Wenn die letzten drei deutschen Kernkraftwerke vom Netz gehen, gibt es ausgedehnte Feierlichkeiten bei den Grünen, und selbst bei urbanen SPD-Verbänden, die sich von der grünen Partei heute nur noch dadurch unterscheiden, dass sie in Bayern grob die Hälfte von deren Stimmen einfahren. Die SPD München jedenfalls rief für den 15. April zu Freudenmarsch und Abschaltfete auf, Fahnenausgabe um 11.30 Uhr vor der Zentrale, um damit ihren Teil an der historischen Errungenschaft abzubekommen, auf eine gesicherte Stromversorgung zu verzichten.
Die Totalherrschaft der zurechtgebogenen Vergangenheit
Unentwegt beschwören politische Reden die Zukunft. Beim zweiten Blick zeigt sich, wie stark die ideologischen Trümmer der Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmen – vom Kampf gegen die Atomkraft bis zur Berliner Stadtplanung, durch die immer noch Albert Speer spukt.
Hinter der ehemaligen Normalverdienerpartei eines Hans-Jochen Vogel oder Christian Ude liegt ein langer Marsch zu einer politischen Kraft, die es feiert, wenn sich das Angebot an einem Alltagsgut verknappt, was den Preis unweigerlich erhöht. Daran kann vermutlich auch Katrin Göring-Eckardt nichts ändern, die kürzlich ohne Bekanntgabe ihres Rechenwegs meinte, durch die Abschaltung der drei Atomkraftwerke würde der Strom in Zukunft günstiger.
Wenn schon Münchens Sozialdemokraten das große Abschalten so loben wie sonst nur die Einschränkung des Autoverkehrs, dann müssen die Grünen und ihre Anhänger sich etwas einfallen lassen, damit ihre Feier noch bunter und prächtiger wirkt.
Denn ohne ihre seit vierzig Jahren treibende Kraft würden nicht in einer Energie- und Industriekrise zuverlässige und buchhalterisch längst abgeschriebene Anlagen mit einer Kapazität von 4,2 Gigawatt vom Netz gehen, deren Stromgestehungskosten bei etwa drei Cent pro Kilowattstunde liegen. Bei den ersten Protesten, damals gegen das geplante Kernkraft Wyhl ab 1973 spielte die Klimadebatte noch keine Rolle, sondern vielmehr die Angst vor dem Atomstaat, aber auch die Wachstumskritik des Club of Rome. Als die Klimaerwärmung später zum Hauptthema der Grünen aufstieg, änderte sich nichts an ihrem Willen, die Kernkraft in Deutschland zu beseitigen. Heute schafft es diese sehr besondere Partei, den Kampf gegen jedes Kilogramm deutsches CO2 als Imperativ zur Rettung des Weltklimas auszugeben und ihren Anhängern gleichzeitig die Verfeuerung fossiler Rohstoffe als notwendigen Preis für den Atomausstieg nahezubringen. Höhere Stromkosten, Abwanderung der Industrie, das könnte den Grünen und ihrem Milieu egal sein. Die Leute, die der bayerischen SPD in deren besten Zeiten zu 30 Prozent der Stimmen verhalfen, gehörten sowieso nie zu ihrer Klientel. Dass sich aber beide, Grünenfunktionäre wie -Wähler so reibungslos bereitfinden, das Klimadogma für einen Moment beiseitezuschieben, um ihren Feldzug gegen die Kernkraft zu Ende zu bringen, erstaunt dann auf den ersten Blick doch.
Auf den zweiten aber nicht mehr so sehr. Schon im vergangen Jahr, als die Stimmung umschlug und sich eine Mehrheit in Deutschland für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke aussprach, meldete sich Michael Schroeren stellvertretend für viele andere mit einem Bekenntnis, das zu dem zentralen Punkt der Debatte führt: zu seiner Biografie, und damit tief in die Vergangenheit. „Ich habe fast 50 Jahre für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft“, schrieb Schroeren damals: „Jetzt, kurz bevor die letzten vom Netz gehen, lasse ich mir den Erfolg nicht klauen – weder Putin noch von Markus Söder, Lindner oder Friedrich Merz.“
Michael Schroeren, Jahrgang 1949, trat zwar erst 2008 förmlich den Grünen bei. Aber er zählt schon seit den Siebzigern zu der politischen Strömung, aus der unter anderem die wahrscheinlich einflussreichste Partei der Bundesrepublik hervorging. Zu seiner Alterskohorte gehören Joseph Fischer (1948), Petra Kelly (1947) Jutta Ditfurth (1951) und Ralf Fücks (1951), sein Weg führte wie der von vielen anderen über diverse Protestbiotope zu der neuen Weltanschauungspartei. Ihr diente er erst als Sprecher des Bundesvorstandes 1983, von 1998 bis 2017 prägte er als Pressesprecher der Bundesumweltminister von Jürgen Trittin bis Barbara Hendricks die Außendarstellung der Umweltpolitik stärker als mancher Ressortchef.
Nicht jeder Altgrüne bekennt seine Gefühlslage so offen wie Schroeren und Ralf Fücks. Sie machen deutlich, dass es bei ihrem Kampf gegen die allerletzten Meiler nicht um eine allgemeine Zukunft geht und noch nicht einmal um die Gegenwart. Sondern um ihre höchstpersönliche Geschichte. Die meisten Jüngeren der Generation Habeck, die nicht vor Wyhl, Brockdorf und im Wendland kämpften, respektieren das. Sie wissen, dass sie ohne die Altvorderen nicht auf ihren Posten säßen. Ohne einen Sieg gegen die Kernkraft käme ihnen auch der historische Glanz abhanden, von dem auch sie leben. Dass die Stationierung von Pershings in Deutschland, gegen die das gleiche Milieu genauso erbittert kämpfte – nur bekanntlich erfolglos – den politischen Wandlungsversuch der Sowjetunion unter Gorbatschow und dann Kollaps des Ostblocks ganz wesentlich vorantrieb, wird heute auch von den allermeisten Grünen anerkannt. An ihre alte pazifistische Teilströmung kann die Partei heute mit einer Außenministerin, die in der Karnevalsbütt freundlich über Leopardpanzer scherzt, sowieso schlecht anknüpfen.
Mit ihren Nie-wieder-Deutschland-Transparenten gegen die deutsche Einheit, hinter dem damals Claudia Roth 1990 marschierte, landeten die Linksflügelgrünen auch auf einem toten Gleis. Und andere historische Bestände ruhen zum Glück der Partei sowieso gut verschweißt im Endlager für Ideologiemüll, beispielsweise das große Verständnis für den Sex mit Minderjährigen bei einer ganzen Reihe von alten Kämpen. Alles in allem: Müssten die Grünen jetzt auch noch den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke hinnehmen und wäre es nur ein einziges, dann würde auch dieser identitätsbildende Atomkraft-nein-Danke-Kampf nichts mehr zählen. Es bliebe für die Partei, die immer den missionarischen Überschuss brauchte, nichts mehr im Fundus der Geschichte.
Der größte anzunehmende Unfall würde die Grünen hypothetisch dann ereilen, wenn Luisa Neubauer von Fridays for Future, die bekanntlich die allerradikalsten Maßnahmen fordert, weil ihrer Meinung nach nur noch wenige Jahre zur Verhinderung der Globalkatastrophe bleiben, für das große Ziel auch das Opfer des Atomkraftweiterbetriebs verlangen und Veteranen wie Schroeren und Jürgen Trittin als Opa Kohlendioxidsau vor sich hertreiben würde. Aber offenkundig hält die ungeschriebene Vereinbarung zwischen Partei und Vorfeld dank der taktischen Flexibilität, die Deutschlands Klimajakobiner an diesem ganz speziellen Punkt aufbringen. Und diese Vereinbarung lautet: Biografieschutz geht vor Klimaschutz.
In seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von 1993 – auch ein Jubiläum – beklagte Botho Strauß die „Totalherrschaft der Gegenwart“. Dreißig Jahre später ist der Zeitgenosse versucht zu sagen: Es wäre nicht schlecht, wenn es wenigsten die gäbe. Nicht nur die Energiepolitik von heute richtet sich in Deutschland nach politischen Schlachten der siebziger Jahre. Wer sich einmal fragt, woher die größten Triebkräfte dieses merkwürdigen Landes stammen, stößt vor allem auf Vergangenheit. Allerdings nicht in konservativem Sinn. Bei dem, was die viele Gesellschaftsbereiche der angeblichen Gegenwart lenkt, handelt sich um psychotisch aufgeladene Geschichte. Bis zur Totalherrschaft dieser unverdauten Vergangenheit fehlt nicht mehr viel.
Alle Begründungen für die große Gesellschaftstransformation richten sich auf einen Punkt, der vor uns liegt, den Telos, ohne den keine Erneuerungsfantasie auskommt. In den entsprechenden Aufsätzen und Reden drängen sich deshalb Signalworte wie Zukunft, zukunftsfähig und künftige Generation aneinander. Wer diese Texte gründlich liest, stößt unter dieser Rhetorikschicht auf das genaue Gegenteil. Am deutlichsten bei der zurzeit eifrigsten und immerhin ehrlichsten Ideologin des Wandels, der taz-Redakteurin und Degrowth-Predigerin Ulrike Herrmann, häufiger Gast auf Podien, auch im ARD-Presseclub.
In einem Interview mit dem Bioladen-Magazin „Schrot & Korn“ erklärte Herrmann kürzlich ihre als Zukunft etikettierte Gesellschaftsvorstellung: „Ich schlage grünes Schrumpfen vor: wir müssen die erneuerbaren Energien ausbauen und gleichzeitig unsere Wirtschaft schrumpfen.“ Bestimmte Dinge gäbe es in Schrumpfland natürlich nicht mehr: „Wir müssen zum Beispiel das private Auto abschaffen und dürften nicht mehr fliegen, weil das zu viel Energie verschwendet. Wir werden nicht leiden, aber es geht letztlich um Verzicht.“ Und: „Die staatliche Steuerung von privaten Firmen samt Rationierung wird unsere Zukunft sein.“ Ihr Bezugspunkt, den sie dann nennt, liegt allerdings mehr als vierzig Jahre in der Vergangenheit: das Jahr 1978. Dabei handelt es sich nicht um eine exklusive Idee Herrmanns. Auch eine ganze Reihe anderer Wohlgesinnter, die sich schon einmal als Steuerungspersonal der neuen Gesellschaft empfehlen, verweisen auf die westdeutschen Siebziger, also auf die Ära, in der das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf etwa halb so hoch lag wie heute.
Damals, so lautet ihr Argument, lebte man auch nicht schlecht. Unter anderem deshalb, weil damals kein Zentralkomitee der Erleuchteten die Unternehmen steuerte, könnte ein notorischer Schlechtredner der neuen Gesellschaft einwenden. Aber auch abgesehen von diesem Detail handelt es sich um eine Rechnung im Göring-Eckardt-Stil. Es wäre zweifellos möglich, den Wohlstand auf das Niveau von Westdeutschland 1978 zu dimmen. Abwärts geht es immer leicht. Nur erreicht man dadurch nie wieder den Schuldenstand, die Demographie und den Zustand der öffentlichen Infrastruktur von 1978. Damals traten die ersten Boomer ins Berufsleben ein, also die starken Jahrgänge, die sich demnächst in die Rente verabschieden. Damals gab es zwar viele Arbeits- aber kaum Armutsmigranten. Zum Stichtag 31. Dezember 1978 betrug die Staatsverschuldung der Bundesrepublik 3075, 83 Euro pro Kopf, nicht 28155 Euro wie Ende 2022.
Hinter der Markierung 1978 scheint bei Herrmann allerdings noch eine etwas fernere Vergangenheit auf, die sie als Vorbild empfehlt: „Ich habe mir die Frage gestellt, ob es schon einmal ein Schrumpfen von einem kapitalistischen System gab, ohne dass es zum totalen Chaos kam. Und da fiel mir die britische Kriegswirtschaft von 1939 ins Auge.“
Wieso, mag sich der eine oder andere fragen, wählt sie ausgerechnet dieses Beispiel? Für staatliche Wirtschaftslenkung mit Fünfjahresplänen gibt es schließlich gleich zwei Modelle aus der heimischen Fundgrube. Die Antwort liegt nah; beide verkaufen sich aus einleuchtenden Gründen nicht so gut wie ein Staatsdirigismus, der sich immerhin mit einem Sieg verbinden lässt. Unter dem Geruch von dünnem Earl Grey und Scones wirkt das Schrumpfprogramm deutlich gefälliger als mit dem Odeur von Plattenbau und Eintopfsonntag. Obwohl beides natürlich um Längen besser zu dem Magazinnamen „Schrot & Korn“ passt. Überhaupt fällt nur wenigen auf, wie gut sich die antimoderne Mischung aus sozialistischem Herzblut und Erdmutterboden erhalten hat, die von Baldur Springmanns Zeiten bis heute fest zum grünen Milieu gehört.
Eine etwas nachbearbeitete Vergangenheit mit britischer Beimischung dient übrigens Vertretern der Öffentlich-Rechtlichen auch immer häufiger zur Verteidigung ihres Systems. Anja Reschke und andere verweisen zur Legitimation erstaunlich wenig auf die Gegenwart, also ihr Programm, sondern auf den Gründungsauftrag der Westalliierten für die Sendeanstalten in den späten Vierzigern. Die Jubiläumssendung zu 60 Jahre Panorama im Juni 2021 beispielsweise begann interessanterweise mit einem kurzen Ausschnitt aus Josef Goebbels Sportpalastrede. Dann trat Reschke zu einer längeren Ausführung vor die Kamera: „Herzlich Willkommen zu Panorama – zu unserer Jubiläumssendung – wir werden nämlich heute 60 Jahre alt. Warum fangt ihr dann mit Goebbels an, fragen Sie sich vielleicht und nicht mit einer Torte? In der Tat, zum Sechzigsten könnte man sich eigentlich zurücklehnen und sich freuen, was man so alles gesendet hat. Und das ist wirklich `ne Menge. Aber Goebbels – Propaganda – Hitler- die NS-Zeit – mit ihrem gleichgeschalteten Staatsfunk. Wir sind die Antwort darauf.“(…) Es ging um Entnazifizierung und Demokratisierung. Und deshalb gründeten die West-Alliierten in ihren Besatzungszonen einen Rundfunk, unabhängig von der Politik.“
Im nächste O-Ton begrüßt dann der britische Journalist Hugh Greene die Hörer des gerade gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks. Nach dem Geschichtsbild Reschkes amtiert Greene noch immer als imaginärer Intendant der Öffentlich-Rechtlichen und erteilt ihr und anderen den Auftrag, die Wiederauferstehung Goebbels zu verhindern. Was jedem Bürger derzeit 18,36 und demnächst über 20 Euro im Monat wert sein sollte.
Greene, von 1960 bis `69 Generaldirektor der BBC, hätte vermutlich schon einiges an der aktuellen BBC zu kritisieren. Und ganz bestimmt schwebte ihm für Deutschland kein Senderverbund vor, der sich hauptsächlich dem Lob einer bestimmten Regierungspartei, der Oppositionskritik und der Bürgererziehung widmet, und dessen Mitarbeiter unliebsame Teile der Bevölkerung schon einmal als Blinddarm oder als Ratten bezeichnen. Von ihm stammt ein berühmter Satz, der heute bei Reschkes und Gniffkes sofort als Hass & Hetze enttarnt würde: „Nennen Sie mir ein Land, in dem Journalisten und Politiker sich vertragen, und ich sage Ihnen, da ist keine Demokratie.“
Mit einem sogar noch kühneren Geschichtsrückgriff als dem von Reschke verteidigt Kanzler Olaf Scholz den geplanten Erweiterungsbau des Kanzleramts, der mindestens 777 Millionen, aber eher eine Milliarde Euro kosten und der etwa doppelt so groß wie das Weiße Haus ausfallen soll. Selbstverständlich handelt es sich auch hier um ein Zukunftsprojekt, was sonst. Zur Begründung geht es dann stracks in die Vergangenheit: Dort, wo der elefantöse Bau an die Spree gewuchtet werden muss, erklärte der Kanzler schon einmal bei einer Bürgerversammlung in Gifhorn und seitdem auch in mehreren Interviews, habe nach den Plänen Albert Speers die Nord-Süd-Achse verlaufen sollen. Die Kanzleramtserweiterung stünde also, so Scholz, „praktisch in Opposition zu dieser Hitler-Straße, wo er Hunderttausende aufmarschieren lassen wollte. Für immer sagen wir, dass wir den Faschismus und die Hitlerei furchtbar finden und diesen Teil unserer Geschichte überwunden haben.“
In einem Scholz-Interview mit der Architekturzeitschrift „Bauwelt“ vom 14. April 2023 kommt er auf Josef Goebbels, in dessen ehemaligen Propagandaministerium Scholz seine Regierungskarriere als Arbeitsminister begonnen hatte, und auf das frühere Reichsluftfahrtministerium, in dem er als Finanzminister saß, um mit diesem Anlauf noch einmal den geplanten Kanzleramtsklotz als finalen Schlag gegen den Nationalsozialismus zu begründen, von dem sich Hitler nicht mehr erholt:
„Das ist ein klarer demokratischer Gegenentwurf zu den größenwahnsinnigen Plänen, die Adolf Hitler und Albert Speer für Berlins Mitte seinerzeit hatten. Quer zu deren geplanten gigantomanischen Paradestraße verläuft jetzt das ‚Band des Bundes‘.“
In diesem mental verdrehten Land, dessen offizielle Reden ständig die Zukunft beschwören, bestimmen in Wirklichkeit ergraute Veteranen von Wyhl und Wackersdorf die Energieversorgung. Planwirtschaftsmodelle vergangener Jahrzehnte befeuern die Gesellschaftsdebatte. Der öffentliche Rundfunk der Gegenwart kämpft gegen einen offenbar höchst untoten Josef Goebbels. Und auf indirekte Weise heißt der Chefplaner von Berlin Mitte immer noch Albert Speer. Jedes Mal dient die Vergangenheitsbeschwörung im Namen der Zukunft zur Rechtfertigung von irgendetwas: Für eine irrationalen Energiepolitik, eine grün gefärbte Diktatur, einen propagandistischen Zwangsgebührenfunk oder einen gigantomanischen Regierungsbau. Darin liegt auch eine dezente Drohung. Wer ARD und ZDF oder das Scholzoleum zu Berlin infrage stellt, begibt sich nach dieser Logik automatisch auf die dunkelste Seite der Geschichte.
Daneben arbeiten rastlose Gesellschaftsingenieure an der ständigen Erweiterung der eigentlich bescheidenen deutschen Kolonialvergangenheit, die ebenfalls zur Rechtfertigung im Hier und Jetzt herhalten muss, in diesem Fall zur Durchsetzung einer identitätspolitischen Agenda. Mit ihrer Reise zur Rückgabe der Benin-Bronzen schafften es Annalena Baerbock und Claudia Roth kürzlich, irgendwie auch Nigeria nachträglich der eigenen Sündengeschichte zuzuschlagen. In Berlin bildet die sogenannte Entkolonialisierung von Straßennahmen mittlerweile eine staatsgeldgenährte Branche, die um so besser prosperiert, je weiter Deutsch Südwest zurückliegt.
Interessanterweise bewirtschaftet auch die Klimabewegung zunehmend die Vergangenheit. Den Hinweis, die Bundesrepublik trage ja nur 2,2 Prozent zum weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoß bei, beantworten ihre Vertreter mit dem Hinweis auf die deutsche Klimaschuld der Vergangenheit, die es jetzt abzutragen gelte.
Davon, welche Vorstellungen eine Gesellschaft von ihrer Zukunft entwickelt, hängt vieles andere ab. In asiatischen Ländern und den USA entstehen mit Programmen der Künstlichen Intelligenz neue Möglichkeiten. Sie enthalten durchaus auch Bedrohliches – vor allem für Länder, die bei dieser Entwicklung keine Rolle spielen. Anderswo bildet sich gerade eine technische Moderne heraus, die das Leben der nächsten Jahrzehnte vermutlich sehr stark bestimmt. In Deutschland scheint sich die Vergangenheitsobsession von Jahr zu Jahr noch zu steigern. Und sie richtet sich gerade nicht auf die besseren Traditionsbestände, sondern immer wieder auf die offenbar tief in diesen Landstrich eingesickerte Melange aus Autoritarismus, moralischer Hochrüstung und Sündenstolz, angedickt mit reichlich Krähwinkeltum.
Im Vergleich zu dieser Gegenwart wirkt das Deutschland vor dem 1. Weltkrieg mit seinen Hochbahnen und den frühen Stahlbetonbauten, dem damals weltweit bestaunten Kaiser-Wilhelm-Institut, den Sammlungen der damaligen Gegenwartskunst, seiner Medienlandschaft von links bis rechts und dem Berliner Gesellschaftsleben geradezu aufreizend modern.
Diese Art Zukunftsvorstellung liegt schon lange hinter uns. Dass das so bleibt, garantieren die Progressisten von heute.
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