Was CDU und CSU können, das können die Genossen auch. Zuerst hatten die beiden C-Parteien miteinander sondiert, wie man beim Thema Flüchtlinge und Zuwanderung auf einen gemeinsamen Nenner kommen kann. Jetzt sondierten die Sozialdemokraten untereinander, was sie eigentlich machen sollten oder wollen: den Gang in die Opposition, die Tolerierung einer Minderheitsregierung, eine punktuelle Kooperation mit der Union oder Neuwahlen. Ihr alter und neuer Parteivorsitzender war da keine Hilfe. Es gibt keine denkbare Variante, die Schulz seit dem 24. September nicht schon vertreten hat – jedes Mal mit der ihm eigenen Bedeutungsschwere.
Jetzt diskutierten die 600 Delegierten des SPD-Parteitags in Berlin stundenlang über den richtigen Weg – aus der eigenen Misere und zu einer neuen Bundesregierung. Linke gegen Rechte, Jusos gegen das Parteiestablishment, Pragmatiker gegen Ideologen. Wie zu erwarten, setzte die Parteispitze sich durch. Die SPD wird mit der CDU/CSU „ergebnisoffen“ sondieren, wie man ins Geschäft und Deutschland zu einer Regierung kommen kann.
Das Ergebnis ist eine Niederlage für die strikten GroKo-Gegner. Ergebnisoffen heißt: alles ist möglich, nichts ausgeschlossen. Schulz bat die Delegierten zwar um Vertrauen, aber die beharrten auf Kontrolle. Ein Sonderparteitag muss entscheiden, ob die Sondierungen in Koalitionsverhandlungen münden sollen. Sollte es zu einem Koalitionsvertrag kommen, müssen die Mitglieder entscheiden, ob der Vorsitzende den unterschreiben darf. Der treffende Begriff dafür „Betreutes Führen“.
Die SPD ist in einer stärkeren Position, als ihre 20,5 Prozent vermuten lassen. Da Angela Merkel deutlich gemacht hat, dass sie eine Minderheitsregierung scheut, kann die SPD den Koalitionsvertrag weitgehend diktieren. Diese Art der „Erpressung“ hat sie schon 2013 erfolgreich praktiziert. Wobei der Begriff Erpressung wohl zu hoch gegriffen ist. Wer nur noch so wenige ununterscheidbare politische Positionen einnimmt wie die Merkel-Union, ist im Grunde gar nicht erpressbar. Dafür ist die CDU zu flexibel.
Die SPD hat auf ihrem Parteitag in gewisser Weise ihre Handlungsfähigkeit zurückgewonnen, den Schock des 24. September hat sie aber noch lange nicht überwunden. Im Grunde ihres Herzens glauben die Genossen immer noch, ihr politisches Programm wäre an Attraktivität nicht zu überbieten. Umso schlimmer für die Wähler, dass sie das nicht verstehen und deshalb „falsch“ wählen. Schulz wies immerhin darauf hin, dass seine Niederlage die vierte Schlappe bei der vierten Bundestagswahl hintereinander war. Es war bezeichnend, dass keiner der mehr als 60 Diskussionsredner auf diese Feststellung einging.
Fürs Erste hat die SPD ihre Führungsfrage gelöst. Martin Schulz wurde mit 81,9 Prozent als Vorsitzender bestätigt. Das sind 18,1 Punkte weniger als die 100 Prozent auf dem Höhepunkt des Schulz-Hypes im März. Immerhin schnitt Schulz damit etwas besser ab als sein Vorgänger Sigmar Gabriel, der 2015 mit 74,3 Prozent abgestraft wurde. Andererseits ist noch kein SPD-Politiker so schnell so tief gefallen wie der Ex-Heilsbringer aus Würselen.
Nach den Gesetzen der Logik müsste Schulz eigentlich sagen, „ich habe fertig.“ Sein Einbruch beim eigenen Wahlergebnis entspricht prozentual den SPD-Verlusten bei der Bundestagswahl. Aus Letzterem schloss er wochenlang, die SPD habe vom Wähler keinen Auftrag zum Regieren bekommen. So besehen hat er vom Parteitag auch keinen Auftrag bekommen. Aber Schulz bleibt Schulz. Selbst wenn kaum noch jemand von ihm überzeugt zu sein scheint – er ist und bleibt es, und zwar zu 100 Prozent.