Tichys Einblick
Klima und Corona

Die post-wissenschaftliche Gesellschaft

Die politischen Moden unserer Zeit stützen sich auf „den Konsens der Wissenschaft“. Robert-Koch-Institut & Co. geben den Ton an. Doch solche Verweise sind allzu häufig Blendwerk. Von Christine Arndt

IMAGO / imagebroker

Wir leben in einer Gesellschaft, die die Wissenschaft hochhält. Kaum ein wichtiges Thema kommt ohne den Verweis auf die Wissenschaft aus. Greta Thunberg und ihr klimarettendes Gefolge rufen „Hört auf die Wissenschaft!“. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass „100 Prozent der Wissenschaftler“ die These des menschengemachten Klimawandels vertreten. Die Vorreiter der von der Regierung verhängten Corona-Maßnahmen verweisen auf Virologen und andere Wissenschaftler in ihren Reihen. Wissenschaftliche Institute wie das Robert-Koch-Institut und das Paul-Ehrlich-Institut stehen an vorderster Front bei der Durchsetzung der von der Regierung verhängten Maßnahmen.

Ob Klimawandel oder Corona-Maßnahmen, der Verweis auf die Wissenschaft ist ein Autoritätsargument. Es dient dem Zweck, eine These oder Maßnahmen zu rechtfertigen. Die Sache mit Autoritätsargumenten ist natürlich, dass sie sich mit der Zeit wandeln. Was gestern noch als Autorität galt, mag heute keinen Einfluss mehr haben. Die Wissenschaft könnte nicht als Autoritätsargument herangezogen werden, wenn ihr in unserer Gesellschaft dieser hohe Status nicht tatsächlich zukommen würde. Unsere Gesellschaft schätzt die Wissenschaft. Sie erkennt die vielen Errungenschaften an, die uns die Wissenschaft ermöglicht hat. Dabei ist nicht zu leugnen, dass uns die moderne Wissenschaft zu einem gewaltigen Sprung unseres Wissens über die Welt verholfen hat.

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Und doch: Solche Verweise auf die Wissenschaft sind allzu häufig Blendwerk. Blendwerk, da in der Realität nicht das hochgehalten wird, was Wissenschaft wirklich ausmacht: kritisches Denken und der stete Wille zu hinterfragen. Diese beiden Merkmale der modernen Wissenschaft waren es, die ihr zu ihrem Siegeszug verhalfen. Die Wissenschaft, wie sie heute von verschiedenen Gruppen in unserer Gesellschaft bemüht wird, ist ein Schatten ihrer selbst, eine leere Hülle. Ihre Autorität soll den Gegner in die Knie zwingen. Was wollte man schon einem hundertprozentigen Konsens von Wissenschaftlern entgegenhalten? Was wollte man schon gegen all die Maßnahmen sagen, die auf der Expertise von Virologen basieren? Doch diese Wissenschaft ist ihrer Essenz beraubt. Kritisches Denken ist unerwünscht, Debatte nicht gewollt.

Es gibt viele Stimmen, die in den vergangenen Monaten auf die Motivation hinter einer solchen debattenfeindlichen Haltung, die mit dem Verweis auf die Wissenschaft einhergeht, aufmerksam gemacht haben. Politiker erfreuen sich plötzlich einer ganz neuen Macht. Wenn die Corona-Lage doch aus wissenschaftlicher Sicht eindeutig ist, kann man durchregieren, ohne das lästige Parlament. Wenn über den menschengemachten Klimawandel doch ein wissenschaftlicher Konsens besteht, lassen sich politische Agenden in ungeahnter Weise durchdrücken. Abweichende Thesen, selbst wenn sie von Wissenschaftlern mit internationalem Renommee geäußert werden, stören da nur. Der Wille zur Macht ist dabei sicherlich ein Motiv, ein nicht zu vernachlässigendes noch dazu. Doch in der Realität sind die Dinge meist komplexer.

Wissenschaft ist evidenzbasiert, nicht gefühlsbeduselt

Die Misere unserer Gesellschaft greift tiefer: Es wird verkannt, wie sehr unsere
Gesellschaft eine in Wahrheit wissenschaftsfeindliche Haltung verinnerlicht hat. Was
sich in den vergangenen eineinhalb Jahren in Sachen Corona vor unseren Augen
abgespielt hat, ist ein Ausdruck dieser wissenschaftsfeindlichen Haltung, die sich
genau darin äußert, dass die Wissenschaft, ohne müde zu werden, als Autorität
herangezogen wird, aber kritisches Denken und Debatte unterbunden werden. Doch
diese Haltung ist nicht erst in den vergangenen eineinhalb Jahren entstanden.
Vielmehr ist der Umgang mit Corona nur ein weiteres Symptom dieser Haltung, die
schon viel länger existiert.

Gründung einer Freien Universität
Zum Denken gehört leider wieder Mut
Aus den USA ist auch zu uns das Phänomen herübergeschwappt, dass die Wissenschaft genau an den Orten verraten wird, die sich ihrer rühmen: die Universitäten. Wenn Universitäten das kritische Hinterfragen und Debattieren von Thesen unterbinden, damit sich Studenten nicht diskriminiert, marginalisiert, verletzt oder dergleichen mehr „fühlen“ – dann ist dies ein Verrat an der Wissenschaft. Denn Wissenschaft besteht gerade in der kritischen Debatte. Universitäten wurden gegründet als Orte der kritischen Debatte. Noch nie war das Kriterium dafür, ob eine wissenschaftliche These diskutiert, geschweige denn akzeptiert werden sollte, wie sie jemanden „fühlen“ lässt. Wissenschaft ist evidenzbasiert, nicht gefühlsbeduselt.

Auch deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen haben es sich immer
mehr zur Aufgabe gemacht, Diskriminierung jedweder Couleur entgegenzutreten,
und sind gerne bereit, die wissenschaftliche Debatte auf dem Altar des Gefühls zu
opfern. Deutsche Universitäten sehen es nicht mehr als ihre nobelste Aufgabe an,
Studenten zu lehren, was kritisches Denken bedeutet, und sie dazu anzuhalten,
selbst kritisch zu hinterfragen. Haltung heißt das Gebot der Stunde. Damit ziehen sie
sich das Mäntelchen der Wissenschaft über, aber haben längst das verraten, was
Wissenschaft ausmacht.

Was sich an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen wie unter einem
Brennglas zeigt, ist die Misere unserer Gesellschaft. Wir leben in einer postwissenschaftlichen Gesellschaft. Doch wie der Wissenschaftstheoretiker Paul
Feyerabend bereits in den 1970er Jahren erkannte: Die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns: „Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein für eine Kirche, für die eingeschüchterten oder gierigen Opfer eines (alten oder neuen) Mythos oder für die schwachen und willfährigen Untertanen eines Tyrannen. Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.“


Christine Arndt arbeitet bei einem führenden deutschen Forschungsinstitut 

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