Die Wahlkampagne der Grünen und ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock läuft auch nach mehreren Reparaturversuchen nicht wunschgemäß. Nach dem Hochwasser an Ahr und Wupper und der ausschließlichen Klimazuschreibung dieser Katastrophe in den Unterstützungsmedien ging es zwar etwas noch oben. Aber von ihren 28 Prozent aus Baerbocks Eröffnungsbilanz reichen die Werte nicht annähernd. Dafür braucht es eine Erklärung, und wenn sie von den Wohlgesinnten kommt, müssen zwei Gründe für das Herumpendeln zwischen 16 und 20 Prozent ausgeschlossen werden: Die Kandidatin und ihr Wahlprogramm. Sechs Spiegel-Mitarbeiter taten sich für einen Text zusammen, der das Phänomen der mangelnden grünen Durchschlagskraft unter besonderer Nichtbeachtung der oben genannten Punkte erklären soll. Ihre These lautet, dass die Grünen wegen Hass, Hetze und ein bisschen auch durch Ressourcenmangel nicht dazu kommen, ihre immer auf die Sache gerichtete Argumentation zu entfalten.
Diesem Narrativ gilt Teil eins dieser Rezension. Dann geht es hart zum Sachthema selbst. Besonderer Hinweis: dieser Text ist vollständig N-Wort-frei.
„Extreme Rechte und Verschwörungsideologen“, weiß der Spiegel, „versuchen, den Wahlkampf zu torpedieren und zu verhindern, dass die Grünen ihre Themen setzen können.“ Da sich selbst der eine oder andere Spiegel-Leser vielleicht fragt, seit wann extreme Rechte und Verschwörungsideologen in Deutschland so viel Macht besitzen, dass sie einen Kanzlerinnenwahlkampf knicken können, stellt das Hamburger Blatt ihnen noch ein paar Alliierte zur Seite. „Autoritäre Staaten wie Russland und China, die Desinformationskampagnen gern einsetzen“, heißt es da, „haben die Grünen wegen ihrer Außenpolitik und der Kritik an Menschenrechtsverstößen womöglich im Visier.“ Womöglich im Visier, das erklärt natürlich schon einmal die Hälfte des Baerbock-Einbruchs.
Als wichtigsten und eigentlich auch einzigen Beleg dafür, dass extreme Rechte die Grünen am Themensetzen hindern, führt das Blatt ein Video an, das die AfD-Politikerin Beatrix von Storch und ihr Ehemann produziert hatten. Darin heißt es unter anderem, mit grüner Regierungspolitik würde Strom unbezahlbar und Autofahren ein Luxus. Außerdem kommt in den dreieinhalb Videominuten ein Zusammenschnitt von Baerbocks Versprechern vor.
„Die Storchs“, so der Spiegel-Report, „teilten die Grünendystopie eifrig, mindestens 70.000 Mal wurde sie so auf verschiedenen Plattformen angesehen.“
Vielleicht sollte der Autor an dieser Stelle einschieben, dass sein Handyvideo von einer Amsel auf seinem Terrassengeländer, gesendet auf Facebook, vor ein paar Jahren ganz ähnlich viel Zuschauer gefunden hatte. In einem Land mit gut 83 Millionen Einwohnern und 60,4 Millionen Wahlberechtigten erzeugen 70.000 Zuschauer eines baerbockmissgünstigen Videos noch nicht einmal einen leichten Luftzug in der Öffentlichkeit. Zumal es sich höchstwahrscheinlich um ein Publikum handelt, in dem sowieso kaum jemand mit dem Gedanken spielt, grün zu wählen.
Die Wahlkampf-Torpedierungkraft, die der Spiegel dem rechten Rand und seinen chinesisch-russischen Helfern zutraut, wirkt umso verblüffender, wenn man sie mit der Reichweite und dem Etat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vergleicht, den die Partei mit Recht zu ihrem erweiterten Kampagnenapparat zählt. Etwa der WDR mit Einnahmen von 1,2 Milliarden Euro jährlich, die bekanntlich nicht komplett von Grünen-Wählern stammen. Als die ersten Meldungen über kopierte Stellen in Baerbocks Buch auftauchten, erklärte beispielsweise ein WDR-Redakteur zur besten Sendezeit die Veröffentlichungen zum Werk von „CDU-Influenzern“ und des Springer-Konzerns: „Und fertig ist die Kampagne.“
Damit erreichte der Sender nicht nur eine deutlich andere Öffentlichkeit als das Ehepaar Storch mit ihrem Video. Auch verschwörungsideologisch, um das Spiegel-Stichwort einmal aufzugreifen, fiel der WDR-Beitrag deutlich avancierter aus.
Als Kronzeuge für die Verschwörungsthese des investigativen Spiegel-Artikels dient zum einen Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner: „Es ist unfassbar, wie viele Lügen über uns im Netz kursieren und wie viel Hass und Hetze uns entgegenschlagen.“ Es handelt sich um den Leiter der Bundesgeschäftsstelle, die erst Baerbocks aufgerüschte Biografie auf vielen offiziellen grünen Seiten in Umlauf gebracht hatten, inklusive der Behauptung, sie hätte einen Bachelorabschluss erworben und wäre Mitglied im UNHCR. Und die ab Mitte Mai – immer unter den Klagen über die schlimmen Netzlügen – innerhalb von drei Tag- und Nachtschichten die Vita der Kandidatin halbwegs der Realität anpassten.
Der andere Kronzeuge des Blattes heißt Jakub Janda, Geschäftsführer des tschechischen Thinktanks European Values. Ihm, so der Spiegel, sei „klar, dass die Grünen im Visier der Geheimdienste Chinas und Russlands sind.“ Belege dafür erwähnt er nicht, leider. Denn die Geschichte wäre wirklich interessant, wie Geheimdienste unter Einschluss der Storchens und anderer Rechter die Grünen erst dazu bringen konnten, Baerbock zur Kanzlerkandidatin zu machen, um dann ihren einmaligen Stolperlauf zu inszenieren.
Zu Netzhass und -hetze gegen die Grünen twitterte das Spiegel-Autorenkollektiv eine Grafik: die mittlerweile notorische statistische Auswertung, die in Fällen wie diesen die etwas schütterne Argumentation unterfüttern soll. Sie zeigt, dass sich nach Spiegel-eigener Auswertung 1.535 Facebook-Hasskommentare auf die Grünen ganz allgemein bezogen, 265 auf die CDU und 174 auf die SPD. Interessant ist die Auswertungsbasis: Insgesamt eine Million Kommentare in „einschlägigen Facebook-Gruppen“. Davon ordnet des Spiegel-Team 50.000 als „Hasskommentare“ ein. Sie entdeckt also einen Anteil von 5 Prozent Hasskommentaren; von diesen 5 Prozent wiederum beziehen sich wiederum nur etwas mehr als drei Prozent auf die Grünen. Hasskommentare gegen Grüne spielen also selbst in vom Spiegel als „rechts“ oder „verschwörungstheoretisch“ eingruppierten Accounts nur eine kaum wahrnehmbare Rolle. Das würde auch sofort deutlich, wenn die Redaktion den Balken der 1.535 grünenfeindlichen Kommentare zumindest gegen die zweite Zahlenbasis gestellt hätte, nämlich 50 000. Mit einem so genannten abgerissenen Balken wäre dann die Proportion einigermaßen deutlich geworden. Stattdessen vergleicht das Blatt eine marginale Zahl mit zwei noch winzigeren Werten.
Diese Wellengekräusel von Facebook-Kommentaren im Verein mit einem Video, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit läuft, und Geheimdiensten, die durch ihr Visier lugen, womöglich jedenfalls, das alles ist nach Spiegel-Ansicht jedenfalls geeignet, „Personal und die Infrastruktur der Partei zu überfordern“. Jedenfalls dann, wenn sie vom Themensetzen auch noch durch die kleine Zusatzbelastung abgelenkt wird, die darin besteht, seit gut zehn Wochen PR-technisch hinter der Kandidatin aufzuwischen. Apropos Personal und Infrastruktur: Ganz erschließt sich nicht, warum das Magazin für diesen Textauflauf aus ‚womöglich’, ‚könnte’, manipulativen Zahlen und beleglosen Behauptungen und einem Anruf beim Grünen-Geschäftsführer derart viele Autoren braucht. Früher erledigte einer so ein Magazinstück allein. Und zwar deutlich unterhaltsamer. Claas Relotius hätte in einer kleinen Alpenstadt inmitten von Wäldern, in denen Drachen hausen könnten, mit Sicherheit den Kopf des baerbockverhindernden Torpedokommandos aufgespürt, während im Hintergrund ein Elbdampfer tutet.
Aber da die Stichworte Kandidatin und Themensetzen nun einmal gefallen sind, wird es Zeit, beides näher anzuschauen. Wie sieht die offizielle Webseite von Annalena Baerbock heute aus? Und wie ihre politischen Inhalte, von denen wir wissen, dass es eigentlich nur um sie, die Sachthemen geht, während Personalien nur davon ablenken, weshalb die Grünen ja auch auf die luzide Idee kamen, es mit einer Kanzlerkandidatin – , egal, der Autor möchte kein Salz auf wunde Stellen reiben. Sondern ganz nüchtern den grünen Kampagnenstand knapp zwei Monate vor der Wahl sichten.
Um mit der Baerbock-Webseite und der Kandidatinnenbiografie darauf zu beginnen: Dort firmiert sie immer noch als „studierte Völkerrechtlerin“.
Was schon deshalb merkwürdig anmutet, weil es so klingt, als könnte es sich bei „Völkerrechtlerin“ beziehungsweise –rechtler auch um einen nichtakademischen Beruf handeln. Aber es geht an dieser Stelle gar nicht um die Frage, ob ein Zwölfmonatskurs, wie ihn Baerbock an der London School of Economics absolvierte, als „Studium des Völkerrechts“ gelten kann, wie es auf ihrer Seite heißt, was suggeriert, sie sei Juristin mit der Spezialisierung Völkerrecht.
Und auch nicht um den Punkt, ob es sich bei „Völkerrecht“ um eine zutreffende Übersetzung von Public International Law handelt. Völkerrechtlerin oder Völkerrechtler wird niemand durch eine Universitätsurkunde. Sondern durch Forschung und Publikation, möglicherweise auch Lehre auf diesem Gebiet. Es wird schließlich auch niemand dadurch Künstler, dass er das Diplom einer Kunsthochhochschule in Empfang nimmt. Irgendwelche öffentlich bekannten Arbeiten von ihr auf dem Feld des Völkerrechts oder auch nur des öffentlichen Rechts existieren nicht.
Auch der Punkt „Freie Mitarbeiterin bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (2000-2003)“ findet sich immer noch in ihrem Lebenslauf – obwohl mittlerweile bekannt ist, dass sich diese Mitarbeit nur auf eine Handvoll Artikel beschränkt, einige davon entstanden in einem Projekt der Zeitung mit Schülern. Offenbar war es ihr wichtig, diese Lebensstation in ihrer Vita zu lassen, trotz ihrer Dürftigkeit – denn sie ist die einzige außerhalb der Berufspolitik.
In der Auflistung findet sich auch immer noch „Doktorandin des Völkerrechts, Freie Universität Berlin, Promotion nicht abgeschlossen“. Bisher hat die Heinrich-Böll-Stiftung, die Baerbock mehr als 40.000 Euro Promotionsstipendium zahlte, noch nicht erklärt, was die Politikerin in dieser Zeit überhaupt an Forschungsergebnissen und schriftlichem Material vorlegte. „Doktorandin des Völkerrechts“ bleibt deshalb bis auf weiteres ein Gerücht. Auch nach umfangreichen Aufräumarbeiten findet sich also noch genügend von der alten Annalena Baerbock und ihrer Neigung zur Wichtigkeitssimulation.
Was steht in den sonstigen Texten, also den berühmten Sachthemen? Ganz oben rangiert bei ihr selbstverständlich der Punkt „Klimaschutz“.
„Wer den Ernst der Lage verstehen will“, heißt es dort, „muss nur einen Blick in die Nachrichten werfen. Hitzesommer, Rekordstürme, Waldbrände ungekannten Ausmaßes, Überschwemmungen, Landschaften und Tierarten, die für immer verschwinden. Das alles geschieht tagtäglich, vor unseren Augen.“
Tagtäglich Stürme, Waldbrände, Überschwemmungen – das ist eine grobe Übertreibung. Dass Waldbrände in Australien, Kalifornien und Brasilien tatsächlich heute ein „ungekanntes Ausmaß haben“ – für diese im alarmistischen Milieu immer wieder verbreitete Behauptung gibt es kein Beleg. Ebenso wenig wie für die exklusiv klimaerwärmungsbedingte Zunahme von Überschwemmungen. Der Deutsche Wetterdienst weist für Deutschland darauf hin, dass die Niederschlagsmenge seit 1880 moderat um 10 Prozent gestiegen ist – allerdings im Winter. Für den Sommer zeigt sich kein Trend.
Tierarten, die für immer verschwinden – dieses Phänomen gibt es natürlich (so, wie auch jedes Jahr hunderte Tierarten entdeckt werden). Aber sterben Tierarten tatsächlich wegen der Klimaerwärmung um bisher etwa 1,2 Grad seit 1860 aus? Die einschlägigen Warnungen des IPCC beziehen sich regelmäßig auf die Zukunft, formuliert im Konjunktiv. In seinen Veröffentlichungen weist das Klima-Gremium immer wieder darauf hin, dass viele Faktoren eine Rolle spielen, wenn Arten verschwinden, und die Datenlage bisher dürftig ist.
Schon im Jahr 2014 relativierte das IPCC seine Prognosen zum klimabedingten Artensterben stark. Bis jetzt gibt es keinen einzigen Fall, in dem sich das Aussterben auch nur einer Tierart monokausal auf die Klimaerwärmung zurückführen lässt.
„Als Folge von Dürre und Trockenheit vernichteten Buschbrände 2020 in Australien 21 Prozent des gesamten Mischwaldes auf dem Kontinent“, heißt es bei Baerbock. Das klingt gewaltig. Allerdings gehen alle Fachleute davon aus, dass sich der größte Teil des abgebrannten Wald- und Buschlands in den kommenden Jahren wieder erholen wird, so wie nach bisher allen Bränden in Australien, die seit Jahrhunderten zur Natur des Kontinents gehören
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Im Text der Kanzlerkandidatin geht es weiter:
„Wir müssen die Klimakrise als einen zentralen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte verstehen, der eine zweite industrielle Revolution möglich macht und eine Epoche großer Innovationen und Erneuerung einleitet. Wir stehen vor dem Übergang in ein neues Zeitalter, in dem die Menschheit nicht länger fossile Energien wie Kohle, Gas und Öl verbrennen muss, um Energie zu gewinnen.“
In Deutschland deckt Energie aus fossilen und nuklearen Quellen insgesamt noch gut 84 Prozent des Verbrauchs. Darüber, wie sie diesen nicht ganz kleinen Teil ohne nennenswerte Speicher innerhalb weniger Jahre durch schwankenden Wind- und Sonnenstrom zu ersetzen gedenkt, findet sich bei Annalena „hört auf unsere Sachthemen“ Baerbock überhaupt nichts. Noch nicht einmal eine Andeutung.
Dafür fordert sie, die gesamte Gesellschaft habe sich in Zukunft diesem nicht näher ausbuchstabierten Klimaschutz zu unterwerfen: „Damit diese Entwicklungen nicht im Klein-Klein ersticken, müssen wir Klimaschutz jetzt zu unserem Leitstern machen, an dem wir unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ausrichten.“ Im Klimakapitel auf ihrer Webseite findet sich außerdem ein merkwürdiger Satz, dem ein Stück zu fehlen scheint:
„Ich setze mich dafür ein, dass Unternehmen, die nachhaltigen Konzepte und Produkte entwickeln, die auf dem Weltmarkt nachgefragt werden und so die Arbeitsplätze der Zukunft schaffen.“
Ein Passstück könnte lauten: „gefördert werden“. Allerdings wäre dann der Sinn immer noch dunkel. Wenn Unternehmen schon nachhaltige Konzepte entwickeln und ihre Produkte auf dem Weltmarkt loswerden – worin genau sieht Baerbock dann die Rolle der Politik? Etwas später heißt es dann:
„All jene die sich auf den Weg machen, müssen gefördert werden.“
Wie reimt sich das mit ihrer Erwartung, dass die ökologisch vorbildlichen Erzeugnisse aus Deutschland und der EU international nachgefragt werden? Wozu dann eine flächendeckende Förderung? Vermutlich würde sie unwirsch auf diese Fragen reagieren. Denn sie weiß:
„Wie die Klimakrise sind auch die Antworten längst da.“
Wer eine Politikerin wählen will, die alle Antworten unter dem einen Leitstern schon kennt, ist bei ihr also an der richtigen Adresse.
Etwas abenteuerlicher wird es noch in ihrem Programmteil in leichter Sprache. Hier sollten Sachverhalte einfach formuliert sein – aber eben nicht falsch.
„Dort wo früher die Küste war, ist heute schon das Meer.
Dann verlieren viele Menschen ihr Haus“, heißt es dort beispielsweise über den Klimawandel und den Meeresspiegelanstieg. Der beträgt laut NASA allerdings im Schnitt von 1900 bis 2020 etwa 200 Millimeter. Ein deutlicher Anstieg ohne Zweifel. Aber eben nicht so viel, dass schon große Landstriche vom Meer geschluckt würden. Ihre Behauptung illustriert sie mit einem Foto, das eine überflutete Stadt zeigt – allerdings nicht an der Seeküste.
In dem Abschnitt in leichter Sprache, der sich mit Verfassungsrecht beschäftigt, heißt es:
„Die Grund-Rechte gelten für alle Menschen in Deutschland.
Aber: Das Grund-Gesetz spricht nur von Erwachsenen.
Wir Grüne finden: Das ist unfair!“
Was reiner Unsinn ist, egal in welcher Sprachvariante. Und unlogisch dazu: Wenn Grundrechte für alle gelten, dann sprechen die Gesetzestexte offenbar auch alle Bürger an, einschließlich Kinder, es sei denn, es geht beispielsweise um das Wahlrecht, für das eine Altersbegrenzung gilt.
Merkwürdig mutet auch Baerbocks Verfassungsdefinition in Leichtsprache an:
„Das wichtigste Gesetz in Deutschland ist das Grund-Gesetz.
Alle müssen sich an das Grund-Gesetz halten.“
Nein, müssen sie nicht. Bei den Grundrechten handelt es sich um Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das Recht etwa auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) oder die das Gleichbehandlungsgebot (Artikel 3)bindet den Staat, nicht seine Bürger. Verfassungsartikel zum Staatsaufbau, etwa zu Wahl und Rechten des Bundespräsidenten, richten sich wiederum nicht an alle. Für eine Kandidatin, die öffentliches Recht als Nebenfach ausdrücklich in ihrer Bildungsbiografie erwähnt, ist dieses Verfassungsmissverständnis erstaunlich. Andererseits klärte sie ja kürzlich schon darüber auf, dass laut Grundgesetz, „Frauen bevorzugt werden müssen“. Jedenfalls nach ihrem persönlichen Verfassungsexemplar
Übrigens erläutert die Bundeszentrale für politische Bildung Kindern das Grundgesetz auf genau die gleiche Weise falsch, indem es den Unterschied zwischen Bürgerrechten und Staatspflichten einfach planiert. Dabei wäre die passende Formulierung auch in einfacher wie in normaler Sprache einfach: Die Grundrechte im Grundgesetz sagen, dass der Staat nicht alles darf.
Für eine Politikerin, die eine ganze Gesellschaft unter den Leitstern ihrer Partei stellen will, ist das natürlich kein Gedanke, den sie weiter vertiefen möchte. Dem „Tagesspiegel“ erklärte sie gerade unter dem Leitsterngedanken „ich mache Politik als Mensch“, dass sie die grüne Regierungsbeteiligung nutzen will, um Gesetzestexte künftig zu gendern.
Wer sich also schon gesorgt haben sollte, dass Annalena Charlotte Alma Baerbock nach zehn Wochen Wahlkampf nicht mehr die alte sein könnte, der kann sich beruhigen. Es ist noch alles da: Die Vita, der sie allen Widrigkeiten zum Trotz immer noch reichlich warme Luft unterhebt. Ihre so ganz eigene Mischung aus Zielgruppenpopulismus und Faktenschwäche. Und selbstverständlich der eine Leitstern für alle.
Da es bei der oben geschilderten Verschwörung gegen die Grünen als Ganzes geht, die am Themensetzen gehindert werden, gilt der letzte Blick dieser Wahlkampfrezension dem Politiker, der angeblich noch kurz vor Schluss als Kanzlerkandidat einspringen könnte, nämlich Robert Habeck. Der mit einiger Wahrscheinlichkeit nächste Bundesfinanzminister twitterte vor einigen Tagen seine Politikvorstellung:
Die CO2-Abgabe bleibt also beim Staat – wo denn auch sonst? – , soll aber „kreditfinanziert“ an die Bürger zurückgegeben werden. Mit anderen worten: das Volumen der neuen Abgabe würde Habeck gern der nächsten Generation noch in Gestalt von Schulden aufladen. Der Leitstern halt, Sie verstehen? (Später sagte Habeck, der Tweet sei inhaltlich falsch und ein Fehler seiner Presseleute gewesen. Immerhin machte er weder Geheimdienste noch das Netz dafür verantwortlich.)
Unter dem Strich ist es für die Grünen wahrscheinlich gar nicht so schlecht, dass mit Hilfe ihres Milljöhs so viel über chinesische Geheimdienstvisiere, grünenfeindliche Verschwörungen und Baerbocks Buch diskutiert wird. Und weniger über das, „was ich mit diesem Land machen will“ (Baerbock).
Wenn es auch dadurch im September nicht zur grünen Kanzlerschaft reicht, werden die Wohlgesinnten an der Ericusspitze und im WDR wahrscheinlich auch weiter beziehungsweise erst Recht narratieren, dass es an den böswilligen verdeckten und verschütteten Sachthemen der Grünen lag. Oder an etwas ganz anderem. Jedenfalls nicht an Kandidaten und Programm.
Wie man im Wahlkampf auf Inhalte hinweist resp. ein Zeichen setzt, das macht übrigens dieser Satiriker aus Schleswig-Holstein vor.
Wäre sie mit Personal und Infrastruktur nicht gerade so überfordert, könnte sich die Zentrale der Grünen daran ein Beispiel nehmen.