Die Berichte mehren sich, dass russische Truppen bereits die Außenbereiche der ukrainischen Hauptstadt Kiew erreicht haben. Dieser schnelle Vorstoß wäre vermutlich in dieser Form nicht möglich gewesen ohne eine Macht, die in den letzten Monaten deutlicher in den Hintergrund getreten ist, aber eine nicht minder entscheidende Rolle spielt. Minsk hat nicht nur Weichen im Konflikt gestellt, sondern dürfte auch für die kommenden Geschehnisse eine Rolle spielen.
Mit der Eskalation des Migrationskonflikts an der Westgrenze der Nato hatte sich Lukaschenka jedoch übernommen und konnte sich wie schon bei der missglückten Revolution des Vorjahres nur auf die Stärke des russischen Bären verlassen. Das hat Minsk in eine Abhängigkeit gebracht, die sich nicht nur in der Funktion eines Aufmarschplatzes im Zuge des laufenden Ukraine-Krieges äußert. Nicht nur russische Truppen stehen vor Ort, sondern auch polizeiliche Sicherheitskräfte. Sie sollen das Referendum über die weißrussische Verfassung am kommenden Sonntag überwachen.
Fremde Truppen und fremde Polizisten auf ausländischem Staatsgebiet? Die CSTO als Sicherheitsbündnis, dem Russland und Weißrussland beide angehören, legitimiert Manöver und Truppenverschiebungen. Doch dass eine ausländische Partei die inneren Vorgänge kontrolliert, sollte verwundern. Besonders, wenn die Position Lukaschenkas auf eine Weise gestärkt werden soll, wie wir sie aus dem Russland Wladimir Putins kennen.
In diesem Kontext könnte demnach nicht nur die Ukraine, sondern auch Weißrussland bald Teil einer zweiten „Sammlung russischer Erde“ werden. In einem Artikel zum Jahrestag der Konferenz von Jalta brachte Putin nicht nur Überlegungen ein, die er schon in seinem langen historischen Diskurs vom Montag äußerte. Der historische Gegner des russischen Zarenreiches war die Union von Lublin, auch als Polen-Litauen bekannt. Es ist der Prototyp des „Westens“, der damals auch weite Teile der heutigen Ukraine und Weißrusslands beherrschte, Minsk und Kiew als Symbolstädte inklusive. Putin sieht sich offenbar in einem ähnlichen Konflikt wie Russland im 17. Jahrhundert, in dem als genuin russisch wahrgenommene Gebiete dem Westen entrissen werden müssen. Lukaschenka erscheint in diesem Geschichtsbild als feudaler russischer Fürst, den es zu integrieren gilt.
Ein gemeinsamer Waffengang ist ein häufiges Motiv, in dem die nationale Verbrüderung und staatliche Einheit zelebriert werden kann. In der deutschen Geschichte hat der Krieg von 1870/1871 eine solche Rolle besessen, an deren Ende die Proklamation des Kaiserreiches in Versailles stand. Lukaschenka behauptet bis dato, es befänden sich keine weißrussischen Soldaten unter den russischen Invasionstruppen. Doch mehrere Hinweise ukrainischer Beobachter bestätigen das Gegenteil. Und mittlerweile „überlegt“ Lukaschenka auch ganz offiziell die Russen zu „unterstützen“.
Die unmittelbare Bedrohung Kiews am ersten Tag der Invasion ist – ob nun direkt oder indirekt – nicht ohne Lukaschenka möglich gewesen. Putin hat aber zugleich mit seinem Drei-Fronten-Krieg klargemacht, dass er nicht in den Dimensionen einer simplen Annexion von Teilgebieten denkt, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Offenbar handelt es sich bei diesem Angriff um einen von ihm herbeigeführten „historischen Augenblick“, in dem es nicht allein um die Zerstückelung eines Nachbargebietes geht, sondern um den Beginn der Wiederherstellung des russischen Imperiums.