Tichys Einblick
Eingestürzte Carolabrücke

Dresden zeigt: Deutschlands Bröckel-Brücken sind lebensgefährlich

Der plötzliche Kollaps der Carolabrücke ist eine letzte Warnung: Gut 4.000 dieser Bauwerke gelten bundesweit als marode. Die verschlissene Infrastruktur gefährdet mittlerweile den Wirtschaftsstandort.

Teile der Carolabrücke über der Elbe sind eingestürzt, dahinter ist die Staatskanzlei zu sehen. (Luftaufnahme mit Drohne)

picture alliance/dpa | Robert Michael

Kurz nach drei Uhr morgens geschah in Dresden das, was Ingenieure und zuständige Politiker in Deutschland seit Jahren zu Recht fürchten: der erste Einsturz einer maroden Betonbrücke. Der etwa 100 Meter lange Teil C der Carolabrücke im Stadtzentrum krachte in die Elbfluten – 18 Minuten, nachdem noch eine Straßenbahn die Flussquerung passiert hatte.

Alles in allem passierte das Unglück unter glücklichen Umständen: Tagsüber rollen etwa 30.000 Fahrzeuge über das Bauwerk – eine der vier stark frequentierten Dresdner Innenstadtbrücken. Und auch ein Kollateralschaden hätte sich zu einem anderen Zeitpunkt sehr viel schlimmer auswirken können: Durch den Einsturz riss auch eine Fernwärmeleitung ab. Im milden September halten sich die Folgen der Fernwärmeunterbrechung für tausende Wohnungen noch in Grenzen. In kalten Wintertagen hätte der plötzliche Stopp der Wärmeversorgung leicht zu einer Katastrophe führen können.

Der plötzliche Kollaps des 32 Meter breiten Spannbetonbauwerks lenkt die Aufmerksamkeit auf ein gravierendes Problem der deutschen Infrastruktur: Die meisten seiner fluss- und talüberspannenden Verkehrsbrücken stammen wie die Carolabrücke – Bauzeit 1967 bis 1971 – aus den sechziger und siebziger Jahren. Ein halbes Jahrhundert später leiden die Konstruktionen unter Korrosion der Stahlteile und tiefen Rissen im Beton. Die Brücken verschleißen wie alle Bauwerke. Allerdings kommt bei ihnen eine Besonderheit dazu: Ihre Konstrukteure entwarfen sie vor 50 Jahren für sehr viel geringere Verkehrsströme. Dass heute zwei- bis dreimal so viele Fahrzeuge hoch über Wasserläufe und Täler rollen, verkürzt die Lebenszeit der Brücken enorm.

Nach den Zahlen des Bundesverkehrsministeriums gelten etwa 16.000 der insgesamt 130.000 deutschen Verkehrsbrücken als sanierungsbedürftig, davon 4.000 als marode. Eigentlich bräuchte Deutschland schon seit mindestens 20 Jahren ein gewaltiges Brückenneubau-Programm. Das scheitert allerdings, wie etliche Beispiele zeigen, nicht nur an jahrelang viel zu geringen Infrastruktur-Ausgaben, sondern auch an Bau- und Umweltvorschriften, die fast jede Neuerrichtung extrem in die Länge ziehen. Bis jetzt findet noch nicht einmal eine systematische Erfassung der Schäden statt.

Dass es deshalb bisher noch keine Toten gab, grenzt an ein Wunder. Am 18. Juni 2021 etwa warnten nicht Ingenieure vor der akuten Baufälligkeit der Salzbachtalbrücke in Wiesbaden, sondern die Brücke selbst: Kiloschwere Betonbrocken stürzten von ihrer Unterseite auf die darunter liegende Fahrbahn, glücklicherweise, ohne dort jemand zu treffen. Ein Untersuchungsteam kam schnell zu dem Schluss, dass es um das Bauwerk aus dem Jahr 1963 sehr viel schlimmer stand als gedacht.

Durch Sanierung, so die Fachleute, lasse sich der Bau nicht mehr retten. Im Dezember 2021 musste die Brücke gesprengt werden. Ohne den Absturz der Teile und die folgende Sperrung wäre sie womöglich wie die Carolabrücke später schlagartig eingestürzt. An der alten Salzbachtalbrücke, die Wiesbaden mit der Frankfurter Seite verband, zeigt sich Deutschlands Brücken-Problem besonders anschaulich: Ihre Architekten und deren Auftraggeber rechneten in den sechziger Jahren gerade einmal mit 20.000 Fahrzeugen pro Tag.

Woran das dringend nötige Brückenprogramm für Deutschland bisher scheitert, lässt sich am besten am Fall der Rahmedetalbrücke bei Lüdenscheid beobachten: erstens absurd lange Entscheidungsvorgänge, zweitens noch längere Bauzeiten. Und drittens an Politikern, die das Thema nicht ganz weit oben auf die Agenda setzen, obwohl die Bröckel-Brücken nicht nur Menschenleben gefährden, sondern mittlerweile auch den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die viel befahrene Autobahnbrücke in NRW, Bauzeit 1965 bis 1968, erhielt bei einer Überprüfung schon 2011 die Note „nicht ausreichend“.

Immerhin folgte 2014 der Beschluss, eine Ersatzbrücke zu errichten. Dann geschah erst einmal: nichts. Die alte Talquerung der A45 verfiel weiter vor sich hin. Mit dem Neubau ging es trotzdem nicht los. Im Dezember 2021 wies das Bauwerk dann so gravierende Statikprobleme auf, dass nichts anderes übrigblieb, als sie sofort zu sperren – und damit die A45 von heute auf morgen zu unterbrechen. Aber selbst dann dauerte es noch eineinhalb Jahre bis zur unumgänglichen Brückensprengung. Und erst 2023 begann der Ersatzneubau – immerhin neun Jahre nach der Beschlussfassung.

Von Glück im Unglück können die Dresdner noch aus einem anderen Grund reden: Immerhin entstand mit der Waldschlösschenbrücke vor Jahren eine neue Flussquerung – und zwar gegen den heftigen Widerstand der linken Stadtratsmehrheit, die den Bau mit allen Mitteln zu verhindern suchte. In zwei Bürgerentscheiden stimmte eine deutliche Mehrheit der Dresdner für den Bau, der sich dann wegen mehrerer Klagen von 2007 bis 2013 hinzog. Der Neubau weiter südlich, den pro Tag im Schnitt 34.000 Fahrzeuge nutzen, entlastete damals die Carolabrücke um 5000 Automobile täglich. Ohne die Waldschlösschenbrücke wäre die Carolabrücke also aller Wahrscheinlichkeit sogar schon früher kollabiert – und der Dresdner Stadtverkehr gleich mit.

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