Tichys Einblick
Phänomen der postmodernen Antipatriarchen

Die Flutnacht der Anne Spiegel – und was das mit ihr macht

Als Umweltministerin von Rheinland-Pfalz sorgte sich die heutige Bundespolitikerin um korrektes Gendern und ihr Image. Sie verkörpert einen neuen, antipatriarchalischen Typus. Wer wissen will, warum Amtsträger wie sie trotzdem Erfolg haben, muss die moderne Stammeskultur studieren.

IMAGO / photothek

Vor ein paar Monaten schrieb der Autor einer größeren Tageszeitung einen Text über die Außenministerin Annalena Baerbock. Er wolle gar nicht ihre Politik bewerten, erklärte der Redakteur, sondern eher ihren Stil und die Frage, wie der Auftritt einer jungen Frau das Bild von der Berufspolitik verändert habe. Er erzählte von ihrem Antrittsbesuch in Paris, von ihrer Kleidung, dem Zwischenstopp am Eiffelturm, er fand, mit ihr zeige sich ein ganz neuer politischer Stil.

Und er vermutete, die Ablehnung, die Baerbock hier und da entgegenschlage, entspringe vor allem aus dem Abwehrreflex von Männern mit einem Gesellschaftsbild aus grauer Vorzeit, die sich eine moderne vierzigjährige Frau an der Spitze des Außenministeriums eben nicht hätten vorstellen können, wobei modern vor allem bedeutet, dass ihr Sinn für öffentliche Wirkung unübersehbar von den sozialen Medien geformt wurde. Es sei eben eine neue Zeit, meinte der Autor, und die bringe eine neue Art von Repräsentanten hervor beziehungsweise umkehrt.

Ungefähr so hätte er wahrscheinlich auch über die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel geschrieben. Bis vor Kurzem, genauer: Eigentlich bis zu der Veröffentlichung mehrerer Sprachnachrichten, die sie im Juli 2021 als Landesumweltministerin von Rheinland-Pfalz nach der ersten Nacht der Ahrtal-Flut und in den folgenden Tagen mit engen Mitarbeitern wechselte, kannte kaum jemand die Politikerin. Kein Redakteur widmete ihr große Porträts. Dabei steht sie sogar noch mehr als Annalena Baerbock für einen wirklich neuen Mandatsträgertypus. Von dem Politikmodell Anne Spiegel wird es vielleicht später einmal heißen, sie und ähnliche Amtsinhaber und -inhaberinnen hätten eine neue gesellschaftliche Sehnsucht geweckt. Nämlich nach ihrem exakten Gegenteil: dem fossilen, in Social-Media-Angelegenheiten primatenhaften Patriarchen ganz ohne wertschätzende Sprache, dafür aber mit grässlicher Querstreifenkrawatte.

keine Entschuldigung bei Opfern
Familienministerin Spiegel versucht, die Flut-Affäre auszusitzen
Über Politiker wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl gab es seinerzeit viele Scherze (mehr über Kohl) und Kritik (wiederum mehr an Kohl). Auch die allermeisten Journalisten und Politikberater, die heute beide im Rückblick wohlwollend beurteilen, finden, diese autoritären und ziemlich biederen Erscheinungen hätten damals natürlich ihre Berechtigung gehabt. Aber heute wäre ihre Zeit einfach vorbei. Warum eigentlich? Spätestens nach Spiegels Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss in Mainz käme es mehr denn je auf einen Versuch an, es noch einmal probehalber mit einem dieser prähistorischen Politikerknochen zu versuchen.

Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal starben im Juli 2021 innerhalb weniger Tage 135 Menschen, es gab 800 Verletzte und Schäden in Milliardenhöhe. Obwohl die europäische Hochwasserzentrale damals sehr präzise Starkregen und eine akute Überschwemmungsgefahr in dem Gebiet vorhergesagt hatte, gab Spiegels Ministerium am 14. Juli 2021 um 16:43 Uhr eine Pressemitteilung heraus, in der es hieß, es drohe „kein Extremhochwasser“. Spiegel schaute über den Text und machte eine Anmerkung: „Bitte noch gendern, dann Freigabe“. Ihr war es wichtig, dass es „CampingplatzbetreiberInnen“ hieß.

An dem Abend, als die Flutwelle durch das enge Tal rollte und die ersten Menschen ertranken, fuhr die Ministerin zu einem Essen mit Parteifreunden. Nach der Aktenlage war sie auch für enge Mitarbeiter später telefonisch nicht erreichbar; sie selbst sah offenbar auch keine Dringlichkeit, Untergebene anzurufen, um sich über die Lage unterrichten zu lassen. Am nächsten Morgen, als auch ihr klar wurde, was sich in der Nacht ereignet hatte, schickte sie einem Mitarbeiter eine SMS mit der Aufforderung, sich Gedanken über das Wording zu machen, das ihre vergangenen vierundzwanzig Stunden retuschieren sollte:

„Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen und Vorsorgemaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc.“

Da Spiegels Kommunikation vom Gendern bis zur Bitte um das passende Wording in die Unterlagen des Untersuchungsausschusses gelangte, fiel es der jetzigen Bundesministerin nicht ganz leicht, die Aktenlage bei ihrer Befragung wegzuerklären. Ihr Wording dazu hörte sich so an: „Natürlich war ich in Gedanken bei der Situation vor Ort und habe gehofft, dass es dem Katastrophenschutz gelingt, dass Menschen gerettet werden können.“ Ihre bisher öffentlich bekannte Selbstkritik bestand aus einem einzigen Satz, nämlich der Bemerkung, ihre Mitarbeiter – nicht sie selbst – hätten an dem entscheidenden 14. Juli in der Pressemitteilung bei der Hochwasserprognose „andere sprachliche Formulierungen wählen können“.

Hochwasser im Ahrtal
Anne Spiegel und das Versagen der politischen Klasse
Über Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Rudolf Seiters und andere Uraltpolitiker lässt sich das eine oder andere Unvorteilhafte vortragen. Aber wahrscheinlich würden ihnen selbst ihre hartnäckigsten Kritiker nicht unterstellen, sie hätten sich als Minister, wenn auf ihren Zuständigkeitsbereich eine tödliche Flutwelle zugerollt wäre, um eine mediengängige Schnickschnackformulierung in der Pressemitteilung gekümmert, sich dann zum Abendessen verabschiedet, und am nächsten Tag ausführlich erörtert, mit welcher Sprachregelung sie die Verantwortung am besten von sich zu anderen schieben könnten. Und vor einem Untersuchungsausschuss hätten sie dann vermutlich, wenn ihnen schon ein Schreiben wie das mit dem Blame Game und dem Wording vorgehalten worden wäre, nicht wie Anne Spiegel geantwortet, sie hätten damit nur den Gedanken eines Mitarbeiters aufgenommen.

Rudolf Seiters trat bekanntlich als Bundesinnenminister nach dem teils chaotisch verlaufenen Zugriff der GSG 9 auf zwei RAF-Mitglieder in Bad Kleinen 1993 zurück, weil der Spiegel und Monitor behauptet hatten, ein GSG-Mann habe einen der beiden, Wolfgang Grams, aus nächster Nähe exekutiert. Für das Chaos bei der Polizeiaktion konnte Seiters nichts. Die Beschuldigungen gegen die GSG 9 stellten sich später als haltlos heraus. Sie beruhten auf Manipulationen und Falschbehauptungen. Der Minister ging damals, weil er schon den Verdacht vermeiden wollte, er als Dienstherr könnte die internen Ermittlungen gegen die Polizeibeamten beeinflussen.

Von Spiegel gibt es bisher noch nicht einmal eine Entschuldigung bei den Flutopfern.

Patriarchen sind im Umgang nicht immer angenehm. Vermutlich gestaltete sich der Dienst für enge Mitarbeiter Kohls anstrengender als für die rührigen Teammitglieder um Anne Spiegel. Und selbstverständlich sorgen sich Patriarchen auch um ihr Image, auch wenn Helmut Kohl einmal meinte, wenn er nachts aufwache, dann mache er sich keine Gedanken um sein Bild in der Geschichte, sondern – in seinen Worten – „was im Eisschrank ist“. Aber Patriarchen in der Politik und Firmenpatriarchen (die gibt es tatsächlich noch) besitzen auch ein Bewusstsein dafür, dass es vor ihnen etwas gab, auf das sie im Amt oder als Unternehmer aufbauen. Sie haben fast immer den Wunsch, auch etwas weiterzugeben. Deshalb kalkulieren sie meist auf längere Sicht. Sie fühlen sich als Hüter einer Substanz, die über den eigenen Karriereweg hinausreicht. Das gilt selbst dann, wenn sie dabei scheitern.

Wenn es heißt, jemand ginge patriarchalisch mit Leuten um, dann handelt es sich in der Regel um den Vorwurf, er würde sich von oben herab und gelegentlich autoritär um andere kümmern, und dafür Dankbarkeit wie einen Tribut eintreiben. Nach der Ahrtalflut und Spiegels SMS-Nachrichten gibt es endlich das lupenreine Gegenmodell: Jemand, der sich von oben herab nicht um Leute im eigenen Sprengel kümmert, sondern nur Schaden vom eigenen Erscheinungsbild abwenden möchte. Dankbarkeit erwartet Spiegel zwar nicht ausdrücklich, aber indirekt schon, wenn sie vor dem Untersuchungsausschuss behauptet, alle ihre Bemühungen hätten damals selbstredend den Menschen in Not gegolten, auch wenn sich das in ihren Textnachrichten vielleicht etwas anders lese, und wenn sie außerdem durchblicken lässt, irgendwann sei es auch mal gut mit den Nachfragen.

"Fehlbesetzung" Anne Spiegel
Grüne Familienministerin kämpft um ihre politische Zukunft nach Versagen in Ahr-Flutkatastrophe
Für Politiker wie Anne Spiegel scheint ein überpersönliches Vorher und Nachher nicht zu existieren. Sie und ähnlich konditionierte Mandatsträger verkörpern tatsächlich eine neue Qualität. Was zu der Frage führt: Welcher Windkanal formt eigentlich diese Politiker neuen Typs? Und: Wie kommt es, dass sie trotz ihres Sozialverhaltens mehr und mehr Ämter besetzen, und dort offensichtlich auch über eine robuste Schutzschicht verfügen?

Im Lebenslauf der 41-jährigen Bundesministerin finden sich zumindest Teilantworten. Mit 19 saß sie schon in einem für den Aufstieg wichtigen Gremium, dem Landesvorstand der Grünen Jugend. Nach dem Studium verbrachte sie als Sprachtrainerin zwei Jahre in der freien Wirtschaft, 2016 kam sie als Familien- und Integrationsministerin in die rot-grüne Regierung von Rheinland-Pfalz. In das prestigeträchtigere Umweltministerium wechselte sie 2020, weil ihre Vorgängerin Ulrike Höfken zwangsweise ausscheiden musste.

Höfken hatte jahrelang eine Personalpolitik betrieben, die im Wesentlichen darin bestanden hatte, eigene Günstlinge an allen Vorschriften vorbei auf gut dotierten Stellen zu platzieren, und zwar so systematisch, dass ihr das Oberverwaltungsgericht Koblenz bescheinigte, es habe Beförderung „ohne jegliche Feststellung von Leistung, Eignung und Befähigung der Bewerber“ gegeben, die gesamte Praxis der Ministerin sei „grob rechtswidrig“ gewesen. Unter diesen Umständen ließ sich selbst eine grüne Ministerin nicht mehr halten.

Spiegel selbst nahm auch mindestens eine Beförderung nach diesem Prinzip vor, übertrieb es aber nicht so wie ihre Vorgängerin. Im vergangenen Jahr entschied ein Gericht, dass Spiegel als Integrationsministerin einen Referatsleiterposten am vorgeschriebenen Dienstweg vorbei besetzt hatte. Vor Gericht ließ sich ihr Ministerium nicht von hauseigenen Juristen vertreten, sondern von einer Kanzlei, die dafür eine Rechnung über 22.000 Euro stellte.

Im Oktober 2021 wurde Spiegel zum ersten Mal über die Grenzen von Rheinland-Pfalz hinaus durch die sogenannte Microtargeting-Affäre bekannt: Ihre Pressestelle hatte bezahlte PR-Beiträge über die Arbeit des Ministeriums auf Facebook gezielt an Nutzer ausgespielt, über die das tüchtige kalifornische Datensammelunternehmen herausgefunden hatte, dass sie sich für die grüne Partei interessieren. Von diesem rechtswidrigen Einsatz von Steuergeldern zur grünen Wählermilieupflege, beteuerte Spiegel damals, habe sie keine Ahnung gehabt.

Es ergab sich also schon vor ihrer Flut- und SMS-Affäre das Bild einer Politikerin, die es für naheliegend hielt, ihr Ministerium zu einem Vorposten ihrer Partei auszubauen, so, wie sie auch in Themenwahl und Wording immer darauf achtete, zuallererst das eigene Milieu zu bedienen. Schon vor ihrem Amtsantritt in Berlin erklärte sie es zu ihrem wichtigen Anliegen, eine einheitliche Gendersprache in allen Gesetzestexten und Erklärungen der Ampelkoalition durchzusetzen.

Außerhalb einer urbanen grünenaffinen Schicht hält das zwar niemand für eine drängende gesellschaftliche Frage. In den Vierteln mit 25 Prozent Grünenwählerschaft und mehr beschäftigen sich tatsächlich sehr viele mit dem gerechten Schreiben und Sprechen. Überhaupt lässt sich mit einer Art Sozialethnologie überhaupt erst verstehen, warum so viele, ja eigentlich fast alle Grünenpolitiker sich so obsessiv Gegenständen widmen, für die es außerhalb sehr enger Milieugrenzen kein Interesse und oft noch nicht einmal den nötigen Begriffsapparat gibt. Das gilt für Spiegels gegenderte Gesetzestexte und Pressemitteilungen genauso wie für Annalena Baerbocks Wasserstoffdiplomatie und Ricarda Langs Body Positivity bis zur Forderung Katrin Göring-Eckardts nach einer Parlamentspoetin. Draußen mag so etwas als Orchideenthema gelten. Drinnen erfüllt es die Funktion eines gemeinschaftsstiftenden Rituals, dem sich bei Strafe der Nichtwiederaufstellung bei der nächsten Wahl niemand entziehen kann.

Politiker, die mit Hilfe der zentralurbanen Wähler aufsteigen wollen, müssen sich zwingend auf zwei Teilgesellschaften konzentrieren, in denen radikal andere Regeln gelten als im restlichen Land. Zum einen ist das die Partei, die diese Wählerschaft bedient, vor allem aber über die entscheidenden Listenplätze bestimmt. Die Grünen lassen sich am ehesten als straff organisierte Stammeskultur beschreiben, in der alles von der Zugehörigkeit zu einem Fügel, einem Geschlecht, einem lokalen Netzwerk und außerdem von der nötigen Medienaffinität abhängt. ‚Straff‘ meint vor allem: Neben der Zugehörigkeit sind auch noch bestimmte Rituale streng zu beachten und bestimmte Regelverstöße, selbst kleine, strikt zu vermeiden.

Die Glaubensgemeinschaft verzeiht es der einen grünen Politikerin großzügig, dass sie zum Ausstieg aus der fossilen Energie aufruft, aber privat zum Eisessen nach Kalifornien düst, sie vergibt einen Hochstaplerlebenslauf, sieht das private Hummeressen einer Hamburger Justizsenatorin auf Malta und auf Steuerzahlerkosten grundsätzlich entspannt, und fordert aus den eigenen Kreisen auch nicht die Demission einer Ministerin, die in einer Hochwassernacht einfach abtaucht. Aber das kulturell aneignende Trigger-Wort ‚Indianerhäuptling‘ hätte die Berliner Spitzengrüne Bettina Jarasch parteiintern fast aus der Kurve getragen.

Interview Ralph Thiele:
Flutkatastrophe Ahrtal: »Ein Staat, der so schlecht performt, riskiert seine Existenz«
Mindestens genauso überlebenswichtig wie die Zufriedenstellung der eigenen Parteigremien ist die Konzentration auf den anderen entscheidenden Pol: die wohlmeinenden Medien. Auch dort unterscheiden sich Rituale, Sprachregelungen, Themensetzungen und Karrierewege nachhaltig von dem Rest des Landes. Beide Bereiche, grünes Parteigeflecht und Berliner Medienbetrieb, folgen also jeweils sehr stark eigenen Regeln. Aber beide Terrains gleichen einander sehr. Auch für viele Hauptstadtjournalisten spielen wiederum zwei Bezugspunkte die wichtigste Rolle: zum einen Journalisten und zum anderen großstädtisch-progressive Freunde und Bekannte, die sogenannte Peer Group, deren Lob und Tadel einem Redakteur im Zweifel wichtiger ist als die Auflage des eigenen Blattes. Angesichts der Auflagenentwicklung richtet sich der Blick vieler Medienschaffender außerdem auf den Apparat von Politik und Organisationen, die sicher finanzierte Sprecher- und Beraterpositionen zu vergeben haben.

Das gilt natürlich nicht für alle, es soll hier um Gottes willen kein Pauschalurteil verbreitet werden. Wer Texte mit einer eigenen stilistischen Note verfassen kann, über begehrtes Fachwissen verfügt oder sogar beides, der kann auch bestens außerhalb eines Redaktionsapparates überleben. Nur trifft das eben nicht für alle in der Branche zu.

Grünenpolitiker, die sich so sehr auf Parteibeziehungspflege und Medienbild konzentrieren müssen, dass ihnen der Gesellschaftsabschnitt dazwischen aus dem Blick gerät oder gar nicht erst in den Blick kommt, selbst dann, wenn gerade eine Flutwelle durch diesen Rest rast, stehen also Politikjournalisten strukturell sehr nah, die sich so zwischen Peer Group einerseits und Sorge um eine Anschlussverwendung andererseits dermaßen aufreiben, dass sie sich unmöglich auch noch für den Zustand der Energieversorgung oder die sozialen Folgen der Inflation interessieren können.

Beide Stämme rekrutieren sich auch noch aus der gleichen postmateriellen Bürgerkinderschicht, beide teilen eine ganze Reihe von Begriffen und eine gemeinsame Plattform, nämlich Twitter. Auch im Stamm der Progressivjournalisten gilt übrigens die Regel, dass sich seine Mitglieder sehr viel erlauben können – erfundene Zahlen, verdrehte Zitate, Beschimpfung eines ganzen Bevölkerungsteils als Blinddarm. Aber ein einziger Verstoß gegen eine Sprechregel auf den Gebieten Klima, Geschlecht, Migration und deutsche Vergangenheit raubt ihnen unter Umständen den Platz in der Redaktion. Von der Anschlussverwendung gar nicht zu reden.

Bei so viel Wahlverwandtschaft liegt es nahe, dass Mitglieder des einen Stammes in Not geratene Angehörige des anderen stützen. Dieses enge solidarische Netz zwischen zwei bizarren Ausnahmegruppen rettet vermutlich auch Anne Spiegel, wie es schon vorher Annalena Baerbock, Katharina Schulze und die staatliche Hummertesterin Anna Gallina gerettet hatte.

Politik- und Staatsversagen
Es war Zeit zur Evakuierung vor der Katastrophe an der Ahr
An dieser Stelle klingt die Aufzählung möglicherweise so, als gäbe es das Phänomen ausschließlich bei den Grünen. Es konzentriert sich in augenfälliger Weise dort, beschränkt sich aber nicht auf die 14,8-Prozent-Partei mit der überlebensgroßen Wirkung. Diana Kinnert etwa gehört der CDU an, allerdings dem gleichen politischen Stamm wie Spiegel. Falls Sie nicht sofort das Bild vor Augen haben sollten: Über längere Zeit kombinierte sie konservative Oberbekleidung mit einer schief aufgesetzten Basecap, unten also Hanna-Renate Laurien, obenherum Sabrina Setlur. So etwas heißt Signature Look, er ist für Politiker unverzichtbar, die hauptsächlich über die Medien arbeiten, wo Wiedererkennbarkeit 95 Prozent des Erfolgs ausmacht.

In einem großen Beitrag der Zeit zur „Welt in 50 Jahren“ skizzierte die 1991 geborene Kinnert eine Zukunftsvorstellung mit sehr viel staatlicher Wärme – es herrschen bedingungsloses Grundeinkommen und „BAföG auf Lebenszeit“, auch viel Entgrenzung („alte Deutsche, mittelalte Inder und junge Äthiopier zahlen in einen gemeinsamen Rentenfonds für die Altersvorsorge ein“). Dazu kommt der Sinn für das unvermeidliche zielgruppenspezifische Spezialthema: „London, Berlin und Tel Aviv teilen sich eine politische Sondereinheit, die Konzepte für Nachtleben und Clubkultur erarbeitet.“

Mit dem Einwand, das Nachtleben in London, Tel Aviv und sogar Berlin funktioniere heute und vermutlich auch in 50 Jahren ganz gut ohne Konzepte einer politischen Sondereinheit, womöglich blühe es gerade deswegen, weil dort noch keine Sondereinheitskader mit Politikwissenschaftsdiplom den Betrieb stören, braucht Kinnert niemand zu kommen. So sprechen nur Retrobürger, die tatsächlich noch glauben, Politiker hätten sich um unhandliche Themen wie öffentliche Sicherheit, Katastrophenschutz und die Stabilität der Stromversorgung zu kümmern, dafür dann auch tatsächlich Verantwortung zu übernehmen und von allem anderen die Finger zu lassen. Jede aufstrebende Politikperson in Berlin, jeder in der Politikberatung Tätige und jeder zuverlässige Medienschaffende kann Ihnen beim Löffelumdrehen im Einstein Unter den Linden erklären, dass solche Vorstellungen völlig aus der Zeit gefallen sind, warum das auch gut ist, und weshalb die alten Patriarchen niemals wiederkommen.

Das Phänomen der postmodernen Antipatriarchen findet sich also in fast allen Parteien. Aber ein unausgeglichenes Geschlechterverhältnis lässt sich nicht leugnen. Es sind fast nur jüngere Frauen, die das neue Politikmodell verkörpern, obwohl ja auch ein moderner Mann problemlos dazu in der Lage wäre, nach Freigabe einer gegenderten Pressemitteilung in der Flutnacht zum Netzwerkabendessen zu fahren, sein Telefon abzuschalten, und dann am nächsten Tag unter dem Eindruck seiner suboptimalen Lage erst einmal alle Kanäle der Ego-PR gründlich durchzuspülen.

Warum also herrscht hier so wenig Parität? Nicht etwa, weil Frauen häufiger oder besser als Männer dazu in der Lage wären. Das Verantwortungs- wie auch das Schamgefühl verteilt sich auf beide Geschlechter gleich. Es verhält sich vielmehr so, dass Politiker, die sich in einer Flutkatastrophe und danach wie Anne Spiegel benehmen, nur überleben können, wenn sie über eine außerordentlich starke Immunisierung verfügen. Und es existiert nun einmal keine wirkungsvollere Schutzschicht als Mitglied der Grünen und junge mediengängige Frau. Das wirkt wie eine Boosterdoppelimpfung mit einem tatsächlich omnipotenten Stoff.

Fallen also beide Schutzkategorien zusammen, und kommt es zu keinem ernsthaften Verstoß gegen ein Stammestabu, dann gibt es praktisch nichts unterhalb der versehentlichen Auslösung eines Atomkriegs, was eine Persönlichkeit des postpatriarchalischen Zeitalters aus dem Amtssessel hebeln könnte. Es handelt sich um einen gewissermaßen natürlichen Prozess: Eine optimal an ihre Umgebung anpasste Art, die locker überlebt, was andere hinwegrafft, wird sich quantitativ immer durchsetzen und nach und nach alle schlechter Angepassten verdrängen.

In der Zukunft, in der Diana Kinnert endlich ihr Clubkulturministerium leitet, muss auch niemand Chroniken umschreiben, in denen etwas von Politikerrücktritten aus Gründen der allgemeinen politischen Hygiene steht. Es ist unwahrscheinlich, dass das besonders viele darin lesen. Und wer es tut, der hält es wahrscheinlich für Erfindung. So, wie die Leute es dann wahrscheinlich für eine Legende halten, dass es tatsächlich einmal Amtsträger gab, die nicht ausschließlich ihr eigenes gesellschaftliches Milieu bedienten.

Zeitungsbericht:
Mainzer Landesregierung handelte trotz Warnungen vor Flutkatastrophe nicht
Wie geht es mit Anne Spiegel weiter? Erst einmal, würde ein PR-Berater sagen, muss die ganze Flutsache, hihi, etwas abtropfen. Danach braucht es ein größeres Interview in einem Hamburger Stützungsmedium, mit Redaktionspersonen, die ihre gelegentlich kritischen Nachfragen in ein grundsätzlich warmes Wohlwollen einbetten. Schon ganz am Anfang ihres Wechsels nach Berlin wollte die Plattform RND als erstes von der jungen sympathischen Politikerin wissen, wie sie mit ihrer Familie die Pandemiezeit überstanden hatte.

Der Tagesspiegel begann ein Interview Ende 2021 mit der Frage: „Frau Spiegel, Sie sind jetzt seit zwei Wochen Ministerin. Sind Sie überhaupt dazu gekommen, Weihnachtsgeschenke zu besorgen?“

Das war, bevor ihre SMS-Nachrichten zum Blame Game und zum Wording öffentlich wurden. Aber auch danach änderte sich nichts am Ton zwischen ihr und den Mitgliedern des befreundeten Medienstamms. An dem Tag, an dem sie vor den Untersuchungsausschuss in Mainz geladen war, erschien das Magazin der Süddeutschen mit der üblichen Fotogeschichte „sagen Sie jetzt nichts“, in der Politiker mit sprechenden Gesten antworten sollen. Die Doppelseite zeigt Spiegel, wie sie sich über den Anruf von Annalena Baerbock gefreut hatte, als die ihr die Berufung ins Bundeskabinett verkündete, sie zeigt Spiegel mit streng abweisender Geste auf die Frage „wie reagieren Sie auf nichtgegenderte Pressemitteilungen ?“ Zu ihrer Rolle während der Ahrtalflut gab es keine einzige Frage.

Jedenfalls, in dem großen Anne-Spiegel-Interview, das demnächst kommt, sollte es nach freundlicher Einleitung eine kurze Zerknirschungsstrecke geben, in der sie erzählt, wie die Erinnerung an die Flutnacht sie bis heute verfolgt. Dann einen längeren Abschnitt über die Hassbotschaften, die sie bekommt, von denen sie sich aber nicht einschüchtern lässt, gefolgt von der längeren Standardbetrachtung, warum junge erfolgreiche Frauen wie sie alte traditionelle Männer so provozieren, und welche staatlichen Erziehungsmaßnahmen es dagegen braucht.

Nach diesem Teil aber, also spätestens in der Interviewmitte muss die eigentliche Frage kommen, die Frage, die das konkurrenzlose Zentrum sowohl des postjournalistischen Journalismus als auch aller zukunftsfähigen Politik bildet: „Was macht das mit Ihnen?“ Schon deshalb haben die Patriarchen heute keine Chance mehr: Ihnen fiele auf diesem aufmerksamkeitsökonomischen Kerngebiet überhaupt nichts Vernünftiges ein.

Für die bestehende politisch-mediale Landschaft ist es ein Segen, dass es die fossilpatriarchalischen Amtsträger wirklich nicht mehr gibt. Man stelle sich vor, noch ein paar externe Schocks, beispielsweise einen mehrtätigen Blackout: Und dann hätten die Leute tatsächlich die Wahl, ob sie bei der nächsten großen Erschütterung Hab und Gut und Leben in die Hände einer Anne Spiegel legen – oder in die eines alten reaktionären Knochens, der rettet, was noch zu retten ist.

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