Tichys Einblick
Die Lage in der Ukraine

Die Russen versuchen, die ukrainische Armee im Donbass einzukesseln

Die russische Armee hat laut ukrainischen Angaben einen Großangriff in der Region Luhansk gestartet. In Mariupol haben Spezialeinheiten der russischen Armee mit dem Angriff auf das Stahlwerk in der belagerten Hafenstadt Mariupol begonnen. Ein Überblick.

Ukrainischer Soldat in Kharkiv nach einem Artilleriebeschuss, 18.04.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Wie die ukrainische Regierung meldet, hat die russische Armee mit der seit Tagen erwarteten Großoffensive im Osten des Landes begonnen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, Russland habe „einen sehr großen Teil der gesamten russischen Armee“ für die Offensive zusammengezogen. Amerikanische Experten sprechen von 76 Bataillonen und taktischen Gruppen. Besonders betroffen seien die Regionen Charkiw und Donezk. Von Isjum im Gebiet Charkiw aus erwarten die Ukrainer russische Angriffe in Richtung Barwinkowe und Slowjansk im Donezker Gebiet. Wahrscheinlich ist, dass Russland in einer Zangenbewegung von Norden und Süden aus den Donbass einkesseln will (mehr zur „Donbass-Zange“ hier). In und um die Großstadt Kharkiv herum werden Gefechte und Bombardierungen gemeldet. Ukrainischen Angaben zufolge sind beim Beschuss der Stadt  3 Menschen getötet und 15 verletzt worden, darunter ein 14 Jahre altes Kind. „Die Granaten fielen direkt vor Häuser, auf Kinderspielplätze und in die Nähe von humanitären Hilfsstellen“, teilte der Gouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow, am Montagabend mit. Er warf der russischen Armee einen Angriff auf Zivilisten vor. 

An der Kontaktlinie, also der Frontlinie zu den seit 2014 von russischen Separatisten gehaltenen Gebiete um Luhansk und Donezk halten die ukraninischen Truppen anscheinend weitgehend ihre Stellungen. Rund um Luhansk wurden offenbar mehrere russische Durchbruchsversuche abgewehrt. Weiter nördlich sollen russische Panzerverbände jedoch, passend zur geplanten Zangenbewegung, weit vorgestoßen sein. Damit könnte diesen ukraninischen Verteidigern rund um Lisitschansk und Pervomaysk die Einkesselung drohen. 

Dem Gouverneur der Region zufolge wurde die Kleinstadt Kreminna von der russischen Armee eingenommen. Kreminna liegt rund 50 Kilometer nordöstlich von Kramatorsk, der Hauptstadt der ukrainisch-kontrollierten Gebiete des Donbass. Andere Teile der Region werden bereits seit 2014 von pro-russischen Separatisten beherrscht. Die Eroberung weiterer Teile des Donbass würde es Russland ermöglichen, einen südlichen Korridor zu der 2014 annektierten Krim-Halbinsel herzustellen. Dies gilt als eines der Hauptziele der russischen Invasion. 

Auch rund um die Stadt Donezk toben schwere Kämpfe. Südöstlich der Großstadt seien mehrere Dörfer beschossen worden. Nahe der Kleinstadt Velyka Novosilka finden Gefechte zwischen russischer und ukrainischer Infanterie statt.

Nach Informationen des US-Verteidigungsministeriums verstärkt Russland derweil seine Truppen im Osten und Süden der Ukraine deutlich. In den vergangenen Tagen seien mehr als zehn sogenannte taktische Kampfverbände dorthin verlegt worden, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby. Das russische Militär fliege zudem mehr Luftangriffe im Donbass und auf die Hafenstadt Mariupol. Kirby sprach zugleich von „chronischen Schwierigkeiten“ der russischen Truppen in den Bereichen Logistik, Kommunikation, operative Manöver sowie in der Zusammenarbeit von Luft- und Bodentruppen. „Es bleibt abzuwarten, ob sie diese Probleme in den Griff bekommen haben und nun in der Lage sind, im Donbass effizienter zu agieren“, so der Pentagon-Sprecher. Insbesondere logistische Probleme könnten einen russischen Vormarsch massiv verlangsamen. 

In Mariupol haben russische Truppen nach ukrainischen Angaben damit begonnen, die letzte große Bastion der verteidigenden Einheiten der Stadt mit bunkerbrechenden Waffen zu beschießen. Der Kommandeur des nationalistischen Asow-Freiwilligenregiments der Nationalgarde, Denys Prokopenko, sagte in einer Videobotschaft, die Russen setzten die schweren Waffen ein, obwohl sie wüssten, dass auch viele Zivilisten Schutz in dem weitläufigen Gelände des Asow-Stahlwerks gesucht hätten. Die Evakuierung von Zivilisten schlug erneut fehl, beide Seiten gaben sich dafür gegenseitig die Schuld. Es wird erwartet, dass die seit Monaten schwer umkämpfte Stadt in den nächsten Stunden fallen wird. 

Russland verstärkte zuletzt auch wieder seine Angriffe mit Fernwaffen im Westen der Ukraine. Bei Raketenangriffen auf Lwiw (Lemberg), wo sich viele Flüchtlinge aufhalten, wurden nach ukrainischen Angaben mindestens sieben Menschen getötet. Nahe Lwiw zerstörte die russische Armee nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums ein grosses Waffendepot, in dem aus dem Westen gelieferte Waffen gelagert gewesen sein sollen.

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