Die Bild-Zeitung brachte es auf den Punkt: „Dreißig Jahre nach dem Mauerfall,“ so twitterte Chefredakteur Julian Reichelt, „ist die Berliner Zeitung wieder in Stasi-Hand.“ Er reagierte damit auf einen Bericht der Welt am Sonntag, wonach der neue Besitzer des Berliner Verlages, Holger Friedrich, ein Informant des DDR-Staatssicherheitsdienstes war. Obgleich die Chefredakteure von Berliner Zeitung und Berliner Kurier, Jochen Arntz und Elmar Jehn, den Vorwurf umgehend zurückwiesen, hatte Reichelt mit seinem Tweet auf ein Problem hingewiesen, das den Verlag das Überleben kosten könnte – die erschütterte Glaubwürdigkeit seiner Journalisten.
Dass ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter seit dem 1. November 2019 einen erheblichen Teil der Hauptstadtpresse kontrolliert, ist zweifellos ein Novum in der deutschen Mediengeschichte. Zwar sind in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Journalisten wie Spiegel-Redakteur Diethelm Schröder oder ARD-Sportkoordinator Hagen Boßdorf als Informanten aufgeflogen. Doch dass ein Verleger als ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter (IM) enttarnt wird, hat es bislang nicht gegeben. Der Unterschied zu allen vorangegangenen Fällen liegt darin, dass sich eine Zeitung von einem ungeeigneten Mitarbeiter trennen kann – nicht aber von ihrem Besitzer.
Dabei war der aus der DDR stammende Unternehmer mit viel Vorschusslorbeeren gestartet. Nicht nur die Mitarbeiter des Berliner Verlages, zu dem neben der Berliner Zeitung und dem Berliner Kurier auch die Betreiber des Hauptstadtportals „Berlin.de“ gehören, waren erleichtert, dass sie nach Jahren der Ungewissheit wieder eine Perspektive hatten. In der Medienbranche war es ein offenes Geheimnis, dass sich die bisherigen Besitzer, die Kölner DuMont Medienholding, aus dem defizitären Berliner Zeitungsmarkt zurückziehen wollten. Holger Friedrich und seine Frau Silke, die den Verlag übernahmen, machten zudem in mehreren Interviews deutlich, dass sie große Pläne mit dem Blatt verfolgten und sich auch emotional damit identifizierten.
Inzwischen sind die wichtigsten Dokumente aus der 125-seitigen IM-Akte im Internet einsehbar. Ihr Inhalt weicht allerdings deutlich ab von der Darstellung des Verlegers. Von Republikflucht oder gar einem bewaffnetem Grenzdurchbruch ist dort nirgendwo die Rede. Friedrich wurde demzufolge auch nicht förmlich verhaftet oder Gegenstand eines in solchen Fällen einzuleitenden Ermittlungsverfahrens. Den von der Stasi-Unterlagen-Behörde freigegebenen Unterlagen zufolge wurde er vielmehr wegen des Verdachts auf Fahnenflucht „operativ bearbeitet“ und erhielt einige Tage Arrest in seiner Kaserne. Zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS sei er dann „auf der Grundlage der politischen Überzeugung“ verpflichtet worden.
Auch Friedrichs Behauptung über die angeblichen „Testpersonen“ der Stasi wird durch die IM-Akte nicht bestätigt. Nur ein einzige Mal wird angekündigt, dass er durch einen IM-Kandidaten auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden solle. Fast alle seine Informationen betreffen jedoch Personen, die mit der Stasi nichts zu tun hatten – und die er zum Teil schwer belastete. In zwölf größtenteils handschriftlichen Berichten denunzierte er unter anderem einen Unteroffizier, der fehlende Zubehörteile aus Fahrzeugen der „Ministerreserve“ ausbauen ließ, wodurch die Gefechtsbereitschaft beeinträchtigt worden sei. Ein Soldat, der Westverwandtschaft habe, benutze im Urlaub einen ungültigen Personalausweis. Ein Heizer habe ihm gegenüber die Verbrennung von Rohbraunkohle als „Schweinerei für die Umwelt“ bezeichnet.
Zufrieden stellte der Führungsoffizier deshalb fest, dass Friedrich in den Gesprächen Personen aus seinem Umgangskreis belaste. Mehrfach notierte er auch, welche Maßnahmen anschließend eingeleitet worden seien. Regelmäßig lobte er überdies die „Treffdisziplin“ seines Informanten und resümierte: „In der bisherigen Zusammenarbeit mit Genannten hielt sich dieser an die erteilten Instruktionen und erfüllte die ihm gestellten Aufträge in guter Qualität.“
Auch Friedrichs Behauptung, er hätte seine Berichte über einen kirchlich gebundenen Soldaten, den die Stasi mit seiner Hilfe ausforschen wollte, mit diesem „abgestimmt“, erscheint im Lichte der Dokumente wenig glaubwürdig. Da Friedrich seinem Führungsoffizier unter anderem erzählte, der Bruder des Soldaten trage sich mit Ausreisegedanken in den Westen, müsste dieser seinen eigenen Bruder bei der Stasi angeschwärzt haben.
Vor allem im ersten Halbjahr 1988 traf sich Friedrich regelmäßig mit dem Oberleutnant der Stasi. Oft musste er sich dazu bereits in Herrgottsfrühe aus der Kaserne schleichen, um in einem Waldstück in dessen Auto zu steigen. Im Mai erfolgte schließlich die förmliche Anwerbung. Friedrich unterschrieb dazu eine anderthalbseitige handschriftliche Verpflichtungserklärung, in der sich unter anderem bereit erklärte, seine Berichte in Zukunft mit dem Decknamen „Peter Bernstein“ zu unterzeichnen. Danach lieferte er weitere Berichte.
Doch dann, ab September 1988, tut sich eine sechsmonatige Lücke in der IM-Akte auf. Zwischendurch, am 21. Dezember, wird lediglich vermerkt, dass der IM-Vorgang einem anderen Mitarbeiter übergeben worden sei. Mit diesem kam es aber offenbar zu Problemen, wie die Unterlagen nahelegen. Friedrich traf ihn erst im Februar 1989 – das letzte Treffen des IM „Bernstein“ mit der Stasi.
Im Vergleich zu anderen Stasi-Informanten rangiert Friedrichs Spitzeltätigkeit damit im unteren Mittelfeld. Zugute zu halten ist ihm vor allem, dass er die Zusammenarbeit selbst beendet hat. Dabei muss man freilich in Rechnung stellen, dass die DDR zu dieser Zeit bereits erhebliche Zerfallserscheinungen zeigte.
Was den Fall heute so prekär macht, ist eher, dass der Verleger seine Stasi-Vergangenheit vor der Geschäftsführung, der Belegschaft und der Öffentlichkeit bis zu seiner Enttarnung verschwiegen hatte. Seine Glaubwürdigkeit litt noch mehr Schaden, als er seine Version der Vorgänge per Order di Mufti ins Blatt hob, ohne dass die Redaktion, sie anhand der IM-Akte auf ihre Richtigkeit überprüfen konnte.
Auch das wäre vielleicht noch als Ungeschicklichkeit zu verbuchen gewesen, wenn sich der Verleger ansonsten aus der redaktionellen Arbeit herausgehalten hätte. Die Grundregel jedes Zeitungsbesitzers, sich nicht in die Berichterstattung einzumischen, hatte er jedoch schon vor seiner Enttarnung verletzt. So hatte er seiner Chefredaktion den „Hinweis“ gegeben, über den Börsengang eines Biotech-Unternehmens zu berichten, was diese pflichtschuldigst nach unten durchstellte. Der zuständige Wissenschaftsredakteur der Berliner Zeitung veröffentlichte anschließend einen Bericht über die Firma – ohne zu ahnen, dass Friedrich selbst an dem Unternehmen beteiligt ist.
Auch politisch mischten sich die Verleger in die Berichterstattung ein. In einer Sonderausgabe zum 30. Jahrestag des Mauerfalls präsentierten sie der Berliner Zeitung auf zwei Seiten ihre Sicht auf die Welt und die DDR. Über den letzten Generalsekretär der SED, Egon Krenz, schrieben sie zum Beispiel, dass dieser im Herbst 1989 „die Größe“ gehabt hatte, keinen Befehl zur Anwendung von Gewalt zu geben – „wohl wissend, dass er damit seine hohe soziale Stellung aufs Spiel setzte, auch einen möglichen Verlust des eigenen Lebens in der Entscheidung zu berücksichtigen hatte. Egon Krenz hat mit dieser persönlichen Entscheidung Millionen Menschen selbstbestimmte, positive Lebenswege ermöglicht, die uns unter anderem diesen Text in dieser Zeitung veröffentlichen lassen. Dafür sind wir ihm dankbar und möchten fragen, ob es in gleichem Maße groß war, ihn neben anderen zu viereinhalb Jahren Haft zu verurteilen.“
Diese Passage löste bei vielen Lesern – auch innerhalb der Redaktion – Fassungslosigkeit aus. Als Mitglied des Politbüros und Honeckers Kronprinz war Krenz einer der Hauptverantwortlichen für die SED-Diktatur. Als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen war er zudem so etwas wie der Vorgesetzte von Stasi-Minister Erich Mielke. Als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates hatte er schließlich mit dafür gesorgt, dass an der Westgrenze der DDR rücksichtslos auf Flüchtlinge geschossen wurde, weshalb er 1997 wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde – zu sechseinhalb Jahren übrigens. Auch für die Fälschung der Ergebnisse bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 war Krenz als Leiter der DDR-Wahlkommission verantwortlich. Wenige Wochen später stellte er sich demonstrativ an die Seite der chinesischen Führung, nachdem diese in Peking friedliche Demonstranten mit Panzern hatte niederwalzen lassen.
Durch seine Akte ist überdies herausgekommen, dass der Verleger mit 20 Jahren auch der SED beigetrat. Seine Begründung, dies sei „Voraussetzung“ für die Zulassung zum Abitur und zum Studium gewesen, ist blanker Unsinn, denn nicht einmal in der DDR musste man der Staatspartei beitreten, um die Hochschulreife zu erlangen. Viel wahrscheinlicher ist, dass Friedrich ein überzeugter Regimeanhänger war.
Dass die Verleger mit dieser Vergangenheit tiefgreifend gebrochen haben, ist ihren öffentlichen Äußerungen nicht zu entnehmen. Im Gegenteil: „Etwas Elementares ist vor 30 Jahren durch den Westen beiseitegeschoben worden,“ heißt es an einer Stelle in ihrem Mammuttext, „etwas, das heute schmerzlich fehlt“. Dazu passt ihre perfide Relativierung der SED-Diktatur durch die Behauptung, dass Europa wegen der Toten an seinen Außengrenzen „ein noch größerer Unrechtsstaat“ als die DDR sei.
Die Berliner Zeitung sieht sich dadurch plötzlich wieder in die eigene Vergangenheit zurückkatapultiert. Nur mühsam konnte sich das ehemalige SED-Blatt in den letzten 30 Jahren von dem Image befreien, jahrzehntelang als Sprachrohr der kommunistischen Machthaber gedient zu haben und der DDR bis heute nachzutrauern. Immer wieder erschienen dort nostalgische Artikel von Redakteuren, die schon der SED zu Diensten waren.
Mehrfach wurde der Verlag auch von Stasi-Skandalen erschüttert. Bereits Mitte der 1990-er Jahre mussten mehrere Redakteure gehen, weil man über sie eine IM-Akte gefunden hatte. Da der Verlag seine Beschäftigten aber nach deutschem Recht nicht einfach überprüfen durfte, kam es auch danach noch zu Enttarnungen. So wurde erst 2008 bekannt, dass der Ressortleiter Thomas Leinkauf, der unter anderem eine vernichtende Kritik an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ins Blatt gehoben hatte, ein früherer Stasi-Informant war. Auch der stellvertretende Leiter des Politik-Ressorts entpuppte sich als Ex- IM.
Schwierigkeiten bekamen dagegen Journalisten, die der ostalgischen Linie nichts abgewinnen konnten. So wurde die Redakteurin Renate Oschlies, die der DDR-Bürgerbewegung verbunden war und regelmäßig über die Machenschaften der Stasi schrieb, gekündigt, weil „Artikel, die sich mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte auseinander setzen, in Zukunft nicht mehr recherchiert, geschrieben und gedruckt werden“ sollten. Sie musste sich durch zwei Instanzen klagen, um ihre Weiterbeschäftigung zu erreichen. Am Ende war sie gesundheitlich schwer angeschlagen.
In diese Strategie passt, dass die Chefredaktion die frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, und den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk als Unterstützer bei der Deutung des Geschehens engagierte. Birthler hatte sich erst kürzlich dem Kultursenator der Linken in Berlin zur Verfügung gestellt, um die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen auf eine neue politische Linie zu bringen. Kowalczuk ist manchem noch erinnerlich, wie er 2017 den Berliner Staatssekretär Andrej Holm in Schutz nahm, der seine Tätigkeit als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter verschwiegen hatte. Als Holm zurücktreten musste, sagte Kowalczuk: „Das ist Wahnsinn. Ich bin fassungslos.“
Ob die Taktik der nachträglichen Reinwaschung aufgeht, ist allerdings fraglich. Denn inzwischen bläst den Verlegern auch wirtschaftlich der Wind ins Gesicht. Nachdem Friedrich in einem Interview den Betrieb des Hauptstadtportal „Berlin.de“ als den “eigentlichen Schatz unseres Deals” bezeichnet hatte, stellte der Berliner Senat klar, dass er die Zusammenarbeit mit den Friedrichs nicht fortführen wird. Dass sich die über das Portal eingegebenen Bürgerdaten seit dem 1. November 2019 in den Händen eines ehemaligen Stasi-Mitarbeiters befinden, ist für manchen Politiker jetzt schon eine beunruhigende Vorstellung. Auch der Chef des Madsack-Konzerns, der die beiden Blätter bisher mit Nachrichten beliefert, distanzierte sich von den Verlegern.
Um ihre Unabhängigkeit zu retten, will sich die Redaktion nun ein Statut zulegen. Der Verleger kündigte zudem an, seinen Posten im Aufsichtsrat der Biotech-Firma ruhen zu lassen, “bis die vollständigen Unterlagen der Stasi-Unterlagenbehörde vorliegen und von Experten ausgewertet wurden”. Doch dass sich durch diese Maßnahmen die verlorene Ehre des Berliner Verlages wiederherstellen lässt, ist zweifelhaft, zumal die verschwiegene Stasi-Tätigkeit und der Sitz im Aufsichtsrat nichts miteinander zu tun haben. So bleibt die Berliner Zeitung wohl bis zu ihrem Untergang an einen Mann gebunden, der früher für die Stasi spitzelte und bis heute dem zweitmächtigsten Mann der DDR dankbar ist.
Der vorliegende Text wurde geringfügig geändert um auf die Quellen dezidierter hinzuweisen und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Zum Hintergrund lesen Sie bitte die beiliegende Erklärung des Autos.
„Kann dies nur als Einschüchterungsversuch verstehen“
Um jedes Missverständnis auszuschließen, erklärte sich der Historiker in einer Email an Friedrichs Anwalt bereit, auf seiner Website das Wort „Stasi-Akte“ durch „IM-Akte“ zu ersetzen. Die Nachrichtenportale FOCUS ONLINE und Tichys Einblick habe er gebeten, dies ebenfalls zu tun.