Angela Dorothee Merkel nippt an ihrem Weißwein im Wintergarten ihrer Ruhestandswohnung. Das geht schon seit 2018 so; ein bisschen leer fühlt sich das Leben nach dem Amt an, vor allem wegen der unkommoden Umstände ihres Abgangs. In der erstbesten Welt säße sie immer noch abwechselnd im Kanzleramt oder Am Kupfergraben in Berlin. In der zweitbesten könnte sie Ruprecht Polenz sagen: „Wenn du mich das nächste Mal besuchst, sind deine Urenkel hoffentlich alle mit dem Studium durch.“ In der drittbesten Variante, in der sie sich und ihm im Wintergarten gerade einen Schluck Warnig Auslese nachschenkt, darf sie in ihren Sozialkontakten nicht zu wählerisch sein.
Bei Ursula von der Leyen, Privatfrau und Pferdezüchterin bei Hannover, gibt es immerhin nach dem Abgang aus dem Bundesverteidigungsministerium ein Tier- und Familienleben. Franziska Giffey hätte sich nach ihrem Rücktritt als Ministerin aus mehreren Posten bei Organisationen des Landes Berlin etwas Passendes aussuchen können, zog es dann aber doch vor, in den Aufsichtsrat der Gute Erdgas-Agentur mit Doppelsitz in Moskau und Rostock zu wechseln.
Olaf Scholz joggt im Hamburger Stadtpark; er sagt sich in seiner vernünftigen Art, dass es zum Postpolitik-Syndrom gehört, wenn es ihm so vorkommt, als würden seine Laufschuhe bei jedem Schritt in den Matsch Kumm-Ex und War-Burg quietschen. Und dass sich so ein Syndrom irgendwann auch wieder legt.
Die Frage, warum Angela Merkel nicht schon längst solo oder in angemessener Gesellschaft im Wintergarten ihres Missvergnügens sitzt, Olaf Scholz nicht exklusiv an seinem Laufstil arbeitet, UvdL nicht an einem Pferdefell und Jens Spahn nicht an seinem Silberbesteck in Dahlem, diese Frage führt zu dem Zustand der Medien in Deutschland.
„Sie können uns nicht viel nutzen, wir Ihnen aber sehr schaden“ – Dialog aus der goldenen Medien-Ära
In den siebziger Jahren fand in Bonn ein legendäres Gespräch zwischen einem hochrangigen Politiker und einem Journalisten über das Machtgefälle zwischen Politik und Medien statt. Es gebe doch fast keines, meinte der Politiker, man sei doch fast auf Augenhöhe. Worauf der Pressemann antwortete: „Nein, sind wir nicht. Sie können uns nicht viel nützen. Aber wir können Ihnen viel schaden.“
Was seitdem auch immer geschehen ist zwischen Politikern und Medienschaffenden, es herrschen heute rundum andere Verhältnisse. Die nachdrücklichsten Rücktrittsforderungen seit Langem sowohl in Zahl als auch Tonlage stellten Journalisten jetzt gerade an die Adresse eines anderen Journalisten, den Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, der ihrer Meinung nach zumindest als Präsident des Verlegerverbandes gehen sollte, weil er sich despektierlich über die mangelnde Bereitschaft der meisten Pressevertreter zur Regierungskritik geäußert hatte. Erst dann, wenn die wohlmeinenden Medienleute über die Maskengeschäfte von Jens Spahn ähnlich schreiben würden wie über einen durchgesickerten Satz Döpfners aus einer privaten Korrespondenz, müsste der Unionspolitiker sich Sorgen um sein weiteres Fortkommen machen. Vorher eher nicht.
In der Geschichte der deutschen Medien von diesem Gespräch bis heute gibt es einen makroanalytischen Teil: das Netz, in das viele Leser abwandern, die angebliche Unlust des Publikums, für Journalismus zu bezahlen, die zurückgehenden Werbeeinnahmen und den sich aus allen drei Faktoren ergebenden Zwang, wenig und im Vergleich zu goldenen Zeiten schlecht bezahltes Schreibpersonal zu beschäftigen, oder gleich Schreibprogramme, die übrigens dank KI schon besser arbeiten als das Autorenkollektiv des Annalena-Baerbock-Buchs.
Dazu kommt noch die Existenz von Medienberatern, ein Phänomen, über das Sie in den allermeisten Medien nie etwas lesen werden. Irgendjemand sollte einmal erforschen, ob es eigentlich die gleichen Berater oder mehrere Generationen waren, die erst den Pressehäusern geraten hatten, ihre Inhalte im Netz zu verschenken, dann die geschrumpften Redaktionen hinundherstrukturierten und den Verlegern wiederum ein paar Jahre später erklärten, auf nichts wäre die angeblich allesentscheidende Gruppe der jungen Leser so scharf wie auf einen gut durchgequirlten Mix aus marxistischem Oberseminar, Tipps für Nahrungsneurotiker und hochwertigen Schultoilettenwandtexten. Jedenfalls kamen genau diese Mischungen unter Namen wie bento, ze.tt und noizz tatsächlich für kurze Zeit auf den Markt, um dort so schnell wieder zu verschwinden, dass der eine oder andere von Ihnen vielleicht die vorbeizischenden Kondensstreifen verpasst hatte.
Das alles gehört wie gesagt zur Makrogeschichte der Medien. In diesem Text soll es vor allem um die Mikrobetrachtung gehen, für die der Autor eine ganz brauchbare Voraussetzung mitbringt: Ich war fast 30 Jahre lang Mitglied in Redaktionen, die alle noch aus der goldenen Medienära stammten, und von dort aus durch das silberne und eiserne Zeitalter und noch ein bisschen weiter rutschten. Dabei veränderten sie sich zwangsläufig. Die oben schon erwähnten Berater würden jederzeit bestätigen, dass die Pressehäuser in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten ziemlich viel Ballast loswerden konnten. Allerdings auch die Fähigkeit, einem Politiker so zu antworten wie der oben erwähnte Journalist.
Wer schon einmal einen Blick nach vorn werfen will, weiter, kühner und schärfer als jeder Berater, der tut das am besten, indem er den frisch ins Deutsche übersetzten Roman „Every“ von Dave Eggers liest. In dessen nicht genau definierter, aber jedenfalls nahen Zukunft („nach der zweiten Pandemie“) kommt es zu einer Fusion von Facebook und Amazon; der auf diese Weise entstandene Universalkonzern mit dem titelgebenden Namen „Every“ übernimmt praktisch auch die Rolle der Regierung, gleichzeitig prägt er die Gesellschaft so tief wie früher nur die kommunistischen Parteien des Ostblocks.
Der Roman des Amerikaners ist das wichtigste politische Buch seit Langem, in seinem Gewicht am ehesten vergleichbar mit Michel Hoellebecqs „Unterwerfung“ (eine ausführliche Besprechung von „Every“ folgt in Kürze).
Eggers dystopische Welt lässt nur noch schmale und übel beleumdete Bereiche übrig, in denen Everys Produkte nicht alles vernetzen, überwachen und durchstrukturieren. Selbstverständlich tun sie das mit dem Anspruch, das Leben der Menschheit gesünder, sicherer und planbarer zu gestalten. Die Firmenzentrale, der sogenannte Campus, befindet sich auf einer Insel in der San Francisco Bay. Die Besonderheit dieser Schatzinsel besteht darin, dass dort ein striktes Reinheitsgebot herrscht. Keine nach Every-Maßstäben moralisch fragwürdige Person darf den Campus betreten, kein Gegenstand kommt durch die Sicherheitskontrollen, falls es Zweifel an dessen ethischer Qualität gibt. In der neuen Ordnung formuliert jeder, der dazugehören möchte, seine gesprochenen und getippten Sätze in einer zertifizierten Sprache, in der es nichts Anstößiges und erst recht kein Wort mehr gibt, das irgendjemand als diskriminierend empfinden könnte. Bei den „Everyones“ – den Mitarbeitern des Universalregierungsunternehmens – handelt es sich weder um schlechte noch um besonders machtgierige oder charakterlose Personen. Die meisten arbeiten in der Überzeugung, dass ihre Produkte das Leben der Menschen verbessern.
Ach ja: Journalismus im traditionellen Sinn gibt es in der „Every“-Gesellschaft nicht mehr. Die Überreste der früheren Medien leben in einer der vielen Nischen in der äußeren Schicht des Everyversums weiter.
Eggers Roman bietet wie gesagt einen Blick in eine möglicherweise nicht allzu weit entfernte Zukunft. Aus der Geschichte ergibt sich auch eine nützliche Anwendung für die Gegenwart: Für die meisten schlechten Entwicklungen sind keine individuell schlechten Menschen verantwortlich. Auch in den Medien nicht. Im Gegenteil, viele wirken im Umgang nicht unangenehm, einige sogar sympathisch. Bösartige persönliche Absichten verfolgt so gut wie niemand.
Journalisten mit illiberaler Agenda verfolgen keine bösen Ziele. Im Gegenteil – sie sprechen von Wertegemeinschaft
In der Transformation des Journalismus von der goldenen Ära bis in die Jetztzeit spielen drei große Gruppen die Hauptrollen: die Vertreter der neuen Innerlichkeit, die Ahnungslosen und die Medienmitarbeiter mit einer Agenda. Es gibt noch andere Gruppen, Untergruppen und Überschneidungen. Aber von dem oben genannten Trio bezieht der Kulturwandel, der change process seinen hauptsächlichen Schwung. (Kleiner Hinweis, ehe es mir ein Leser vorhält: die allermeisten Namen stehen in diesem Text als Chiffren für gesellschaftliche Vorgänge, nicht wegen des Eigengewichts der Personen).
Die neue Innerlichkeit gehört zu den Richtungen, die Chefredakteure und Medienberater vor ungefähr zehn Jahren als Mittel zur Anwerbung der ominösen neuen Leser und überhaupt zur Auflockerung entdeckten. Oft, aber nicht immer waren und sind es jüngere Frauen, die radikal subjektiv über ihre Vorlieben und Abneigungen schreiben, ohne sich die Frage zu stellen, was sich daraus für die Gesellschaft jenseits der Bürotür ableiten lässt. Medienkonsumenten konnten dann beispielsweise ein Pamphlet gegen den Muttertag lesen, den die Autorin für patriarchalisch hält, und mit dem sie nicht rundum positive Kindheitserinnerungen verbindet, und der deshalb für alle abgeschafft gehört (Julia Schaaf in der FAZ); ein Pamphlet gegen Altbauwohnungen, die der Autorin nicht gefallen, das Klima schädigen und sowieso „die Geister der Vergangenheit“ beherbergen (Claudia Schumacher in der ZEIT), weiterhin eine Aufforderung, Männeranzüge zu verbannen („Männer, schafft eure Anzüge ab“, Magdalena Pulz in „jetzt“), weil: steht für „Männer in Machtposition“; außerdem bringt die Autorin das überhaupt letztgültige Argument aller Innerlichen an: „Ich finde es so daneben.“
Zu jeder Spargelsaison gibt es bei Spiegel Online einen Text von Margarete Stokowski beziehungsweise dem Bot gleichen Namens mit dem Appell, Spargel abzuschaffen (phallisch, toxisch männlich). Praktisch immer geht es den Innerlichen darum, irgendetwas Traditionelles und Reaktionäres auszujäten, von dem Frau oder gelegentlich auch Mann sich persönlich ennuyiert fühlt. In dem Magazin, für das ich lange arbeitete, kam diese Praxis wie alles Journalismusinnovative spät an. Aber irgendwann war es so weit, dass eine junge Kollegin darüber schrieb, was sie beim Anblick eines Fotos von Donald Trump und Greta Thunberg („so mutig“) auf irgendeiner Konferenz empfand. Die Besonderheit der Innerlichkeitstexte liegt darin, dass sie medienübergreifend völlig identisch wie von ein und demselben KI-Programm zusammengestoppelt klingen, das dem strikten Befehl folgt, selbst Mikrospuren von Humor und Eleganz zu vermeiden.
Der Bereich der Ahnungslosen nimmt vermutlich mehr Raum in den schrumpfenden Redaktionen ein. Im Gegensatz zu den Innerlichen geht es hier unterhaltsam zu. Ich hatte erlebt, dass jemand in der Redaktion – das Geschlecht lasse ich aus Anonymisierungsgründen weg – meinte, die Autoindustrie sei für die deutsche Wirtschaft eigentlich verzichtbar (komischerweise die Medienindustrie nicht), und genügend grundlastfähiger Strom für das Land ließe sich nach der Abschaffung von Kern- und Kohlemeilern auch prima mit kleinen Blockkraftwerken auf Pelletbasis erzeugen. Ein Mitglied der Chefredaktion meinte, der Gebrauch von Executive Orders durch Donald Trump zeige, dass in den USA eigentlich schon Ausnahmezustand und keine Demokratie mehr herrschen würde. In einer Redaktionssitzung stellte sich heraus, dass eine Person, die viel über Politik schrieb, praktisch nichts über die innere Verfasstheit des Islam wusste. Den Islam hielt er für eine Art EKD mit Halbmond statt Kreuz, und er/sie – ich lasse es wieder mal offen – machte auch keinen Hehl daraus, sich für das ganze Schiiten-Sunniten-Imam-Hadithenzeugs, das neuerdings auch in Deutschland eine Rolle spielt, nicht die Bohne zu interessieren.
Unter „Osteuropa“ verstanden die meisten Redaktionsmitglieder einen amorphen Landklumpen jenseits der Oder, in dem dumpfe Bauernreaktionäre alles Regenbogenfarbene knechten. Wobei die wenigsten Kollegen auch nur die Hälfte dieser komischen Länder auf einer Karte ohne eindeutige Beschriftung gefunden hätten.
Bei der Zeit gab es ein Journalistinnenduo, das einen langen begeisterten Text über den Klimaforscher und Erfinder der Hockeystickkurve Michael Mann ablieferte, und hartnäckig schrieb, Mann hätte Temperaturdaten aus Baumrinden gelesen (statt aus Baumringen), woraus folgt, dass sie noch nicht einmal einen flüchtigen Blick in dessen Texte geworfen haben können. Im Archiv des öffentlich-rechtlichen Funks finden sich mittlerweile Preziosen wie die Erklärung beim ARD/ZDF-Jugendangebot funk, warum Inflation gut ist („wenn du weißt, dass Döner mit der Zeit immer teurer werden, wartest du nicht so lange, dir einen zu kaufen“).
Das alles erinnert ein bisschen an den Kreuzfahrtbericht von David Foster Wallace „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“, in dem es heißt: „Ich habe erwachsene Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, die am Infocounter wissen wollten, ob man beim Schnorcheln nass wird, ob Skeetschießen im Freien stattfindet, ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird.“
Wer mit Journalistenausbildern spricht, der bekommt ein Gefühl dafür, dass diese ohnehin schon überproportionale Medienschaffendengruppe in Zukunft fast automatisch weiter wächst.
Die dritte Gruppe – diejenigen mit einer illiberalen Agenda – bildet die kleinste und wirkungsvollste Kohorte im Journalismus. Zu ihr gehört beispielsweise der Journalist der Süddeutschen, der 2015 alle, die sich nicht restlos über die Massenmigration begeistert zeigten, „wunderliche Nichtneger“ und „heimatliebende Zustandsbewahrer“ nannte: „Es ist 2015. Und ihr kommt aus euren Löchern ans Licht gekrochen.“ Es gehört Walter Wüllenweber vom Stern dazu, der empfiehlt, zur Klimarettung, wie er sie sich vorstellt, die Demokratie zu suspendieren („aber wir müssen solche zivilisatorischen Rückschritte in Kauf nehmen, um die Zivilisation zu retten“). Ein Peter von Becker, der im Tagesspiegel einen militärischen Angriff Deutschlands und anderer wohlmeinender Staaten auf Brasilien durchspielt, wenn dort unter Bolsonaro weiter Urwald gerodet würde (nicht mehr übrigens als unter dessen linkem Vorgänger Lula): „Dann beginnen mit Blick auf Interventionen auch andere Gedankenspiele. Nicht nur für Alarmisten und Bellizisten. Zukunftsmusik? Mancher hört schon das Stimmen der Instrumente.“
Es zählt die Truppe des Tagesspiegel dazu, die mit Hilfe von anonymen Informanten, von Gerüchten, Gerauntem und Gelogenem die Initiatoren der Video-Aktion #allesdichtmachen, die widersprüchliche staatliche Coronamaßnahmen verspottete und persiflierte, in die Nähe von Rechtsradikalen rückten. Dem Unternehmer und Sprecher der Grundrechtsinitiative „1bis19“ Paul Brandenburg unterstellte das Blatt, ein „Demokratiefeind“ zu sein (ohne jeden Beleg) und hinter der Aktion #allesdichtmachen zu stehen (frei erfunden). Dem denunziatorischen Bericht folgte die Drohaktion einer SPD-Bundestagsabgeordneten, die dazu führte, dass der Vermieter dem angeblichen Antidemokraten Brandenburg die Geschäftsräume kündigte. In solchen medial-politischen Kollusionen geht es längst nicht mehr um Meinungen. Sondern darum, Gegner zu markieren und, wenn es sich irgendwie machen lässt, sie sozial zu vernichten.
Noch eine andere Stufe erreichen die Agendavertreter, die in den öffentlich-rechtlichen Sendern Vertreterinnen des politischen Islam inklusive antisemitischer Überzeugungen anheuern. Beide Seiten – Leute wie Nemi El-Hassan sowie diejenigen, die sie in die Anstalten holen und dort gegen jede Einwände halten – wissen genau, was sie tun. Da gilt nicht ‚nie wieder‘, sondern das Prinzip: immer mehr. Wenn die WDR-Programmdirektorin Valerie Weber in einer internen Mail zum Fall El-Hassan schreibt: „Hinter den Kulissen sind wir mit der Kollegin weiter im direkten Austausch“, davon, dass der Sender erst einmal die „Pausetaste“ gedrückt hätte, bis die Kritik sich legt, und weiter schreibt: „Wer Quereinsteiger:innen eine Chance geben will und Diversität fördert, hat dann als potenzieller Arbeitgeber eine gewisse Fürsorgepflicht, kulturelle Konflikte auch gemeinsam zu durchlaufen“, dann klingt das schon wie die plastifizierte Konzernsprache in Eggers „Every“. Eine Kulturkämpferin, die zu anderen Kulturkämpfern im Sender stößt, ist eine Garantin für „Diversität“, Antisemitismus ein „kultureller Konflikt“, und der Versuch, die Kaderpolitik hinter den Kulissen durchzusetzen, „Fürsorgepflicht“.
Wenn man die Ansichten der Journalisten mit illiberaler Agenda aneinanderlegt, entsteht ziemlich schnell ein größeres Bild. Dort geht es um große Gesellschaftstransformationen hin zu einem identitätspolitischen Ständestaat, zu einer zentralen technokratischen Lenkung im Namen des Klimas und generell zu einem großen Bündnis aus Staat, Unternehmen und Organisationen, das alle anderen auf den richtigen Pfad bringt. Da es sich um ein alternativlos gutes Ziel handelt, ist zu dessen Durchsetzung prinzipiell auch jedes Mittel recht. Die Idealgesellschaft dieses Milieus ähnelt eher nicht einem DDR-Abziehbild, um Mathias Döpfners geleakten Satz einmal aufzunehmen, sondern dem Zustand in Eggers Roman, in dem Konzern, Politik, universitäre Stichwortgeber und rudimentäre Journalisten zu einer großen Einheit fusionieren, die alles bekämpft, was sich ihrem wohlmeinenden ordnenden Zugriff entzieht.
Illiberalität gilt den Vertretern dieser Richtung nicht mehr als wirkliches negatives Wort, auch wenn sie es nicht gern hören.
Als Modellfigur dieser neuen Welt bietet sich beispielsweise Melanie Brinkmann an, als Virologin Wissenschaftlerin, als führendes Mitglied in Angela Merkels Corona-Beraterstab Politikerin, als hochfrequenter Talkshow- und Interviewgast auch Medienfigur. In einem Videogespräch kriegte sie sich kürzlich gar nicht mehr ein über den ungeordneten Zustand der Öffentlichkeit. Es sei doch „völlig ungefiltert“, was Menschen (also diese chaotischen, schwer zu kontrollierenden Gesellschaftseinheiten) in den Medien und im Internet sähen. Dass „jeder ins Netz stellt, was er will“, sei ein „Riesenproblem“, und dieses Problem müsste jetzt endlich mal final gelöst werden, zum Vorteil der besseren Krankheitsbekämpfung – aber grundsätzlich lassen sich an dieser Stelle auch die Chiffren Klima oder Antirassismus problemlos einsetzen.
Am schönsten fasste bisher Malte Lehming vom Tagesspiegel das Journalismus-Selbstverständnis neuen Typs in einem Text zusammen, mit dem er sich gegen den Vorwurf wehrt, Medien stünden der Regierung zu nah: „Medienschelte solcher Art düngt den Boden, der auch Verschwörungsmythen sprießen lässt … In der Flüchtlingskrise ging es um Verfolgung, Not und Elend. In der Coronakrise geht es um Leben und Tod. Wenn in derart existenziellen gesellschaftlichen Situationen das Gros der deutschen Journalisten moralisch ähnlich empfindet wie das Gros der Parlamentarier, dann hat das nichts mit freiwillig vollzogener Gleichschaltung zu tun, sondern ist Ausdruck einer Wertegemeinschaft.“
Auch in der Klimadebatte steht bekanntlich alles zwischen Leben und Tod, genau so beim Gegen-Rechts-, Rassismus- und Kolonialismus-Thema, wo immer wieder rituell mal „Hanau“ gerufen wird, ob es nun um einen rechten Kleinstverlag auf der Buchmesse geht oder um Kritik an Identitätsideologen geht. Gemeinsam mit der Mehrheit der Parlamentarier moralisch empfinden und alle wichtigen Themen zu einer Sache auf Leben und Tod erklären – das ist jedenfalls der Tod des kritischen Denkens.
Die Agenda-Vertreter besitzen als einzige Gruppe im Medienbetrieb überhaupt das Handwerkszeug, um Politiker zu stürzen. Dass sie sich beispielsweise gegen Angela Merkel wenden, hätte theoretisch passieren können, und zwar dann, wenn sie sich irgendwann auf einen Konfrontationskurs zu den wesentlichen Zielen dieses Kreises begeben hätte. Diese Gefahr bestand natürlich nie. Kein europäischer Politiker der letzten Jahrzehnte stimmte Rhetorik und Handeln so perfekt auf dieses Konglomerat ab, niemand nutzte es so kundig für die eigene Machtsicherung, sodass sich zwischen beiden wie im Ying-Yang-Kreis eine Art Rotationssymmetrie mit fließenden Grenzen herausbildete. Merkel machte in ihrer praktischen Art auch gleich Nägel mit Köpfen, indem sie mit Millionen aus ihrer Regierungskasse die „Neuen Deutschen Medienmacher“ bezahlte, eine Truppe von Identitätspolitikkadern, die sich gleichzeitig als journalistische Prätorianergarde für die Kanzlerin betätigte. Weswegen musste Sebastian Kurz eigentlich gerade zurücktreten? Große Medien mit entsprechendem Eigengewicht hätten diese Praxis der institutionalisierten Bestechung mit Staatsgeld längst zum Thema gemacht. Bei Merkel hätte es auch genügend andere Punkte gegeben, die sie bei einer funktionierenden Medienöffentlichkeit entweder nie hätte so durchsetzen können oder die zu ihrem Sturz geführt hätten. Ihre Behauptung von 2015, der Staat könne die Grenzen nicht kontrollieren, war sicherlich die dreisteste und folgenreichste Lüge eines deutschen Regierungschefs nach 1945. Eine Lüge übrigens, die sie dann selbst in der Coronazeit dementierte, als plötzlich sogar eine Kontrolle wiedereinreisender Urlauber möglich war.
Bei den Affären von Olaf Scholz, von der Leyen oder Jens Spahn gilt grundsätzlich das gleiche Prinzip: Jede einzelne Verstrickung dieser Sorte hätte noch vor 30 Jahren zum Rücktritt des Politikers geführt, oder zumindest jede Ambition auf einen höheren Posten zerstört. Jetzt nicht mehr.
Nachwuchsjournalisten, die selbst kaum noch Medien konsumieren und sich vorwiegend auf Instagram informieren, Innerlichkeitskolumnisten, die sich mit dem toxischen weißen Mann und ihren eigenen Affekten befassen, werden sich nicht im Traum und erst recht nie im Leben durch Cum-Ex-Akten und Untersuchungsausschussprotokolle oder durch Unterlagen von Spahns Maskengeschäften wühlen. Genauso wenig wie diejenigen in der Branche, die noch nicht einmal ein Innerlichkeitsthema beackern, sondern nur irgendwie die nächste Sparrunde des Verlags überstehen oder schnell auf einen anderen Posten abspringen möchten. Dieses Motiv sollte übrigens nicht unterschätzt werden. Allein aus dem Medium, für das ich lange gearbeitet hatte, gingen zwei stellvertretende Regierungssprecherinnen hervor, mehrere Ministeriumssprecher, und auf jeden, der es schafft, kommen ungefähr fünf, die darauf hoffen.
Die Regression ins Innerliche oder demonstrativ Ahnungslose dient bei vielen einfach dazu, sich die einzige in Frage kommende Berufsalternative nicht zu verbauen. Und dort, wo die Agenda den Journalismus beherrscht, genügt ein dringender Verdacht auf Interessenskonflikt und Korruption eben nicht mehr für eine Titelgeschichte. Sondern es stellt sich immer die Frage, ob eine Kampagne gegen eine bestimmte Person auch wirklich zu übergeordneten Zielen passt. Politiker stürzen heute nicht mehr durch eine Titelgeschichte allein, sondern nur noch durch große konzertierte Aktionen, in denen synchrones mediales Dauerfeuer, politisches Echo, Twitterempörung und am besten noch Aktivismus auf der Straße für längere Zeit zusammenfinden.
In Jens Spahns Fall ist es gar nicht so, dass noch besonders tief gegraben werden müsste. Es liegen längst Dokumente vor, aus denen hervorgeht, dass er der eng mit der CDU vernetzten Logistikfirma Fiege im Sauerland Vorzugskonditionen verschaffte, dass die Tochter eines früheren CSU-Politikers das Maskengeschäft des Bundesgesundheitsministeriums mit dem Schweizer Unternehmen EMIX einfädelte, dass Spahn von EMIX selbst noch zu einem Zeitpunkt teure Masken von EMIX kaufte, als er und seine Leute längst wussten, dass sie zu viel bestellt hatten und die Ware gar nicht mehr brauchten. Journalistenfragen, ob jemand bei der Finanzierung seiner Villa behilflich war, beantwortet Spahn nicht. Das alles lässt sich beispielsweise hier und hier und hier nachlesen. Und auch an anderen Stellen. Aber reicht eben nicht zu seinem Sturz, solange das übergeordnete moralische Empörungselement fehlt. Was allerdings nicht bedeutet, dass er endgültig aus dem Schneider wäre. Angenommen, er würde sich gegen eines der großen Agendaziele wenden – also beispielsweise eine grundlegende Änderung in der Migrationspolitik fordern oder verlangen, den „Neuen Deutschen Medienmachern“ und ähnlichen Vereinen das Staatsgeld abzudrehen – dann könnten sich viele Journalisten, NGO-Aktivisten und Twitterer die Akte Spahn noch einmal ganz grundsätzlich vornehmen. Und spätestens dann fände sich auch eine Staatsanwaltschaft, die Akten, Handys und Festplatten beschlagnahmen lässt.
Die meisten Journalisten könnten das ganz oben zitierte Gespräch mit einem Politiker über Schaden und Nutzen schon deshalb nicht mehr führen, weil ein Pressevertreter dazu auf einem wirtschaftlich soliden Boden stehen muss. Die ökonomischen Grundlagen des Selbstbewusstseins haben die Medienlenker in den oben ebenfalls beschriebenen Schritten eigenhändig abgewrackt. Zweitens könnten und wollen die meisten von ihnen auch gar nicht mehr zwischen ihnen selbst und der Politik unterscheiden. Sie prägen damit den Zustand beider Bereiche mit.
Das Ausscheiden von Politikern aus dem Betrieb durch Rücktritt oder Sturz entspricht der Unternehmensinsolvenz in der Wirtschaft. Dadurch, dass diejenigen, die ihr Vertrauenskapital verbrannt haben, aus dem Wettbewerb austreten, bleibt das Gefüge insgesamt halbwegs intakt. Stattdessen geschieht längst etwas Ähnliches wie in der Staats- und Firmenfinanzierung: Medien versorgen Politiker mit praktisch unbegrenzten Vertrauenskrediten, solange nichts wirklich Entscheidendes dagegenspricht. Mit dem Kreditvolumen fällt allerdings auch der Währungskurs immer weiter, und damit die eigenständige Macht der Kreditgeber. Selbst dann, wenn einige merken, dass die Entwicklung auch ihnen selbst schadet, finden sie nicht so schnell Wege, um diesen Prozess zu stoppen, geschweige denn umzukehren.
Es gibt Medienfiguren, die alles in sich vereinen, was dieser Text beschreibt. Beispielsweise Florian Gless, Chefredakteur des Stern, eine pausbäckige Figur, die ein bisschen so aussieht wie ein von Bernd Zeller gezeichneter Journalist beziehungsweise wie irgendein Merkelscher Kanzleramtsminister. Gless war, wenn mich nicht alles täuscht, der erste führende Medienmanager, der in der vergangenen Woche mutig den Rücktritt Mathias Döpfners als Präsident des Verlegerverbandes als Strafe für dessen Satz gefordert hatte, sehr viele Journalisten seien heute Propagandaassistenten. Im vergangenen Jahr verkündete der Stern-Chef, heute sei nicht mehr die Zeit für „reine Berichterstattung und Kommentierung angesichts der Vielzahl der Probleme in unserer Gesellschaft“, weshalb er eine ganze Ausgabe seiner Illustrierten von „Fridays for Future“ gestalten ließ. Kürzlich löste er zusammen mit seiner Co-Chefredakteurin das Wirtschafts- und Politikressort des Stern auf, der gerade mit den restlichen Trümmern des Gruner+Jahr-Zeitschriftenbereichs an RTL Deutschland verklappt wird.
Diese Transformationen findet er, wie die restlichen Beschäftigten seinen Mitteilungen regelmäßig entnehmen können, herausfordernd, spannend, aber auch alternativlos.
Gless gehört zu den Journalisten, die in Deutschland vor Begeisterung aus dem Häuschen geraten, wie taff und mutig Kollegen in den USA Donald Trump in die Zange nehmen, und wie Armin Wolf im ORF Sebastian Kurz verhört, und der selbst am besten weiß, dass er Angela Merkel oder Olaf Scholz nie auch nur annähernd so befragen würde, und zwar schon deshalb, weil ihm das Vokabular dazu fehlt. Obwohl Gless über 50 ist, findet sich im Archiv kein einziger Text und noch nicht einmal ein Satz von ihm, der irgendjemand in Erinnerung geblieben wäre. Seine Kolumnen verfasst er in einer Art vereinfachten Sprache, einem optimistisch beschwingten und gleichzeitig humorfreien Deutsch, das ein bisschen an Motivationsseminar erinnert und möglicherweise auch genau daher stammt.
Es gibt an Florian Gless trotzdem etwas dezent Unheimliches. In Eggers „Every“ begegnet der Leser genau diesen merkwürdig konturlosen Personen zu Dutzenden, die nicht nur keine bösen, sondern überhaupt keine Eigenschaften besitzen.
„Every“ handelt davon, wie dieser Typus nicht einzeln, aber im Kollektiv eine Diktatur ohne Diktator schafft, für die es vorerst noch keine Bezeichnung gibt.