Es braut sich ein Sturm zusammen am Horizont der europäischen Geldpolitik. In Karlsruhe ist, so kann man es wohl sagen, am 5. Mai 2020 eine Grundsatzentscheidung getroffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstagvormittag erstmals gegen die von Mario Draghi begonnenen und von seiner Nachfolgerin Christine Lagarde fortgeführten Krisenmaßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) interveniert und die mittlerweile leider billionenschweren Käufe von Staatsanleihen deutlich beanstandet.
Im Zentrum des Rechtsstreits steht das sogenannte „Public Sector Purchase Program“ (PSPP), mit welchem die EZB seit 2015 Staatsanleihen von Euroländern im Wert von über 2 Billionen Euro aufgekauft hat. Dagegen wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben, so auch vom langjährigen CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, der auch in seiner Zeit im Deutschen Bundestag engagiert gegen das Schleifen der Nichtbeistandklausel (no-bailout) und die Schuldenvergemeinschaftung in der Eurozone eintrat. Diesen Verfassungsbeschwerden gaben die Karlsruher Richter nun mit 7:1 Stimmen größtenteils statt. Wenn man einen Maßstab für die Deutlichkeit dieser Entscheidung sucht: Mit 7:1 siegte auch die deutsche Fußballnationalmannschaft im Halbfinale der WM 2014 gegen Brasilien.
Man muss sich dieses Urteil denn auch ordentlich auf der Zunge zergehen lassen. So verstoße der Anleihenkauf der EZB teilweise gegen das Grundgesetz. Unser deutsches Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kann freilich der EZB als supranationaler Institution keine verbindlichen Vorgaben machen. Wohl aber der Deutschen Bundesbank, deren Mitwirken am PSPP als teilweise verfassungswidrigem Programm damit infrage steht. Die EZB habe das Programm nur unzureichend damit begründet, dass sie ihr Inflationsziel von zwei Prozent für die Eurozone nicht anderweitig erreichen könne. Jedoch hätten es die Währungshüter versäumt, dieses Ziel gegen andere Folgen abzuwägen, obwohl diese auf die eine oder andere Weise „nahezu alle Bürgerinnen und Bürger“ beträfen. Dies seien erstens Banken, welche ihre „risikobehafteten Staatsanleihen in großem Umfang“ an die EZB abgeben könnten, um so die eigene Bonität künstlich aufzubessern.
Was dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jedoch seine Brisanz gibt, ist die Tatsache, dass es sich damit nicht nur gegen die EZB stellt, sondern auch dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ordentlich eins mitgibt.
Die Richter in Luxemburg sahen die Sache Ende 2018 nämlich noch deutlich entspannter als ihre deutschen Kollegen und wollten nicht erkennen, dass die EZB ihr Mandat überschritten habe. Damit setzten sich die Richter am EuGH sehr brüsk über die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts hinweg. Dies nahmen die deutschen Richter nun nicht mehr hin. Die Entscheidung des EuGH zum PSPP sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, weil sie die tatsächlichen Auswirkungen des Programms vollständig ausklammere. Diese seien jedoch, wie zuvor dargestellt, erheblich und könnten ähnliche Auswirkungen wie die direkten Finanzhilfen aus dem Stabilitätsfonds ESM haben. Diese Feststellung ist beachtlich, hat doch der EuGH in solchen europarechtlichen Fragen für gewöhnlich das letzte Wort.
Um überhaupt von der Entscheidung des EuGH abweichen zu können, musste das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass im Urteil des EuGH ein „ausbrechender Rechtsakt“ („ultra vires“) zu sehen sei. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine EU-Institution den ihr von den Mitgliedstaaten zugewiesenen Kompetenzrahmen überschreitet. In diesem Fall muss das Bundesverfassungsgericht nach seiner geltenden Rechtsprechung einschreiten, um die Grundrechte der Deutschen zu schützen. Ein solcher ausbrechender Rechtsakt, so betonte Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle, könne in Deutschland keine Wirkung entfalten.
Angesichts dieser Begründung wird man wohl ordentlich geschluckt haben im EZB-Elfenbeinturm im Frankfurter Ostend.
Ohnehin sind die Wurzeln des Problems längst systemischer Natur. Mit den Worten „whatever it takes“ kündigte Lagardes Vorgänger Mario Draghi am 26. Juli 2012 wortgewaltig an, dass von jetzt an die Notenbank das Euro-Krisenmanagement übernehmen würde. Und Draghi ließ seinen Worten Taten folgen. Am 6. September 2012 machte der EZB-Rat den Weg für Outright Monetary Transactions (OMT) frei. Mit diesem neuen geldpolitischen Instrument durfte die EZB fortan unbegrenzt Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen, vorausgesetzt der betroffene Staat erhielt bereits EFSF- oder ESM-Hilfen. Mit dieser Konditionalität wurde die strikte Trennung von Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik in der Eurozone aufgehoben. Die EZB übernahm zunehmend originäre Aufgaben der Politik, indem sie nicht nur den geldpolitischen Rahmen setzte, sondern ihn auch mit Inhalt füllte. Im EZB-Rat gab es aus diesem Grund genau eine Gegenstimme gegen den OMT-Beschluss. Sie kam von Bundesbankpräsident Dr. Jens Weidmann. „Whatever it takes“ wurde so leider zum Standardrepertoire der EZB.
Schon gegen den OMT-Beschluss der EZB, ersichtlich ein „älterer Bruder von PSPP“, wurde vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben.
Bereits im Januar 2014 äußerte das Gericht starke Zweifel an der Rechtmäßigkeit des neuen EZB-Programms. Damals gab Karlsruhe in einer historischen Entscheidung bekannt, dass es das OMT-Programm mehrheitlich für rechtswidrig hält. So hieß es unter anderem: „Der OMT-Beschluss dürfte nicht vom Mandat der Europäischen Zentralbank gedeckt sein. Die Währungspolitik ist nach Wortlaut, Systematik und Zielsetzung der Verträge insbesondere von der primär den Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik abzugrenzen. […] Für die Einordnung des OMT-Beschlusses als wirtschaftspolitische Maßnahme spricht die unmittelbare Zielsetzung, Zinsaufschläge auf Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes zu neutralisieren. […] Auch der selektive Ankauf von Staatsanleihen nur einzelner Mitgliedstaaten ist ein Indiz für die Qualifikation des OMT-Beschlusses als wirtschaftspolitische Maßnahme, denn dem geldpolitischen Handlungsrahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken ist eine zwischen einzelnen Mitgliedstaaten differenzierende Vorgehensweise grundsätzlich fremd. Die Parallelität mit Hilfsprogrammen der EFSF bzw. des ESM sowie das Risiko, deren Zielsetzung und Auflagen zu unterlaufen, erhärten diesen Befund. Der vom OMT-Beschluss vorgesehene Ankauf von Staatsanleihen zur Entlastung einzelner Mitgliedstaaten erscheint insoweit als funktionales Äquivalent zu einer Hilfsmaßnahme der genannten Institutionen – allerdings ohne deren parlamentarische Legitimation und Kontrolle.“ Das war eindeutig.
Leider fehlte dem Bundesverfassungsgericht damals der Mut, eine Kehrtwende in der falschen Euro-Rettungspolitik zu erzwingen. Denn das deutsche Gericht bat nachfolgend den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um eine Überprüfung des Sachverhalts. Der EuGH geht aber seit jeher sehr wohlwollend mit Institutionen der Europäischen Union um. Schon damals hatte ich wenig Zuversicht, dass der EuGH die EZB wieder auf den Boden ihres Mandates zurückholen würde. Und dies nicht nur, weil der EuGH-Präsident bis 2015 Vassilios Skouris hieß. Und so plädierte der EuGH-Generalstaatsanwalt Cruz Villalón im Januar 2015 auf einen „Freispruch erster Klasse“ für die EZB. Während sich unsere Karlsruher Richter tief in die Materie eingearbeitet hatten, gab Villalón der EZB einen Blankoscheck. Hinsichtlich der Kontrolle der Zentralbank sei Zurückhaltung geboten, da den Gerichten die Spezialisierung und Erfahrung dafür fehle. Die rechtsstaatlich gebotene Rückbindung des Handelns der EZB an das Recht wurde durch ein „Not kennt kein Gebot“ ersetzt. In einfacher Sprache ausgedrückt, war die Argumentation der Luxemburger: Da keiner in Europa mehr von Geldpolitik versteht als die EZB und diese behauptet, es handle sich um Geldpolitik, dann ist es auch Geldpolitik und liegt damit innerhalb ihres Mandates – und wenn es noch so sehr nach Fiskalpolitik aussieht. Am 21. Juni 2016 fällte das Bundesverfassungsgericht dann sein Urteil. Die Verfassungsbeschwerden wurden für unzulässig erklärt. Das Urteil hat mich damals enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Argumentation des EuGH übernommen. Karlsruhe hatte zwar leichte Bedenken gegen die Anleihenkäufe der EZB geäußert. Letztendlich hat das Bundesverfassungsgericht den Machtkampf mit dem Europäischen Gerichtshof damals jedoch noch gescheut. Man konnte sich ein wenig damit trösten, dass die Wirksamkeit von OMT in seiner Ankündigung lag, es jedoch nie genutzt wurde.
Für die verfassungsrechtlich angegriffene Sache hilft es oft wenig, auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Monate oder Jahre später zu hoffen. Dann ist die Messe in den meisten Fällen längst gelesen. Die deutsche Politik, also Regierung und Parlament, müssen sich endlich ihrer Verantwortung bewusst werden und dürfen sich nicht wegducken. Die Deutsche Mark und die Deutsche Bundesbank als erfolgreichste Zentralbank Europas nach dem Zweiten Weltkrieg waren einst das Vorbild für den Euro und die EZB. Die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Politik war von breiter Zustimmung unserer Bevölkerung getragen, die während mehrerer Inflationen gelernt hatte, dass man die Regierung besser von der Notenpresse weghält. Die Verleihung einer solchen machtvollen Position ohne parlamentarische Kontrolle muss aber strikt an die Beschränkung auf das Mandat zur Erhaltung der Preiswerstabilität rückgebunden sein. Wer Wirtschaftspolitik betreiben will, möge sich in den parteilpolitischen Wettstreit begeben und sich alle vier Jahre dem Bürger zur Wahl (oder auch Abwahl) stellen. Aus diesem Grund steht die EZB in Frankfurt. Heute steht die EZB eher in der Traditionslinie der Banca d´Italia. Und das schlimmste ist, dass unser Bundesbankpräsident zunehmend marginalisiert, seine Positionen als „von gestern“ dargestellt werden. Als größter Anteilseigner am EZB-Kapital braucht Deutschland endlich ein Vetorecht. Es darf nicht sein, dass die Bundesbank im EZB-Rat von Malta und Zypern überstimmt werden kann.
Marode Krisenstaaten wie Italien oder Griechenland freuen sich hingegen über die künstlich niedrigen Zinsen. Die Zombievolkswirtschaften saugen sich wie toxische Schwämme mit der vom deutschen Steuerzahler garantierten Liquidität voll, während die EZB so langsam aber sicher zur Bad Bank für die überschuldeten Club-Med-Staaten verkommt.
Es bleibt nur zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht jetzt nicht plötzlich vor seiner neugewonnenen Courage zurückschreckt, sondern dem EuGH und der EZB in Zukunft noch deutlicher auf die Finger schaut!
Und mich beschämt es, dass wie schon beim Urteil zum Lissabonvertrag erneut das Bundesverfassungsgericht klarstellen muss, was Auftrag des gewählten Parlamentes ist.