Tichys Einblick
Putins nächste Expansion?

Die weißrussische Karte in der Ukraine

Weißrussland hatte strategische Bedeutung bei der Invasion der Ukraine als Truppensammlungsraum zum direkten Angriff auf Kiew. Aber auch das kleine Nachbarland Russlands und der Ukraine könnte bald in den Orbit Moskaus geraten.

IMAGO / SNA

Die Berichte mehren sich, dass russische Truppen bereits die Außenbereiche der ukrainischen Hauptstadt Kiew erreicht haben. Dieser schnelle Vorstoß wäre vermutlich in dieser Form nicht möglich gewesen ohne eine Macht, die in den letzten Monaten deutlicher in den Hintergrund getreten ist, aber eine nicht minder entscheidende Rolle spielt. Minsk hat nicht nur Weichen im Konflikt gestellt, sondern dürfte auch für die kommenden Geschehnisse eine Rolle spielen.

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Auf weißrussischem Territorium hatten Verbände aus Russland und Weißrussland noch vor nicht allzu langer Zeit Manöver abgehalten. Die russischen Truppen sind seitdem nicht wieder abgezogen. Minsk hat sich seit der Migrationskrise an der weißrussisch-polnischen Grenze immer mehr in die Umklammerung Moskaus begeben, eine Position, die Staatschef Alexander Lukaschenka in den vergangenen Jahrzehnten tunlichst vermieden hatte. Die berechtigte Sorge, dass das ökonomisch wie demographisch kleine Weißrussland in die Fänge des Kremls geraten könnte, hatte den Autokraten dazu bewogen, freundlichen Abstand zum großen Bruder im Osten zu wahren.

Mit der Eskalation des Migrationskonflikts an der Westgrenze der Nato hatte sich Lukaschenka jedoch übernommen und konnte sich wie schon bei der missglückten Revolution des Vorjahres nur auf die Stärke des russischen Bären verlassen. Das hat Minsk in eine Abhängigkeit gebracht, die sich nicht nur in der Funktion eines Aufmarschplatzes im Zuge des laufenden Ukraine-Krieges äußert. Nicht nur russische Truppen stehen vor Ort, sondern auch polizeiliche Sicherheitskräfte. Sie sollen das Referendum über die weißrussische Verfassung am kommenden Sonntag überwachen.

Fremde Truppen und fremde Polizisten auf ausländischem Staatsgebiet? Die CSTO als Sicherheitsbündnis, dem Russland und Weißrussland beide angehören, legitimiert Manöver und Truppenverschiebungen. Doch dass eine ausländische Partei die inneren Vorgänge kontrolliert, sollte verwundern. Besonders, wenn die Position Lukaschenkas auf eine Weise gestärkt werden soll, wie wir sie aus dem Russland Wladimir Putins kennen.

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Der letzte Beweis dafür, dass Putin ein Russland in den Ausmaßen von 1917, wenn nicht wenigstens dem in den Kerngrenzen der Sowjetunion erstrebt, wurde spätestens am Montag erbracht. Weißrussland ist in diesem historischen Verständnis ein Kerngebiet wie die Ukraine. Kein Zufall, dass Putin die Schwäche Lukaschenkas ausnutzte, indem er die alte, anberaumte Union der beiden Länder wieder ins Spiel brachte. Im November 2021 unterzeichnete Lukaschenka einen Vertrag, der eine engere Union vorsieht im Bereich Finanzen, Landwirtschaft, Industrie und Energie.

In diesem Kontext könnte demnach nicht nur die Ukraine, sondern auch Weißrussland bald Teil einer zweiten „Sammlung russischer Erde“ werden. In einem Artikel zum Jahrestag der Konferenz von Jalta brachte Putin nicht nur Überlegungen ein, die er schon in seinem langen historischen Diskurs vom Montag äußerte. Der historische Gegner des russischen Zarenreiches war die Union von Lublin, auch als Polen-Litauen bekannt. Es ist der Prototyp des „Westens“, der damals auch weite Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands beherrschte, Minsk und Kiew als Symbolstädte inklusive. Putin sieht sich offenbar in einem ähnlichen Konflikt wie Russland im 17. Jahrhundert, in dem als genuin russisch wahrgenommene Gebiete dem Westen entrissen werden müssen. Lukaschenka erscheint in diesem Geschichtsbild als feudaler russischer Fürst, den es zu integrieren gilt.

Ein gemeinsamer Waffengang ist ein häufiges Motiv, in dem die nationale Verbrüderung und staatliche Einheit zelebriert werden kann. In der deutschen Geschichte hat der Krieg von 1870/1871 eine solche Rolle besessen, an deren Ende die Proklamation des Kaiserreiches in Versailles stand. Lukaschenka behauptet bis dato, es befänden sich keine weißrussischen Soldaten unter den russischen Invasionstruppen. Doch mehrere Hinweise ukrainischer Beobachter bestätigen das Gegenteil. Und mittlerweile „überlegt“ Lukaschenka auch ganz offiziell die Russen zu „unterstützen“.

Die unmittelbare Bedrohung Kiews am ersten Tag der Invasion ist – ob nun direkt oder indirekt – nicht ohne Lukaschenka möglich gewesen. Putin hat aber zugleich mit seinem Drei-Fronten-Krieg klargemacht, dass er nicht in den Dimensionen einer simplen Annexion von Teilgebieten denkt, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Offenbar handelt es sich bei diesem Angriff um einen von ihm herbeigeführten „historischen Augenblick“, in dem es nicht allein um die Zerstückelung eines Nachbargebietes geht, sondern um den Beginn der Wiederherstellung des russischen Imperiums.

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Dessen integraler Bestandteil ist neben der Ukraine auch Weißrussland. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Minsk und Moskau bereits einen unausgesprochenen Deal haben, Lukaschenka auch mithilfe russischer Sicherheitskräfte an der Spitze zu behalten, um die Transition Weißrusslands in den russischen Orbit zu vollenden. Der Westen, der schon bei einem offenen Krieg im Nachbarland geschwiegen hat, dürfte bei dieser erzwungenen, aber vermutlich deutlich friedlicheren Wiederherstellung des Zarenreichs ebenso schweigen, wie er heute schweigt, sieht man von gespielter Empörung und Sanktionsforderungen ab.
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