenwald, Pfälzerwald, Steigerwald, Spessart, Bayerischer Wald. Wer kann dem Irrsinn jetzt noch Einhalt gebieten, wer kann die „Schänder der Landschaftsseele“ (Botho Strauß) noch stoppen? Jetzt möchte man sich eigentlich nur noch einmal in die wundersame Stille des Reinhardswaldes setzen und seinen Tränen über den unwiederbringlichen Verlust freien Lauf lassen.