Sieht man sich die politische Landschaft in Deutschland heute an, dann kann sich auch ganz unabhängig von Corona und den wirtschaftlichen Folgen ein tiefer Pessimismus ausbreiten, namentlich dann, wenn man auf die Personen blickt, deren Aufgabe es vermutlich sein wird, diese Land durch die Krisen des nächsten Jahrzehnts zu führen.
Da ist ein Germanist und mutmaßlich ganz passabler Romanautor, der sich schon ganz als grüner Kanzler sieht und dessen Selbstverliebtheit sich umgekehrt proportional zu seiner Kompetenz etwa in ökonomischen Fragen verhält. Selbst, wenn er nicht ins Kanzleramt einziehen sollte, werden wir ihn vermutlich als Vizekanzler und Minister, womöglich sogar als Finanzminister einer Regierung Laschet bewundern können. Laschet selber, der die perfekte Besetzung für die Rolle eines immer fröhlichen deutschen Duodezherrschers des 18. Jahrhunderts oder noch besser eines Rheinbundfürsten von Napoleons Gnaden in einem gut inszenierten Kostümfilm der 1950er Jahre wäre, ist für Angela Merkel in jeder Hinsicht der ideale Nachfolger. Zum einen, weil er seine Politik in die Tradition ihrer Entscheidungen stellen wird, aber auch, weil man nach nur wenigen Jahren einer Regierung Laschet vermutlich den Eindruck haben wird, dass man zwischen 2005 und 2021 von einem wahren Genie regiert worden sei. Und was kann sich eine Politikerin Besseres wünschen als einen glanzlosen und mutmaßlich glücklosen Nachfolger, der ihre eigene Epoche mit all ihren Defiziten dann immer noch als eine Art Blütezeit wird erscheinen lassen.
Es war im Grunde die innere Logik der deutschen Politik insgesamt nach 1949. Nachdem der deutsche Größenwahnsinn der 1930er und frühen 40er Jahre in eine beispiellose Katastrophe geführt hatte, versuchte man sich nun so klein wie möglich zu machen. Es handelte sich um eine Art „national hobbitism“, wenn es gestattet ist, diesen Ausdruck in Anlehnung an Tolkiens Märchenwelt auf Deutschland zu übertragen. Der englisch-griechische Publizist Aris Roussinos hat diesen Begriff als Beschreibung einer möglichen Zukunftsvision für ein in sich gekehrtes, insuläres, aber defensiv agierendes England vorgeschlagen. Auf seine Überlegungen mit Blick auf das Vereinigte Königreich wird zurückzukommen sein, aber das Konzept passt in abgewandelter Form auch und gerade auf Deutschland.
Was für England außerhalb der EU und nach dem möglichen Ende der Union mit Schottland Zukunft wäre, der Versuch, in einem gut geschützten „Auenland“ fern der Geschichte ein stilles Leben in biederem Wohlstand und ohne große Ambitionen zu führen, war eigentlich die Staatsräson der alten Bundesrepublik vor 1989 – aus historisch sehr gut nachvollziehbaren Gründen. Das Problem ist freilich, dass das wiedervereinigte Deutschland aus dieser Rolle nie herausgefunden hat. Nach Gründung der Bundesrepublik bot die Position als Klientelstaat der USA große Vorteile und wirksamen Schutz, zumal ein freilich recht ungleiches Bündnis mit Frankreich diese Stellung zusätzlich absicherte. Auch die Europapolitik war Teil dieses Konzeptes des „national hobbitism“.
Das Problem war nur: Als die alte, durch den Kalten Krieg geschaffene Ordnung verschwand, war man unfähig, neue Konzepte zu entwickeln. Es gab nur die alten Prinzipien, die Kohl wie kein anderer verkörperte: Bedingungslose Treue zur von Washington aus gelenkten Nato und ebenso bedingungslose Loyalität gegenüber der EU. Das Verhältnis zu Washington ist mittlerweile stark belastet, auch weil die USA das Interesse an Europa immer mehr verlieren und nicht mehr in Russland ihren Hauptgegner sehen, sondern eher in China. Daran wird sich auch unter dem Nachfolger jenes Präsidenten, den viele Europäer als den „hässlichen Amerikaner“ schlechthin sahen, in Wirklichkeit nicht viel ändern.
Gegenüber der EU wäre es eigentlich Zeit, zu überlegen, wie man dem selbstbewussten Egoismus unserer sogenannten Freunde und Partner in der EU Konzepte entgegenstellen kann, die es erlauben, unser wirtschaftliches und finanzielles Überleben – denn darum geht es in Wirklichkeit – sicherzustellen, notfalls eben dadurch, dass man diese ehrenwerten Partner im Schuldenmachen noch überbietet, denn nur das kann sie vielleicht noch zu Zugeständnissen und zur Aufgabe des Versuches, sich auf unsere Kosten zu sanieren, zwingen.
Aber nein, darüber nachzudenken, wäre ja schnöder politischer Realismus und wir wollen ja als Idealisten mit intakten Illusionen zwar verarmt, aber doch glücklich untergehen und sterben.
Dann erhöhen wir hier halt die Lohn- und Einkommensteuer bei uns locker mal um 30 Prozent, damit den Italienern eine Vermögensabgabe zur Sanierung ihrer Staatsfinanzen oder eine Reform ihres Rentensystem im Rahmen der europäischen Solidarität erspart bleibt. Mit anderen Worten: Die politische Hobbit-Philosophie, die nach 1945 für Deutschland ein durchaus erfolgreiches Konzept bot, wird uns jetzt zum Verhängnis, davon wird uns dann auch ein Habeck in der Rolle des Frodo Beutlin nicht retten, im Gegenteil.
Die EU als Ersatz für das Empire? Der Traum der britischen Konservativen in den 1970er Jahren
In Großbritannien stellt sich die Entwicklung in gewisser Weise spiegelverkehrt zu derjenigen in Deutschland dar. Nach 1945 hielt die politische Elite – soweit es sich um konservative Politiker handelte, waren die Mitglieder dieser Elite damals häufig noch ein Produkt von Eton und Oxford (Institutionen, die versucht hatten, Männer zu formen, die in der Lage waren, ein Weltreich zu führen) – zunächst an der Vorstellung fest, dass das Land die Rolle einer Weltmacht spielen könne oder solle. Spätestens nach der Suez-Krise von 1956 erwiesen sich solche Vorstellungen als Illusion. Jetzt versuchte man, sich dem europäischen Einigungsprozess, den man zunächst skeptisch aus der Distanz beobachtet hatte, verspätet und gegen französische Widerstände anzuschließen. Dabei ging es Großbritannien anders als der Bundesrepublik niemals darum, von der eigenen Geschichte Abschied zu nehmen oder das eigene Land in einem europäischen Staat auf immer aufzulösen, nein es ging darum, die Stellung als größere Macht zweiten Ranges, die man immer noch glaubte, beanspruchen zu können, mit Hilfe der EG und später der EU abzusichern. Die EU sollte gewissermaßen einen Ersatz für das verloren gegangene Empire bieten.
Sicherlich spielte bei dieser Entscheidung bei Teilen der politischen Klasse eine Selbstwahrnehmung eine Rolle, die Großbritannien immer noch als eine Art Großmacht, wenn auch zweiter Ordnung erscheinen ließ, jedenfalls als ein Land, das in einer ganz anderen Liga spielt als etwa Schweden, oder auch Italien und Deutschland, die Verlierer des Zweiten Weltkrieges.
Jetzt ist der Brexit zumindest politisch vollendet und das Land hat formal seine Souveränität wiedergewonnen. Damit ist zumindest sichergestellt, dass politische Entscheidungen weiter in demokratischen Prozessen getroffen werden, was in Deutschland auf vielen Politikfeldern nicht mehr der Fall ist, weil man Kompetenzen nach Brüssel verlagert hat und der Bürger die dort getroffenen Weichenstellungen nicht mehr wirklich kontrollieren kann. Die Demokratie dürfte damit immer mehr zu einer bloßen Fassade mit abnehmender realer Bedeutung werden, was aus der Sicht der politischen Klasse natürlich auch erhebliche Vorteile mit sich bringt.
Die Sehnsucht vieler konservativer Wähler in England nach einem insulären Auenland
Dieses Schicksal bleibt Großbritannien erspart. Dafür droht jedoch nunmehr der Zerfall des Vereinigten Königreiches, da mittlerweile eine Mehrheit der Schotten und insbesondere der Jüngeren unter ihnen die Union mit England dezidiert ablehnen. Der Brexit, noch dazu in der jetzt absehbaren harten, wenn nicht gar chaotischen Form, und die persönliche Unpopularität Johnsons nördlich des Tweed spielen hier eine Rolle, aber es ist eben auch so, dass die Union funktionierte, solange sie Schottland den Zugang zu einem globalen Empire eröffnete oder Schotten zumindest erlaubte, Bürger eines Landes mit globalem Einfluss zu sein. Diese Vorteile gibt es jetzt nicht mehr. Und offenbar wäre man in Schottland lieber von Brüssel abhängig als vom verhassten Westminster. Schließlich war Frankreich, die eigentliche Hegemonialmacht der EU, von jeher der treueste Verbündete der Schotten im Kampf gegen England.
Eine unabhängiges Schottland stünde natürlich vor erheblichen Problemen. Es wäre von seinem wichtigsten Markt England durch Zollschranken getrennt und gegenüber der EU hätte es zunächst als Beitrittskandidat eine ähnliche Position wie jetzt zum Beispiel Serbien, zumal Spanien vermutlich eine Aufnahme Schottlands in die EU versuchen wird zu verhindern, um die Katalanen nicht zu ermutigen, sich ihrerseits von Spanien abzuspalten. Aber relativ wahrscheinlich ist längerfristig eine Unabhängigkeit Schottlands dennoch.
Nun stellen die Schotten weniger als 10 Prozent der Bevölkerung des UK und der Anteil am BIP des UK liegt auch nur bei etwa 8 Prozent. Eigentlich könnte England somit eine Sezession Schottlands, an die sich vermutlich eine rasche Wiedervereinigung der sechs britischen Grafschaften Ulsters mit dem Rest Irlands anschließen würde, verschmerzen. Allerdings wäre die symbolische Bedeutung hoch und der britischen Navy sowie der Luftwaffe würden wichtige, schwer ersetzbare Stützpunkte verloren gehen. Faktisch liefe ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreiches auf eine Deklassierung des verbleibenden englisch-walisischen Staates hinaus (dass Wales einen ähnlichen Weg beschreiten würde, ist eher unwahrscheinlich). England wäre endgültig ein Land zweiter Klasse ohne nennenswerten globalen Einfluss geworden. Das wäre dann ein ironisches Ergebnis des Brexit-Referendums, denn diejenigen Politiker innerhalb der konservativen Partei, die die Brexit-Kampagne zum Siege führten, träumten zwar sicherlich nicht, wie manche deutsche Beobachter meinen, von einer Rückkehr zu den glorreichen Tagen des Britischen Empire, aber doch von einer neuen globalen Rolle für ihr Land, gestärkt durch die Wiederbelebung der Bindungen zwischen Großbritannien und den alten Siedlerkolonien Kanada, Australien und Neuseeland und abgesichert durch eine enge Partnerschaft mit den USA.
Die Zukunftsvisionen der bürgerlichen politischen Eliten sind gescheitert, hier wie dort
In jedem Fall bedeuten die politischen Entwicklungen der letzten Jahre, der Brexit in Verbindung mit den immer stärker werdenden zentrifugalen Kräften im Vereinigten Königreich einerseits, die Umwandlung der Eurozone in eine unbegrenzte Haftungsgemeinschaft und die Befreiung der EZB von jeder wirksamen rechtlichen Bindung an ihre eigenen Statuten auf der anderen Seite, dass die politischen Eliten, oder doch ihre eher bürgerlichen Vertreter in beiden Ländern, in Großbritannien ebenso wie in Deutschland, vor einem Scherbenhaufen stehen. In Großbritannien hatte die konservative Partei seit Thatcher ganz auf die Öffnung der Märkte, eine extrem liberale Wirtschaftspolitik und auf die Wohltaten der Globalisierung gesetzt. Eine solche Politik sollte sicherstellen, dass Großbritannien nicht zuletzt als Finanzzentrum ein „global player“ blieb.
Aber wünschen sich die Wähler, die für den Brexit gestimmt haben, eine solche globale Rolle ihres Landes? Wohl eher nicht, sie wollen sich lieber in ihr gegen die EU gleichermaßen wie gegen die Globalisierung abgeschirmtes Auenland zurückziehen. Dazu kommt, dass Großbritannien (oder England) den Krakenarmen der EU nie entkommen wird. Kommt es in letzter Minute noch zu einem Handelsabkommen mit der EU, wird der europäische Gerichtshof nicht müde werden, den Briten immer neue Vorschriften zu machen; kommt es nicht zu einem Abkommen, wird man dennoch ähnlich wie die Schweiz die zukünftigen Beziehungen in vielen Bereichen im Detail immer neu aushandeln müssen, nur dass es kein Rahmenabkommen geben wird, sondern jedes Problemfeld gesondert behandelt werden wird, von der Fischerei bis hin zur Zulassung pharmazeutischer Produkte. Wie manch ein geschiedenes Ehepaar mit gemeinsamen Kindern werden Großbritannien und die EU nie wirklich von einander loskommen.
In Deutschland liegt das Problem eher auf der europäischen Ebene. Durch Harmlosigkeit und Biederkeit, aber auch durch finanzielle Großzügigkeit hoffte man sich das Wohlwollen der eigenen Nachbarn erkaufen zu können. Über lange Zeit schien dieses Konzept auch aufzugehen. Seit 2008/10 ist aber doch klar: Unsere Partner in der EU oder jedenfalls die meisten werden Deutschland nie als einen „normalen“ Staat betrachten. Zu groß ist unser Land und einstweilen auch noch zu reich. Das weckt Begehrlichkeiten. Dazu ist die Versuchung zu groß, bei jedem Interessenkonflikt auf den Zweiten Weltkrieg und die deutschen Verbrechen zu verweisen, um die Bundesregierung moralisch unter Druck zu setzen, eine Methode, die im Zweifelsfall immer irgendwie funktioniert.
Wir mögen uns noch so sehr wünschen, harmlose Hobbits zu sein und als solche anerkannt zu werden, es wird uns nie gelingen. Dieser Traum ist eher noch unrealistischer als der englische Wunsch, still und friedlich inmitten des atlantischen Ozeans ein Inseldasein zu führen und Brüssel und die europäischen Nachbarn einfach zu ignorieren. Nur einen wesentlichen Unterschied gibt es dennoch zwischen Deutschland und Großbritannien: Die zum Teil freilich wirklich hasserfüllte Diskussion über den Brexit hat in Großbritannien zumindest ein intensives Problembewusstsein geschaffen, dieses fehlt in Deutschland weitgehend. Der umfassende politische Illusionismus, der es nicht wagt, dem Scheitern der eigenen Politik ins Auge zu sehen, und der auch und gerade die heutige CDU kennzeichnet, bereitet den Weg für politische Zauberkünstler, die gar nicht mehr versuchen, eine realistische Politik zu verfolgen.
Wenn es darum geht, Utopisten und Illusionisten zu finden, die zum Beispiel endgültig und für immer jede Kontrolle von Immigration an den Grenzen Europas aufgeben und jedem Immigranten in kürzester Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen wollen, dann haben die Grünen einfach mehr zu bieten als die CDU. Dazu kommt noch ein anderes. Sollte der frivole Boris Johnson, den selbst viele seiner Anhänger nicht für wirklich seriös halten, am Ende scheitern, steht hinter ihm immerhin ein Rishi Sunak, der Schatzkanzler (wie Johnson ein public school boy, aber Winchester, nicht Eton und ein Politiker von solidem Format). Bei uns steht hinter Merkel nur Laschet. Das wird nicht reichen.
Wenn wir daher im Herbst nächsten Jahres uns doch unter der Regierung eines Kabinetts Habeck wiederfinden sollten, dann haben wir das wesentlich auch der Traumtänzerei bürgerlicher Politiker zu verdanken, für die die Illusion des Erfolges die letzte Zuflucht bleibt, um überhaupt noch durch den Tag zu kommen.