Stephan Kohn, der mittlerweile beurlaubte Beamte des Bundesinnenministeriums, wirkt wie eine Figur aus einem Text von Martin Walser. Der 57jährige Oberregierungsrat arbeitete in dem Bereich Kritische Infrastruktur. In dieser Eigenschaft verfasste er ein umfangreiches Papier, gestützt auf Zulieferungen mehrerer Wissenschaftler und Ärzte, das zusammengefasst die These vertritt: Das Herunterfahren der Wirtschaft wegen Covid-19 – der sogenannte Shutdown – ist unverhältnismäßig und dürfte am Ende mehr Schäden an Leben und Gesundheit anrichten als das Virus selbst. Seine Ausarbeitung verschickte Kohn innerhalb des Ministeriums, außerdem gab er sie an die Krisenstäbe des Bundesländer. Er wollte also unbedingt Öffentlichkeit für sein Papier herstellen. Der Beamte erhielt mittlerweile Tätigkeits- und Hausverbot, er musste seinen Dienstlaptop abgeben, ihn erwartet ein Verfahren, das seine bescheidene Ministeriumskarriere mit Sicherheit beenden wird, möglicherweise auch seine Existenz als Beamter.
Manches an seinem Papier mag sich in der Formulierung als zu pauschal herausstellen, etwa sein Urteil, es gebe „keinen vernünftigen Zweifel mehr, dass die Coronawarnung ein Fehlalarm war“; der Staat habe in der Coronakrise „in geradezu grotesker Weise versagt“. Staatliches Handeln mit einer Vorsicht, die sich später als übertrieben herausstellen kann, wäre angesichts eines bis vor kurzem noch unbekannten Virus nichts Verwerfliches. Allerdings hält Kohn der Bundesregierung auch keine böse Absicht vor.
Die Behauptung, ohne die drastischen Wirtschaftseinschränkungen wären die Infektionszahlen explodiert, steht also auf wackligem Grund. Der amerikanische Epidemologe John P. A. Ioannidis warf schon im März in einem Aufsatz die Frage auf, ob der Corona-Shutdown an einem bestimmten Punkt mehr schaden als nützen könnte, und verwies auf die schwache Datenbasis, auf die Politiker ihre Entscheidungen stützten: „Wie können politische Entscheider erkennen, ob sie mehr Schaden als Nutzen verursachen?“ (How can policymakers tell if they are doing more good than harm?“) Seine vorsichtige Antwort damals: Die Todesrate bezogen auf die Gesamtfälle, die so genannte Case Fatality Rate (CFR) liege bei Covid-19 deutlich niedriger als von der WHO zunächst angenommen, wahrscheinlich deutlich unter einem Prozent. Je länger Maßnahmen andauern, die den Lebensstandard von Millionen Menschen schlagartig verschlechtern, so Ioannidis, desto wahrscheinlicher, dass sich die Nebenwirkungen der Corona-Bekämpfungspolitik schlimmer auswirken als das Virus selbst. Inzwischen sprechen mehr Hinweise als noch im März dafür, dass die Befürchtung des Wissenschaftlers plausibel sind. John Ioannidis, der in Stanford lehrt, gehört zu den renommiertesten und am häufigsten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zitierten Epidemiologen weltweit. Auch darin liegt natürlich keine Garantie, dass er mit allem richtig liegt. Aber seine Bedenken lassen sich nicht ohne weiteres wegwischen, auch nicht andere Untersuchungen, die in seine Richtung deuten. Und auch nicht die Zusammenstellung des einzelnen Beamten aus Berlin.
Beides bestreitet niemand. Nur unterscheiden sich die Strategien von vergleichsweise sehr viel erfolgreicheren Ländern wie Südkorea und Taiwan in zwei wesentlichen Punkten: Sie führten schon Hygiene- und Quarantänemaßnahmen ein, als in Deutschland noch Großveranstaltungen stattfanden, verfügten aber nie einen Shutdown der Wirtschaft. Südkorea mit seinen 51 Millionen Einwohnern verzeichnet bis jetzt (18. Mai 2020) 263 Tote durch SARS-CoV-2, Deutschland bei 83 Millionen Einwohnern 7.977 Tote, Belgien beklagt mit 9.080 Toten bei gut 11 Millionen Einwohnern trotz eines rigiden Shutdowns sogar die weltweit höchste Opferrate im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Wirksam war und ist die wochenlange Stilllegung der Dienstleistungswirtschaft in Deutschland zweifellos, wie sich an 10 Millionen Kurzarbeitern und einem Steuerausfall von mindestens 100 Milliarden Euro ablesen lässt. Aber auch wirksam gegen die Virusausbreitung? Für einen ähnlich einschneidenden gesundheitlichen Effekt fehlt bisher, anders als bei den allgemeinen Quarantäne- und Hygienemaßnahmen, der Beleg. Jedenfalls führte das Bundesinnenministerium in seiner Stellungnahme keinen an. Die meisten Medien betonen, Kohn sei ein Sonderling, die Ausarbeitung habe er ohne Genehmigung verfasst. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert twitterte unter großem Hallo, er sei Kohns Ortsvereinsvorsitzender in Lichtenrade-Marienfelde, und hängte ein Bewerbungsvideo Kohns für den SPD-Parteivorsitz an. Offenbar hielt er das für einen wichtigen Fingerzeig auf die Verschrobenheit seines Genossen. Es beweist nur nichts für oder gegen dessen Thesen. Auch ein 57jähriger Oberregierungsrat kann in einem wesentlichen Punkt gegen den kompletten politischen Apparat Berlins Recht behalten. Was also, wenn genau das passiert?
Möglicherweise gilt dann frei nach Hegel: Umso schlimmer für den Oberregierungsrat. Die Frage nach dem Umgang mit Leuten wie Kohn und den Wissenschaftlern, die er in seinem Papier zitiert, führt weit über Corona hinaus. Wie verfahren diejenigen in Politik und Medien, die Definitionsmacht besitzen, mit Einwänden? Das mediale Verfahren lässt sich beispielhaft an einem Bericht der Tagesschau vom 10. Mai studieren, der das Papier aus dem Innenministerium mit so genannten Corona-Demonstrationen unter dem Stichwort „Verschwörungstheorien“ zusammenrührt. Über den Inhalt der Ausarbeitung erfahren die Zuschauer: nichts. Noch nicht einmal nichts: Der Sprecher serviert ihnen eine Metarealität.
„Ein Gegner der Coronamaßnahmen – ausgerechnet im Bundesinnenministerium: Er soll den Umgang mit Covid-19 als globalen Fehlalarm bezeichnet haben“, erklärt ein Tagesschau-Reporter, während Bilder einer Demonstration laufen:
„Seine Privatmeinung habe er mit einem offiziellen Briefkopf verschickt, heißt es in einer Pressemitteilung. Es ist der gleiche Tenor wie bei den Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen, etwa in Erfurt.“
Ein Demonstrant wird eingeblendet: „Ich hol‘ mir meine Informationen aus dem Internet. Das deckt sich nicht mit dem, was ich jeden Tag im Fernsehen und Presse serviert kriege.“
Dann wieder der Sprecher aus dem Off: „Ein Blick ins Internet zeigt, wo der Hass herkommt. Verschwörungstheoretiker hetzen derzeit vor allem gegen Bill Gates, der sich weltweit für Impfungen einsetzt und angeblich auch die Regierung und Medien manipuliere.“
Dazu zeigt die Tagesschau den Chef der Identitären Bewegung Österreichs, Martin Sellner, beim Reden im Grünen. Sellners Name wird nicht erwähnt, das Schnittmaterial ist alt und hat mit den aktuellen Coronademonstrationen in Deutschland nichts zu tun. Mit dem Papier von Kohn schon gar nichts. Dessen Inhalt stammt auch nicht „aus dem Internet“, sondern, siehe oben, von mehreren Wissenschaftlern und einem Arzt. „Hass“ und „Hetze“ findet sich darin nirgends. Mit ihren suggestiven Bildschnitten und Behauptungen suggeriert die Tagesschau aber, das sei der Fall, und die Identitären, die Demonstranten in Erfurt und anderswo und der Mann aus dem Innenministerium steckten unter einer Decke.
Die ARD-Sendung arbeitet also exakt nach dem Muster von Verschwörungstheoretikern: Unterstellen, behaupten, wider besseres Wissen zusammenmixen, was nicht zusammengehört.
Auch in Palmers Fall folgte keine Argumentation in der Sache. Noch nicht einmal die halbwegs korrekte Wiedergabe seiner Position. Stattdessen zitierten die meisten Medien und seine Gegner einen einzigen Satz von ihm, der isoliert von dem Rest so klang, als fordere er dazu auf, alten Infizierten mit Vorerkrankungen die medizinische Hilfe zu verweigern. Das war eine böswillige Unterstellung. Trotzdem brachten ihn andere Grüne, die ihn schon seit langem aus der Partei entfernen wollen, in Verbindung mit dem Begriff ‚Selektion’ und in die Nähe des Auschwitz-Arztes Josef Mengele. Hundert Mitglieder der Grünen, die den Ausschluss des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer aus ihrer Partei forderten, begründeten das mit der Feststellung, Palmer habe sich schon in der Migrationsdebatte als „unbelehrbar“ erwiesen. Womit sie noch einmal fürs Protokoll festhielten: Es geht ihnen um Belehrung, nicht um Argumentation. Denn ihre Aufforderung, Palmer auszuschließen, formulierten sie ähnlich argumentationsfrei wie das Bundesinnenministerium seine Stellungnahme zu Kohns Papier und die Tagesschau ihre Berichtssimulation zu ihrem selbstgewählten Thema ‚Verschwörungstheorien’.
Nach diesem Muster einer Spieluhr, die nur ein einziges Stück in petto hat, laufen gesellschaftliche Großdebatten in Deutschland nicht erst seit Corona ab.
Genau das schrieb kürzlich eine Spiegel-Journalistin über den Auftritt des Kabarettisten Matthias Richling bei Maischberger: Richling hatte dort die ähnliche Frage wie Palmer und andere nach den Kollateralschäden der staatlichen Corona-Maßnahmen gestellt (und übrigens COVID-19 mit einer Grippe verglichen, ungefähr so also wie Jens Spahn im Januar 2020). „Wer Faschisten in eine Diskussionsrunde einlädt“, so die Spiegel-Autorin, „legitimiert sie und ihre Position“ und „überlässt verantwortungslos viel Raum für Realitätsverweigerung“.
In seiner letzten Ausgabe nannte der Spiegel Leute wie Palmer „Dissidenten“. Der SPD-Abgeordnete Helge Lindh sagte in seiner Bundestagsrede, bei den Wissenschaftlern, die an dem verfemten Corona-Papier des Innenministeriums mitgearbeitet hatten, handele es sich um „renitente Wissenschaftler“, die „die Position der Bundesregierung vehement ablehnen“. Und deshalb handle es sich nicht um Wissenschaft.
Wäre es nach den gravierenden Fehleinschätzungen der politischen und medialen Elite zu Corona – „milder als eine Grippe“ (Spahn), „Masken nützen nichts“ (Spahn, Robert-Koch-Institut), „Grenzschließungen kein adäquates Mittel“ (Merkel) – wäre es nach all diesen erzwungenen Wendungen für diese Elite nicht naheliegend, etwas bescheidener aufzutreten und um Nachsicht für sich selbst und andere zu bitten?
Überhaupt nicht, meint der SPD-Politiker Karl Lauterbach in einem Zeit-Interview: „Ich finde nicht, dass wir eine Bringschuld haben, uns unters Volk zu mischen, um angebliche Versäumnisse wiedergutzumachen.“
Die politisch-mediale Elite des Landes präsentiert sich als erstaunlich homogene Gruppe, die kaum noch einen Dissens erträgt.
Wann begann diese erstaunliche Verkapselung?
Wahrscheinlich schon mit der so genannten Energiewende, in deren Verlauf Politiker und Journalisten erstaunliche Prognosen abgaben. Der grüne Strom werde billig sein – keine Erhöhung der EEG-Umlage bis 2020, so Merkel 2011 – , sollte es doch etwas mehr kosten, werde ein grünes Jobwunder alles wieder ausgleichen, die Energiewende werde Deutschlands „Exportschlager“ (Peter Altmaier) für die Welt sein: diese Erklärungen wurden wieder kassiert, aber eben stillschweigend, ohne Revision der Grundidee, und vor allem ohne die Frage, wie sich serielle Fehlentscheidungen auf die eigene politische Kreditwürdigkeit auswirken.
Mit der Migrationskrise von 2015 entstand dann endgültig der Zustand der institutionalisierten Debattenverweigerung, der das Land wahrscheinlich jetzt schon tiefer prägt als der Epochenbruch von 1968. Worin die Debatte hätte bestehen können, das blitzte für winzige Momente auf, die sofort wieder unter dem Schutt der Belehrungsdialoge begraben wurden. Die Zeit führte 2015 ein Interview mit dem britischen Migrationsforscher Paul Collier, einem Wissenschaftler, der darauf hinweist, dass eine unlimitierte Einwanderung von armen Ländern in reiche auf Dauer beiden schadet: den reichen, weil sie dort den Sozialstaat überdehnt, den armen, weil es eben nicht die ‚Ärmsten der Armen’ sind, die fortgehen, sondern die dortige Mittelschicht. Die Zeit-Redakteure fragten Collier damals, was er zu den Demonstrationen von Pegida sage, und erwarteten offenbar eine moralische Antwort. Collier sagte, die Proteste seinen die Folge einer unterbliebenen Debatte über Einwanderung in der Mitte der Gesellschaft. Aber darüber, so die Zeit-Interviewer, würde doch debattiert.
Collier: „Wir erleben eine emotionale, lächerliche und polarisierte Debatte. Sie gipfelt ständig in einer Frage: Ist Einwanderung gut oder schlecht? Die einen sind bedingungslos für mehr Einwanderung, die anderen lehnen sie ab. Dabei ist diese Frage Nonsens.“
Die in Wirklichkeit undebattierte Frage, so Collier, laute: „Wie viel Migration ist für alle am besten? Das ist die entscheidende Frage – und zwar sowohl für die reichen Länder, in die gewandert wird, als auch für die Herkunftsländer.“
Am 22. November 2017 veröffentlichte die FAZ einen Text des Hamburger Rechtsphilosophen Reinhard Merkel unter dem Titel: „Wir können allen helfen“. Darin schreibt er, die Grenzöffnungsentscheidung seiner Namensvetterin sei ein „moralisches Desaster“: während mit einer abstrakten Weltmoral jeder in Deutschland eingelassen und versorgt werde, der es bis zur Grenze schaffe, würden die viel Hilfsbedürftigeren völlig ausgeblendet, die gar nicht erst das Geld für einen Schlepper aufbringen könnten.
„Zum moralische Desaster wird die deutsche Migrationspolitik mit der nachgerade tragischen Fehlallokation der Mittel“, so Reinhard Merkel: „An die 300 Milliarden Euro werden die Aufnahme und die Versorgung schon der bisher Zugewanderten in den kommenden zehn Jahren kosten. In den oft bitterarmen Ländern ihrer Herkunft wäre dieses Geld das Zehn- bis Fünfzigfache wert. Damit ließe sich das Elend der Menschen dort, ja beinahe das der ganzen Welt in ungleich höherem Maße lindern als durch die Aufnahme und Versorgung jenes Bruchteils von ihnen, der es bis hierher geschafft hat.“
Wie heute bei der Frage der Corona-Maßnahmen und ihren Folgen ging es Collier und Merkel bei der Migrationsfrage um eine Abwägung, also um Dialektik. Beziehungsweise: darin hätte der Gegenstand eines echten Gesprächs bestanden.
Reinhard Merkels Text gehört zu den intelligentesten deutschen Wortmeldungen in der Migrationsdebatte. Und er blieb für diese Debatte völlig folgenlos. Er konnte zwar erscheinen, so, wie auch Collier seinen kurzen Auftritt hatte. Er ihm folgte weder ein politisches noch ein nennenswertes mediales Echo. Die wesentlichen Meinungspräger der Republik entschieden sich, diese Gedanken in eine schalltote Kammer zu sperren, und sich selbst und den öffentlichen Raum mit Formeln wie „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“ zuzudröhnen. Eine Formel wie „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“ enthält keine offene Frage. Es lässt sich darauf nichts Sinnvolles entgegnen. Sie tötet das Gespräch.
Exakt diesem Muster folgen die Wohlmeinenden vom Bundespräsidenten bis zum Qualitätsredakteur auch bei Corona. Den Koch Attila Hildmann für einen Trottel zu halten ist leichter, als ein totes Schaf zu treten. Das Interessante liegt nicht in der Erscheinung eines Attila Hildmann, der sich sicher ist, dass Bill Gates, Angela Merkel und andere Diktatoren die Weltbevölkerung dezimieren und den verbliebenen Nanochips einimpfen wollen. Diesen öffentlich anstarrbaren Phänotyp hält jede Gesellschaft gerade für Krankheits- und Krisenzeiten bereit. Merkwürdig ist es vielmehr, dass Medien, die sich viel auf die Erkenntnis zugutehalten, Hildmann sei ein esoterischer Trottel, ihrerseits Botschaften wie diese für völlig vernünftig halten:
Erstaunlicherweise merken die Debattensimulanten nicht, wie sehr sie in ihrer Gut-Böse-Aufteilung und ihrer völligen Fraglosigkeit denjenigen ähneln, die sie Seite an Seite bekämpfen. Auf wunderbare Weise bestimmt ein durchgedrehter Koch die wesentlichen Regeln der öffentlichen Kommunikation in Deutschland mit, mindestens so sehr wie ein Chefredakteur eines großen Mediums oder eine Talkshowgastgeberin.
So, wie Paul Collier 2015 in der Migrationsdebatte ein Phantom blieb, ein Wissenschaftler, der keiner Antwort gewürdigt wurde, bleibt der amerikanische Epidemologe John Ioannidis mit seinen Fragen nach Nutzen und Kosten der Corona-Maßnahmen ohne Echo. Er lässt sich schlecht als Leugner, Faschist, Regierungsgegner oder Aluhut brandmarken. Aber so zu tun, als gäbe es ihn und seine Fragen gar nicht (und als würden sich die Abwägungsfragen nicht auch ohne ihn stellen), dieses Mittel funktioniert immer, und die meinungsprägende Elite wendet es mittlerweile mit großer Routine an.
Diejenigen, die diese Fragen in die Abstellkammer schieben, haben sich entschieden, dass es besser ist, die Tür immer nur für die Eskamotierung der nächsten Frage ganz kurz zu öffnen, aber um Gottes Willen bloß nicht hineinzuschauen. Wo sollte man auch anfangen? Den wenigen Publizisten und sonstigen Einzelmeinern, die versuchen, diese Kammer wenigstens ab und an zu lüften, werden die Rechtschaffenen schon noch nachweisen, dass sie den Aluhut tragen oder Aluhutträgern zumindest Wasser auf die Mühlen gießen. Das verwandte Kleidungsstück, die spitze Papiermütze, steht nach Ansicht vieler Leitartikler neuerdings sogar renitenten Bundesverfassungsrichtern gut.
So, wie es hieß: Bist du für die Energiewende oder ein Klimaleugner?, bist du für grenzenlose Menschlichkeit oder ein Rassist?, bist du für die Corona-Maßnahmen der Regierung oder ein Aluhut?, so wird es sehr bald auch bei der billionenhohen europäischen Schuldenvergemeinschaftung von Seiten der Wohlmeinenden heißen: Bist du für Solidarität, oder bist du ein nationalistischer Egoist? Ein Land, dessen Repräsentanten in Politik und Medien sich diese Art der Gesprächssimulation an- und jede Dialektik abgewöhnt haben, kann sich selbst beim Dümmerwerden zuschauen.
Es gibt nur eine Tücke dabei: Mit jeder Fehlprognose, mit jedem kollektiven Irrtum wachsen die Glaubwürdigkeitsschulden des Milieus weiter, das auf seine Irrtümer beharrt. Anders als Zentralbankgeld ist ideeller Kredit nicht beliebig vermehrbar.
Und Glaubwürdigkeit lässt sich nicht erzwingen. Selbst in repressiven Systemen nicht.