Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat angesichts der aktuellen, russischen Offensive eindringlich mehr internationale Unterstützung für die Ukraine bei der Luftverteidigung verlangt. „Um die Ukraine vor dem russischen Raketen- und Drohnenhagel zu schützen, braucht sie dringend mehr Luftabwehr“, forderte sie am Dienstag zum Auftakt ihres siebenten „Solidaritätsbesuches“ in der Ukraine. „Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, damit die Ukraine bestehen kann und damit Putins Truppen nicht bald vor unseren eigenen Grenzen stehen.“
Die Außenministerin war in der Früh zu einem aus Sicherheitsgründen nicht angekündigten Besuch in der Hauptstadt Kiew eingetroffen. Bei der von ihr gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius gestarteten globalen Initiative für mehr Flugabwehr seien fast eine Milliarde Euro zur zusätzlichen Unterstützung der ukrainischen Luftverteidigungskräfte zusammengekommen. „Und wir arbeiten intensiv daran, dass das noch mehr wird.“ Die Ministerin fügte hinzu: „Wir drehen jeden Stein mehrfach um und sind selbst mit einer zusätzlichen Patriot-Einheit vorangegangen.“
Die Ukraine ist aus einem Mangel an Waffen, Munition und Soldaten seit Monaten in der Defensive. Die Millionenstadt Charkiw im Nordosten wird von Russland über die Grenze hinweg aus kurzer Entfernung bombardiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte vergangene Woche bei einem Besuch von US-Außenminister Antony Blinken Patriot-Flugabwehrsysteme für die Verteidigung Charkiws gefordert. Zum Schutz der Stadt und ihres Umlands vor Drohnen und Raketen seien zwei dieser Systeme notwendig. Dem Vernehmen nach verfügt die Ukraine derzeit über drei der leistungsstarken Flugabwehrsysteme aus US-Produktion. Zwei davon hat Deutschland bereitgestellt, die Bundesregierung hat eine dritte Patriot-Einheit zugesagt.
Selenskyj wies kurz vor dem Besuch Baerbocks einmal mehr auf die Dringlichkeit von Flugabwehrwaffen hin. Die Ukraine brauche am dringendsten weitere Flugabwehrsysteme und westliche Kampfjets, sagte er am Montag in seiner täglichen Videoansprache. „Leider fehlt es der freien Welt in diesen beiden Fragen an Schnelligkeit.“ Aufgrund der Luftüberlegenheit könne Russland mit Gleitbomben Städte und Verteidigungsstellungen der Ukrainer vernichten. Aktiv nutzten die Russen seinen Angaben nach die zerstörerische Taktik an den Frontabschnitten bei Charkiw sowie im Gebiet Donezk in Richtung Tschassiw Jar und Pokrowsk.
Baerbock sicherte den Menschen in der Ukraine die dauerhafte Unterstützung Deutschlands zu. „Putin spekuliert darauf, dass uns irgendwann die Luft ausgeht, aber wir haben einen langen Atem“, erklärte sie. Deutschland stehe gemeinsam mit vielen anderen Ländern aus allen Teilen der Welt felsenfest an der Seite der Ukraine. „Darauf können die Menschen in der Ukraine dauerhaft bauen.“ Das zeige die Bundesregierung im Juni, wenn sie die Welt zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine nach Berlin einlade. „Gemeinsam mit unseren Partnern in der Welt und einem starken Bündnis aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kommunen investieren wir langfristig in eine Zukunftsversicherung für die Ukraine.“
Die aktuelle russische Offensive im Grenzgebiet nahe Charkiw bedroht die Ukraine seit Mitte Mai gleich doppelt. Zum einen zwingt der russische Vorstoß die ukrainische Armee, dort Reserven einzusetzen, die an anderen Stellen der Front fehlen. Der Armeeführung in Kiew zufolge halten die Verteidigungslinien. Trotzdem sind die Russen etwa zehn Kilometer tief auf ukrainisches Gebiet vorgestoßen. Sie könnten bald Artillerie nach vorn bringen, die Charkiw dann zusätzlich zu den Luftangriffen beschießen könnte.
Neben militärischen Zielen hat Russland im März und April vor allem ukrainische Kohlekraftwerke beschossen. Diese sind mittlerweile fast vollständig ausgeschaltet. Auch wichtige Wasserkraftwerke sind beschädigt. Die Regierung in Kiew schätzt, dass mehr als 40 Prozent der Kapazitäten zur Stromproduktion ausgefallen sind. Die Außenministerin nannte einen EU-Beitritt der Ukraine erneut „die notwendige geopolitische Konsequenz aus Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“. Das Land habe „beeindruckende Fortschritte gemacht und ist trotz der russischen Zerstörungswut auf Reformkurs“. Nun gelte es, in den Anstrengungen für eine Justizreform, bei der Korruptionsbekämpfung und der Medienfreiheit nicht nachzulassen.
Der Beitrag erschien zuerst bei exxpress.at.