Tichys Einblick
Das Selbstvertrauen bröckelt

Die EU bekommt Angst vor ihrer Zukunft

Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, sieht die konkrete Gefahr, dass die EU in zehn Jahren in dieser Form nicht weiterbestehen könne. Schuld seien Polen und Ungarn: Sie könnten die EU „sprengen“. Die frühere Zukunftsgewissheit von den Vereinigten Staaten von Europa ist dahin.

IMAGO / Christian Ohde

Politische Gebilde brauchen Selbstgewissheit. Das Heilige Römische Reich glaubte daran, als letztes großes christliches Reich auf Erden zu bestehen – nach dem Untergang sollte die Apokalypse folgen. Dem russischen Zarenreich wohnte als „Drittes Rom“ eine ähnliche Überzeugung inne: Denn ein „viertes Rom“ werde es nicht geben. Auch die – deutlich kleinere – Republik Venedig inszenierte sich als „Ewige Republik“, die unter dem besonderen Schutz des Heiligen Markus stand und die besten Einrichtungen der Römischen Republik übernommen hatte. Das Reich, Venedig und Russland konnten über Jahrhunderte bestehen angesichts dieser „historischen“ Selbstgewissheit.

Eine andere Form der Selbstgewissheit kennen die kommunistischen Staaten. Im Gegensatz zur „historischen“ Selbstgewissheit liegt ihnen eine „Zukunftsgewissheit“ zugrunde. Nicht die Legitimation durch Gott, die historische Beständigkeit oder das gereifte politische System sind Pfeiler, auf denen die staatliche Gewissheit steht, sondern die Überzeugung, dass der Marxismus als exakte Wissenschaft die historische Entwicklung vorausberechnet hat. Wenn auch Sozialismus und Kommunismus in der Realität Mängel aufweisen, so ist klar, dass sie sich als überlegenes System in der Geschichte durchsetzen müssen – trotz aller Widerstände, Probleme und Niederlagen.

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Eine demokratische Spielart dieser marxistischen Idee ist das Konzept vom „Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama. Gemäß dieser Theorie, die nach dem Fall der Sowjetunion die 1990er Jahre dominierte, wandelten sich sämtliche Staaten aufgrund ökonomischer Vernetzung und des Exports der liberalen Ideen langfristig in Demokratien. Da Demokratien keine Kriege gegeneinander führten und die gegenseitige Verflechtung durch die Globalisierung Konflikte verunmögliche, liege die Zukunft in einem liberal-demokratischem Weltstaat.

Die Idee der Europäischen Union fußt auf genau dieser Ideologie. Die Existenz der EU, ihre Erweiterung und Festigung galt als Paradebeispiel jener Apologeten des zukünftigen Weltstaates, der sich zuerst über regionale und kontinentale Zusammenschlüsse konstituiere. Jeder Fortschritt der EU galt als Bestätigung der These. Das stärkte die Überzeugung der Funktionäre, dass – ähnlich wie der Kommunismus – die Europäische Integration nach Brüsseler Doktrin unausweichlich sei. Jeder Rückschlag, etwa das gescheiterte Verfassungsreferendum in Frankreich und den Niederlanden, galt nur als kurzfristige Lappalie. Spätestens seit der Juncker-Kommission machte man keinen Hehl daraus, dass man nicht mehr auf Überzeugung, sondern auf Gewöhnung – oder gar Zwang setzte. Selbst der Brexit wurde nicht als Katastrophe begriffen, sondern als Dummheit der Briten, sich auf die falschen Gleise der Geschichte begeben zu haben. Am Ende stünden die Vereinigten Staaten von Europa.

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Doch es hat sich etwas getan in der heilen Welt der EU-Utopie. Die Briten hatten ihre Beziehung zum Kontinent stets als Geschäfts- aber nie als Liebesbeziehung kommuniziert. London betrachtete die EU als erweiterte Freihandelszone. Der Abgang des Vereinigten Königreichs kam daher auch einigen EU-Funktionären entgegen, die „Größeres“ vorhatten. Anders sah es da mit den Völkern aus, die einst auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebten. Polen wie Ungarn definieren sich als Europäer, sie haben den Beitritt überschwänglich begrüßt. Es sind zwei Völker, deren Staaten von den Landkarten verschwunden waren; es sind Völker, die aus dem Leid von Teilung und Besetzung einen großen Wunsch nach Unabhängigkeit verspüren; und es sind zugleich Völker, die positive Erfahrungen damit gemacht haben, einem größeren Staatenbund anzugehören.

Die Ungarn kennen nicht nur das osmanische Joch, sondern auch die fruchtbare Zeit des österreichisch-ungarischen Ausgleichs. Die Polen kennen nicht nur den Verlust ihres Vaterlands, sondern auch die jahrhundertelange Union mit Litauen – eine Wahlmonarchie, deren König nicht selten aus dem Ausland stammte. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, beide Staaten präge nur eine starke „nationale“ Identität, die sich nicht um größere Einheiten schere; beide Völker haben historische Erfahrungen, die ihnen ein genaues Gespür geben, was Ausgleich und was Übergriffigkeit ist. Die Erben zweier paneuropäischer Staatenmodelle, die überdies jahrhundertelang als „Grenzwächter“ gegen anti-europäische Kräfte (das gilt für das islamische Osmanische Reich wie den Sowjetkommunismus) dienten, brauchen sich nicht von Brüssel darüber belehren zu lassen, was „Europa“ ist.

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Freilich, die Verantwortlichen in der EU haben von dieser historischen Substanz keine Ahnung; wer denkt schon an die Schlacht von Mohács, die Lubliner Union, die Polnischen Teilungen oder gar den Aufstand der Ungarn vom 23. Oktober, wenn bereits Solidarność und das paneuropäische Picknick vergessen sind? Dennoch: Brüssel ist der polnisch-ungarische Konflikt unheimlicher als der Brexit, obwohl die Länder demographisch und ökonomisch kleiner sind. Großbritannien wollte die EU nicht verändern, sondern in einem losen Zustand konservieren. Ungarn und Polen dagegen haben ein anderes Zukunftsprojekt, das sich mit dem Stichwort einer christlich-patriotischen Demokratie beschreiben ließe. Sie beharren nicht nur auf ihrer Souveränität, sondern wehren sich auch gegen europaweite Versäumnisse, von der Massenzuwanderung bis hin zur Abtreibung. Das steht einer linksliberalen EU-Doktrin im Weg.

Das Unwohlsein kristallisierte sich jüngst heraus, als Katarina Barley gleich zweimal zugab, dass ihre Selbstgewissheit dahin sei, was die Zukunft der Union angehe. Bei „Phoenix“ antwortete sie auf die Frage, wie die EU in zehn Jahren aussehe: „Ich bin froh, wenn es die Europäische Union in der Form, wie wir sie kennen, in zehn Jahren noch gibt, weil die Entwicklungen in Polen und Ungarn so bedrohlich sind, dass sie diese EU sprengen können. Ich hoffe, dass sie immer noch ein rechtstaatliches, demokratisches und weltoffenes Gebilde ist.“ Das sind überraschende Worte. Die Schlagrichtung ist klar: Polen und Ungarn sollen als dämonische Bedrohung aufgebaut werden, gegen die es sich zu bewähren gilt. Erst die Niederringung dieser Gefahr ebnet den Weg in die glorreiche EU-Zukunft. Auch die mögliche Abwicklung „zum Wohle aller“ ist eine Option. Aber vielmehr drückt diese Stellungnahme eines aus: Unsicherheit. In Barleys Worten – sie ist immerhin Vizepräsidentin des EU-Parlaments – existiert keine Gewissheit über den Sieger des messianischen Endkampfs.

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Am Montagmorgen wiederholte Barley gegenüber n-tv diese Sichtweise. Und wieder: die Ungewissheit, ob die Union noch in der Zukunft so aussieht wie jetzt. „Ich sehe eine konkrete Gefahr, dass, wenn wir jetzt nichts unternehmen, die Europäische Union so jedenfalls nicht mehr bestehen wird. Wir haben zwei Länder, neben Polen ist das ja auch noch Ungarn, die seit einigen Jahren daran arbeiten, unser Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verändern. Die begnügen sich nicht damit, in ihren eigenen Ländern die Unabhängigkeit der Justiz abzuschaffen, sondern sie wollen das in die gesamte Europäische Union übertragen.“ Mit dem letzten Urteil des polnischen Verfassungsgerichts hätten sie sich aus der europäischen Rechtsgemeinschaft verabschiedet. Der „Lawineneffekt“ sei dabei von Ungarn ausgegangen, dort könne man nicht mehr von Demokratie reden. Das sei auf Polen übergeschwappt, nun sei Slowenien gefährdet.

Dass in Brüssel die Gefahr nur von „außen“ kommen kann, und die Administration nicht selbst einen Anteil an der Situation haben könnte, versteht sich von selbst. Stattdessen sieht sie bereits mit Slowenien den nächsten bösen Buben. Das erinnert an eine kollabierende Großmacht, die in ihrem Taumel ein kleines Land überfällt, um den eigenen Status zu bekräftigen. Das mag nach innen wie Balsam wirken. Nach außen bestätigt es den Eindruck des sinkenden Schiffes, an dessen Kurs selbst die Offiziere nicht mehr glauben. Zusätzlich droht die Gefahr, dass die EU womöglich nicht das Monopol auf Staatenbünde halten könnte. Polen-Ungarn könnte einen neuen Bund antreiben: ob nun als EFTA, als Visegrád-Union oder anderes Konkurrenzprojekt. Die beiden christlich-patriotischen Demokratien haben ihre eigenen Fundamente.

Die EU dagegen hat keine Armee, die sie schützt, keinen charismatischen Staatsmann, der sie führt, keine historische Masse, auf der sie beruht, keinen Gott, auf den sie vertraut, kein Volk, das sie legitimiert, keine Überzeugungen, die sie konserviert. Sie ist ein bürokratisches Skelett ohne Fleisch und Herz. Der einzige Geist, der die Funktionärsseelen begeisterte, war jene Zukunftsgewissheit: das Bewusstsein, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, die unveränderbar vorgeschrieben ist. Wenn selbst dieser fade Rest einer Überzeugung bei den Anhängern schwindet, ist es mit der EU-Idee nicht mehr weit her. Dann bleibt ähnlich wie in der Sowjetunion nur noch der Eindruck einer Gerontokratie, die sich trotz nahenden Untergangs an vergangene Ideen klammert.

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