Beim Sondertreffen der zuständigen EU-Minister zum Thema Afghanistan und Migration kam es am letzten Augusttag zu einer eindrucksvollen Szene, als die zuständigen Minister aus Tschechien, Österreich und Dänemark gemeinsam vor die Presse traten. Es war ein geschichtsträchtiger Vorgang, dessen Bedeutung vielleicht erst viel später klar werden wird: Erstmals machten mehrere Teilnehmer eines EU-Gipfels gemeinsam deutlich, dass das Zeitalter der unbegrenzten Aufnahme von Migranten aller Art beendet ist.
Im Auftreten des dänischen Ausländerministers Mattias Tesfaye (S) kann man vielleicht noch etwas von der Last spüren, die seine Politik für die Sozialdemokratie bedeutet. Allerdings sprach Tesfaye letztlich unerschüttert und sogar eindringlich davon, dass man im Jahr 2021 auf keinen Fall die Fehler von 2015 wiederholen dürfe. Auf keinen Fall dürften Länder, die die europäischen Grenzen schützen, für diese Praxis kritisiert werden, wie es 2015 geschah: »Volle Unterstützung für Litauen, Bulgarien, Griechenland, Ungarn, Spanien und andere europäische Länder, die unsere gemeinsamen europäischen Grenzen stärken und sichern.«
Die Worte Tesfayes unterscheiden sich überdeutlich von der bundesrepublikanischen Gebetsmühle, nach der »2015 sich nicht wiederholen darf«. Statt zu lamentieren und sinnfrei Dinge zu versprechen, die man ohnehin nicht vorhat einzuhalten, will Tesfaye konkret Verantwortung übernehmen und ist dabei auch zu Beistandsbekundungen bereit, die ihm nicht von allen Seiten Beifall einbringen. Auch der ungarische Botschafter in Berlin, Peter Györkös, forderte die EU zum Umdenken auf: »Die EU sollte ihre Hilfe exportieren, statt unlösbare Probleme nach Europa zu importieren.« Man ist, auch das sagte Tesfaye, in Gesprächen mit Nachbarländern wie Tadschikistan und Turkmenistan und hat an dieser Stelle offenbar noch viel zu lernen. Tajikistan ist laut der BBC bereit, 100.000 Afghanen aufzunehmen. Turkmenistan will seinen Luftraum für weitere Evakuierungsflüge öffnen.
Die europäische Standfestigkeit auf der Probe
Direkt im Anschluss an den Brüsseler Gipfel fand im slowenischen Bled das sechzehnte dort veranstaltete Strategische Forum (Bled Strategic Forum) statt. Aus Anlass der slowenischen Ratspräsidentschaft waren dieses Mal sieben Staats- und Regierungschefs aus Ostmittel- und Südosteuropa zu einem Panel zusammengekommen – eine erweiterte Balkan-Runde, wenn man so will. Dazu gehörten neben dem gastgebenden Ministerpräsidenten Janez Janša die Premiers von Kroatien, Griechenland, Ungarn, Tschechien und der Slowakei sowie der serbische Präsident Aleksandar Vučić als einziger Nicht-EU-Staatschef.
Gegenstand des Gesprächs war die »Stärkung der Widerstandsfähigkeit Europas« (so die Budapester Zeitung) oder im englischen Originaltitel: »Future of Europe – To Stand and Withstand«. Damit war vor allem das Thema der irregulären Migration gemeint. An dieser Stelle waren die versammelten Regierungschefs, die sämtlich dem konservativen oder nationalen Lager zugerechnet werden, einig.
Laut dem Wiener Standard ging es in Bled »um Nation versus Bürgergesellschaft, um die Verhinderung jeglicher Migration im Gegensatz zur Aufnahme von Verfolgten, um eine Minimalversion Europas und eine wertegeleitete EU, die gemeinschaftlich handelt«. Aber sind Nation und Bürgerschaft wirklich Gegensätze? Und lehnen die versammelten Staaten wirklich jede Migration ab? Griechenland tut das nicht, ebenso dürften alle anderen über qualifizierte Zuwanderung erfreut sein.
Orbán bleibt der Hauptgegner des Migrationsföderalismus
Genauso darf man auch die Frage von Minimal-Europa oder Werteorientierung als Scheingegensatz abtun. Wenn die hochgesteckten moralischen Erwartungen sich allerdings mit den Interessen der Einzelstaaten beißen, dann dürfte wirklich etwas nicht stimmen an dieser EU.
Wahr ist, dass Viktor Orbán die Migrationsfragen in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten belassen oder sie dahin zurückgeben will. Ein föderalistischer Ansatz würde das Problem aus seiner Sicht verschärfen – vor allem natürlich, weil die Föderalisten in der EU eine ganz andere Vorstellung von Migrationspolitik haben als die Sieben von Bled. In Ungarn will Orbán den demographischen Problemen mit einer christlichen Familienpolitik begegnen. Ehepaaren wird seit 2019 ein Darlehen von zehn Millionen Forint (rund 30.000 Euro) gewährt, das nach dem dritten Kind vollständig erlassen wird.
Die massenhafte Einwanderung aus meist muslimischen Ländern gefährde die Sicherheit und kulturelle Identität Europas. Außerdem führe die Massenmigration zu sozialen Verwerfungen und steigender Kriminalität. Deshalb verlangt Orbán, die Migrationsfragen in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten zu belassen. Ein föderalistischer Ansatz würde das Problem aus seiner Sicht verschärfen – vor allem natürlich, weil die Föderalisten in der EU eine ganz andere Vorstellung von Migrationspolitik haben. In Ungarn will Orbán den demographischen Problemen mit einer christlichen Familienpolitik begegnen. Ehepaaren wird seit 2019 ein Darlehen von zehn Millionen Forint (rund 30.000 Euro) gewährt, das nach dem dritten Kind vollständig erlassen wird.
In der Region grassiert schon jetzt die E-Allergie
Nun mag es europäische Politiker geben, die eine Minimalversion der EU anstreben. Aber das sind eher nicht die Balkananlieger, die die Brüsseler Unterstützung durchaus schätzen, dabei aber eigene Vorstellungen von einer gemeinsamen Politik haben. So verfügen die in Bled versammelten Länder durchaus über eigene Werte, zum Beispiel christliche, wie auch Viktor Orbán nicht müde wird zu betonen. Insofern wäre auch gemeinsames Handeln mit anderen Europäern möglich – es ist eben nur die Frage, auf welche Grundwerte man sich einigen kann.
Der Gastgeber formulierte seine Grundforderung in einer einleitenden Rede: »Die EU muss zu ihren Wurzeln zurückkehren, zu den von den Gründervätern festgelegten Grundsätzen, denn nur so kann sie ihre Einheit gewährleisten und gleichzeitig ihre Vielfalt bewahren.« Das könnte eine Kompromissformel sein, die zwischen den »Illiberalen« um Orbán und den Hyper-Liberalen im Westen vermittelt. Mehr Staatenbund, weniger Bundesstaat ist auch das Rezept, das Orbán anbot.
Wem nützt der EU-Beitritt der Westbalkanländer?
In einem zweiten Panel auf dem Bleder Forum ging es mit den Staats- und Regierungschefs von Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, dem Kosovo und Albanien um die Erweiterungspläne der EU auf dem Westbalkan. Serbien steht anscheinend ganz oben auf der Wunschliste: So durfte der serbische Präsident Vučić als einziger Vertreter eines Kandidatenstaats bereits auf dem EU-Panel Platz nehmen. Die EU-Mitgliedschaft Serbiens wird auch vom ungarischen Ministerpräsidenten befürwortet. Andernfalls ergebe es keinen Sinn, von der europäischen Identität und Sicherheit zu sprechen, so Orbán, die EU brauche Serbien aufgrund geopolitischer Interessen. Ungarn besitzt eine längere Grenze mit dem Nicht-EU-Land.
Trotz der EU-Allergie, die sich laut dem kroatischen Premier im Südosten Europas ausbreitet, scheint eines der Probleme auf dem Westbalkan zu sein, dass man nicht früh genug in diesen Club aufgenommen wird. Der Aufnahmeprozess ist aus Sicht der Anwärter Albanien, Nordmazedonien und Serbien ins Stocken gekommen (Zitat: »Wir warten auf Godot«). Gewünscht wird der Beitritt – von EU-Mitgliedern wie Kandidaten – wohl vor allem aus wirtschaftlichen Gründen.
Die Schließung der Balkanroute gelingt auch ohne eine EU-Mitgliedschaft der Serben und Nordmazedonier, wenn auch noch nicht ganz lückenlos. Aber vielleicht ist es für die Schließung der Route sogar besser, wenn es noch ein paar echte Grenzen gibt und nicht alles nach der Brüsseler Pfeife tanzt.