In der englischsprachigen Welt gehört the thin red line zum Vorrat der festen Redewendungen: die dünne rote Linie, der schmale Grat – das steht für eine letzte und ziemlich prekäre Verteidigungsstellung. Das Wort geht auf einen martialischen Ursprung zurück, es stammt aus der Schlacht von Balaklava im Krimkrieg. An diesem 25. Oktober 1854 standen zwischen der russischen Kavallerie und dem britischen Hauptquartier in Balaklava die etwa 500 Männer der 93. Sutherland Highlanders. Ihr Kommandeur Colin Campbell formierte die schottischen Schützen in ihren roten Uniformen zu einer langgezogenen Doppelreihe, und erklärte ihnen die Lage vor der Kavallerieattacke so: „Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit, Männer. Ihr müsst dort sterben, wo ihr steht.“ Also keine ausgebaute Stellung, keine Reserve im Rücken, keine Flankendeckung.
Die letzte Linie hielt, unter dem Feuer der Schotten drehten die Angreifer ab. Trotz seines kriegerischen Ursprungs gilt die Metapher der dünnen roten Linie für das Zivilleben, sie passt auch für Corona-Deutschland im November 2020. Eine dünne rote Linie – die könnten Verfassungsrichter in ihren roten Roben bilden, wenn sie das „Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ stoppen. Jedenfalls gibt es kein anderes Verfassungsorgan, das noch dafür in Frage kommt. Eine Parlamentsmehrheit verabschiedete am Mittwoch trotz massiver Einwände von Kritikern und auch des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages die Generalklausel für den tiefen Eingriff in wesentliche Grundrechte, der Bundesrat ebenfalls. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier soll es noch am gleichen Tag unterzeichnen – offenbar also ohne Prüfung auf Grundgesetzverträglichkeit. Von der ersten Lesung bis zum Beschluss des Gesetzes vergingen gerade 12 Tage. Noch am Montag bekamen die Abgeordneten umfangreiche Änderungsanträge auf den Tisch, die selbst gestandene Juristen in zwei Tagen kaum angemessen bewerten können.
Umso mehr Mühe gab sich die Exekutive, das Eilverfahren an dem entscheidenden Tag abzuschirmen: das Bundesinnenministerium verbot mehrere Demonstrationen, die Berliner Polizei wies öffentlichkeitswirksam auf die Bereitstellung eines Beobachtungshubschraubers und eines Wasserwerfers hin.
Die zentralen Einwände gegen das „Dritte Bevölkerungsschutzgesetz“ lauten: das Paragrafenwerk sieht eine Art exekutiver Generalvollmacht zur Einschränkung von Grundrechten vor („Durch Artikel 1 Nummer 16 und 17 werden die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) eingeschränkt“), die mit einer „epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“ begründet wird. Was allerdings eine epidemische Notlage von nationaler Tragweite ist, definiert das Gesetz nirgends. Es ist, worauf der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hinweist, ferner keine Befristung des Gesetzes vorgesehen. Dessen Juristen kritisieren auch vage Begriffe wie „einfache“,„stark einschränkende“ oder „schwerwiegende “Schutzmaßnahmen: „Die Verwendung dieser Begriffe ist nicht überzeugend, da sie an keiner Stelle im Gesetz definiert werden. Auch die Begründung des Gesetzentwurfs liefert keine Klärung.“
Auch die so genannte vierte Gewalt fällt in dieser Debatte weitgehend aus – der Apparat der Medien. In der vormals bürgerlichen FAZ ordnet ein Redakteur die Kritik an dem Gesetz als „Geschwafel“ ein; in seinem Text schreibt er zwar von „Kritikern der Corona-Maßnahmen“, in seiner Dachzeile, die den Rahmen setzt, werden sie allerdings pauschal zu „Corona-Skeptikern“ – so, als würde jeder, der das Gesetz kritisiert, auch an der Existenz des SARS-CoV-2-Virus zweifeln.
Argumente der Gesetzeskritiker führt er so gut wie gar nicht an. Dabei kommen sie nicht nur von gestandenen Bundestags-Juristen, die Ablehnung reicht von konservativ bis links, zu ihr gehört beispielsweise der bürgerlich-liberale Verein „1bis19“ zur Grundrechtsverteidigung, der das „Bevölkerungsschutzgesetz“ ablehnt. Statt auf diese Einwände einzugehen, verspottet die FAZ die Protestler als „selbsternannte Querdenker“. Wer ernennt eigentlich Querdenker? Ein Anonymus habe geschrieben: „Berlin soll brennen“, weiß der FAZ-Autor zur Einordnung der Proteste zu berichten. Wo er das gelesen hat? Irgendwo im Internet. Ansonsten besteht sein Beitrag in der langatmigen Erklärung, fast jedes Grundrecht werde auch irgendwo durch ein Gesetz eingeschränkt. Das stimmt zwar – aber für alle Einschränkungen – etwa eine Hausdurchsuchung – gelten sehr hohe Hürden. Für die Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses hatte das Bundesverfassungsgericht kürzlich noch einmal die Grenzen scharf gezogen.
Wie viele andere empört sich die FAZ über den Vergleich zum Ermächtigungsgesetz von 1933, den manche Kritiker zögen. Nun heißt vergleichen ja nicht gleichsetzen. Aber immerhin kommt das Wort „Ermächtigung“ in dem „Bevölkerungsschutzgesetz“ 25mal vor. Und in Deutschland, wo der Nazivergleich ansonsten sehr, sehr locker sitzt – kürzlich war sogar die Deutsche Bahn wegen einer 33-Prozent-Rabattaktion dran – soll ausgerechnet bei einer massiven Grundrechtseinschränkung im Eilverfahren die Historie überhaupt nicht bemüht werden?
(Zur Süddeutschen muss allerdings erwähnt werden, dass der früherer Innenressort-Chef Heribert Prantl zu den linken Grundgesetzverteidigern und damit zu den Kritikern des Maßnahmengesetzes gehört.)
Bei der ARD gibt es einen ähnlich alarmistischen Bericht über die Demonstration, produziert von RBB. „Seit dem Morgen protestieren mehrere tausend Menschen im Berliner Regierungsviertel gegen das neue Infektionsschutzgesetz. Massenhafter (Originalversion) Verstöße gegen die Hygieneauflagen will die Polizei sich nun nicht mehr gefallen lassen.“
Während die Zuschauer erfahren, was sich die Polizei nicht mehr gefallen lassen will, lässt der Sender in diesem Bericht keinen Demonstranten zu Wort kommen oder versucht wenigstens, das Anliegen der Leute auf der Straße zusammenzufassen. In seinem Bericht für die Tagesschau sprach der Reporter Olaf Sundermeyer davon, wie lange es gedauert habe, bis die Demonstration aufgelöst worden sei („vier Stunden!“), meldete, der Platz am Brandenburger Tor sei jetzt „frei“, und erklärte mit bedauerndem Unterton, die Polizei habe nicht den vollen Wasserwerferdruck gegen die Demonstranten einsetzen können („Es waren auch Kinder unter den Menschen“). Als bei seiner Live-Ansage hinter ihm ein Mann mit einem Regenschirm ins Bild kam, auf dem „Grundrechte“ stand, erläuterte Sundermeyer, daran könnten die Zuschauer sehen, „wie medien- und polizeifeindlich“ die Demonstranten seien. (Mehr: hier)
Einen Versuch, die Demonstranten zu ihren Motiven zu befragen, unternahm er nicht. Und offenbar auch kein Kollege. Dabei hätten es die Mitarbeiter des ARD-Hauptstadtstudios nicht weit gehabt.
Als einzige Gewalt, die das Gesetz noch stoppen könnte, bliebe also, siehe oben, die Judikative. Mit seiner Regelung vom Mittwoch kommt der Bundestag formal der Forderung vieler Verfassungsjuristen nach, die eine Grundrechtseinschränkung auf dem Verordnungsweg für problematisch halten. Allerdings bietet eben auch das in höchster Hast zusammengeschusterte Gesetz viele Angriffspunkte. Warum eigentlich die Eile? Um noch die Stimmung steigender Fallzahlmeldungen des RKI zu nutzen? Bei einer derart dramatischen Entscheidung über Grundrechte gibt es überhaupt keinen Grund für den gesetzgeberischen Schleudergang.
Schon bisher stoppten Gerichte reihenweise Corona-Verordnungen wegen Widersprüchlichkeit und Unverhältnismäßigkeit. Mit dem Bevölkerungsschutz-Gesetz könnte es ähnlich gehen. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki wies kürzlich darauf hin, dass bisher in rund 60 Fällen Ober- und Verfassungsgerichte als letztes Korrektiv staatliche Corona-Maßnahmen wegen Verfassungswidrigkeit kippten: „Das sind zehn pro Monat – in einem Rechtsstaat eigentlich ein undenkbarer Vorgang.“
Mit dem Gesetz gegen „Hass im Internet“ passierte sogar ein offenkundig verfassungswidriges Gesetz Bundestag und Bundesrat; auf dringenden Rat von Juristen unterschrieb es Bundespräsident Steinmeier nicht.
Hier hatte das Bundesverfassungsgericht in einem sehr ähnlichen Verfahren – zum Telekommunikationsgesetz – die Grenzen für die Herausgabe von Nutzerdaten zur Strafverfolgung so deutlich gezogen, dass jeder sehen konnte: das „Hass“-Gesetz von Justizministerin Christine Lambrecht würde in dieser Form in Karlsruhe ebenfalls scheitern. Dieser Parforceritt über (fast) alle Warnungen und Bedenken hinweg bis zur Notbremse ging in seiner Bedeutung weit über die eigentliche Gesetzgebung hinaus. Denn unter normalen Verhältnissen prüft das Bundesjustizministerium Gesetze auf Verfassungsmäßigkeit. Auch hier war der wissenschaftliche Dienst lange vor der Abstimmung des Bundestags zu dem Schluss gekommen: klar grundgesetzwidrig. Dass eine Justizministerin trotzdem versuchte, mit dem Kopf durch die Wand der Verfassung zu kommen, markiert eine neue Qualität.
Ein ganz ähnlicher Vorgang spielte sich 2020 jeweils in Thüringen und Brandenburg: hier wie dort scheiterte das so genannte Parité-Gesetz erst an den Landesverfassungsgerichten – ein Gesetz, das den Parteien grundrechtswidrig eine 50-50-Quotierung der Listenplatze nach Geschlecht vorschreiben wollte. Auch hier kam ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags Brandenburg schon lange vorher zu dem Schluss: verfassungswidrig. Die jeweils linken Koalitionsmehrheiten zogen die Vorhaben trotzdem durch. Und selbst nach dem Scheitern in Brandenburg klagte die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen über den „Rückschlag“ – ohne sich mit den Argumenten des Verfassungsgerichts ernsthaft zu befassen.
Ob die dünne rote Linie der Richter unter diesem Druck hält, daran hängt die Gestalt dieser Gesellschaft. Und auch an der Renitenz von Bürgern.
Die Highlander vor Balaklava blieben gerade deshalb in ihrer dünnen roten Linie, weil sie wussten, dass sie allein standen. Ob diese Lage auch im zivilen Leben den Mut befeuert – das ist offen.