Die Linken haben in den vergangenen Jahren einen Kardinalfehler begangen. Sie wollten grüner als die Grünen sein: mehr Identitätspolitik, mehr Umweltschutz und noch weltfremdere Forderungen zur Regulierung der Wirtschaft. Diesen Fehler scheint die Führung eingesehen zu haben. So eröffnen die Linken den „Heißen Herbst gegen soziale Kälte“, den sie ankündigen, an einem symbolträchtigen Ort: vor der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin. Statt des Klimas soll der kleine Mann im Mittelpunkt der Politik stehen.
Mit 300 Teilnehmern haben die Veranstalter gerechnet. Der Platz vor der Geschäftsstelle ist nicht geräumt, die ersten Teilnehmer treffen sich zwischen E-Autos, die gerade aufgeladen werden. In der hinteren Ecke entwickelt sich eine Debatte über die Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen. Anwürfe wie „Du hast null Ahnung“ oder „Du bist kein Linker“ lassen sich hier noch zitieren – manch anderes, was sich aus kurzer Distanz ins Gesicht geplärrt wird, nicht.
Was auffällt, ist die Präsenz der vielen verschiedenen Gruppen, die sich auf einer linken Demonstration mit 1000 Teilnehmern finden und per Logos oder Streitschriften Präsenz zeigen: der Verein „Aufstehen“, das Bündnis „Klasse gegen Klasse“, die Spartakisten, die „Friedensglockengesellschaft“, die DKP oder die „Naturfreunde“ – es ist ein breites Bündnis kleiner Gruppen. Bei den Rednern muss man am Anfang jeweils gut aufpassen, wer gerade spricht. Fragt man nachträglich die nebenan Stehenden nach den Namen der Redner, wissen sie diese auch nicht. Die Reden wiederholen die Slogans auf den Plakaten.
Ein Redner ist Ferat Koçak. Er sitzt für die Linken im Berliner Abgeordnetenhaus. In der Fraktion ist er Sprecher für Klima und Antifaschismus. Er beginnt in freundlichem Plauderton, unterbricht sich aber gleich. Dann schlägt seine Stimme um. Koçak wird ernst, was lustig ist. Denn er klingt jetzt wie ein Gymnasiast, der wie ein Feldwebel klingen will. Auf der Demo seien Rechte, sagt Koçak. Die würden die Linken nicht akzeptieren. Er schwört die Menge darauf ein, antifaschistische Parolen zu skandieren. Die folgt.
In der hinteren Ecke der Demo passiert jetzt etwas. Schwarz gekleidete Männer treten auf, „Antifa“-Plakate in der Hand. Auch die Polizei formiert sich. Es wird laut. Was passiert? Ein Dutzend Antifa-Männer mit Corona-Masken brüllt Nazis an. Aber wo sind die? Ein Passant klärt auf: „Das sind die Freien Linken.“ Er zeigt auf ein halbes Dutzend Männer und Frauen zwischen 50 und 60 Jahren. Sie sehen aus wie Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes am Freitag. Was ist denn das Problem mit ihnen? „Na, Schwurbler“, sagt der Passant. Es sind die Teilnehmer, die vor der Demo so temperamentvoll zur Corona-Politik diskutiert haben.
Polizeiwagen fahren vor. Mit Blaulicht. Verstärkung rückt an. Eskaliert jetzt die Situation? Ein Dutzend junger Menschen stellt sich entschlossen auf, mit vereinter Kraft gelingt es ihnen, das halbe Dutzend mittelalter Menschen aufzuhalten. Die diskutieren noch. Ein wenig. Dann ziehen sie beleidigt ab. Eine der freien linken Frauen bekommt von einem der Männer mit Corona-Maske nachgerufen, sie sei hässlich.
Auf der Bühne spricht ein anderer Redner. Man müsse ein „breites Bündnis“ schließen. Man müsse aufstehen, gegen die Energie- und Kriegspolitik der Ampel – vor allem der Grünen. Zusammen wolle man ihnen einen „Heißen Herbst“ bereiten. Wer denn da spricht? Das weiß keiner von den Zuhörern. Der nächste Redner macht den Scherz, es sei ja schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen – und redet dann weiter. Daraufhin fängt die Demonstration an, sich aufzulösen.
Auch in Leipzig riefen die Linken zum „Heißen Herbst gegen soziale Kälte“ auf. Dort mobilisierten auch die Rechten. Mehrere tausend Teilnehmer meldet dort die Polizei. Es sei weitgehend ruhig geblieben. Die Welt berichtet von einer aggressiven Stimmung. Linke hätten Mitglieder des „Freien Sachsen“ blockiert, sodass diese es nicht bis zum Augustusplatz schafften. Zudem habe es kleinere „Rangeleien“ gegeben – auch Attacken gegen Journalisten und Polizisten.