Es herrscht eine ungewöhnliche Stimmung in Deutschland. Feindeslisten gehen um, auf denen die Namen unliebsamer Politiker mit Anschrift stehen. Die Funktionärin eines katholischen Laienverbandes fordert die Kirche dazu auf, AfD-Mitglieder aus Laienämtern auszuschließen. Ein zusammengeschlagener Politiker erntet im Netz noch Hohn und Spott, während die Anführerin einer linksextremen Schlägerbande mit dem Hinweis auf ihr achtenswertes Motiv mit Samthandschuhen angefasst wird. Eine ZDF-Podcasterin, die Ungeimpfte mal als nicht-essentiellen Bestandteil mit einem Blinddarm verglich, wird mit einer eigenen Sendung in der öffentlich-rechtlichen Senderfamilie belohnt. Indes zelebriert sich der Bundespräsident als Spalter der Nation, indem er unliebsame Wähler de facto kriminalisiert.
Alexander Wendt hat im Bezug auf die öffentlich-rechtliche Senderfamilie vor einer Woche das Urteil zusammengespitzt: Wir glauben euch nicht. Aber was für den Journalismus gilt, gilt mittlerweile für ganze Lebensbereiche. Das Gefühl, die Realität gegen eine Matrix-gleiche Version eingetauscht zu haben, steckt zumindest unterbewusst in einem größer werdenden Teil der Bevölkerung. Einen Rückzugsort gibt es nicht mehr: nicht die Kirche, nicht die Partei, nicht der Fußball, nicht der Verein, nicht einmal mehr die Kneipe. Regenbogenfahnen fordern unterschwelliges Bekenntnis. Das Politische ist im Privaten fest verankert. Bereits Nichterwähnen und Schweigen ist eine Stellungnahme.
In dieses „diffuse Gefühl“, das für zahlreiche Politiker nur anekdotische Evidenz hat, sticht eine Studie der Körber-Stiftung. Der Vertrauensverlust in die Demokratie ist groß. 54 Prozent der Befragten sagten, sie hätten nur „weniger großes“ oder „geringes“ Vertrauen in die Demokratie. Dem stehen nur 43 Prozent gegenüber, die sagen, sie hätten „sehr großes“ oder „großes“ Vertrauen in die Demokratie. Die Körber-Stiftung beurteilt die Situation so: „Obwohl demokratische Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit und faire Wahlen für über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung von hoher Bedeutung sind, zeigt die Umfrage einen deutlichen Rückgang des Vertrauens in die deutsche Demokratie selbst.“
Dabei sind die Befunde nicht ohne Widersprüchlichkeiten. Paradebeispiel ist etwa das erwähnte Klima der Meinungsfreiheit, das sich auch in den Befunden niederschlägt. So ist etwa die Zustimmung zur Feststellung „In Deutschland kann man seine Meinung jederzeit äußern“ eingebrochen. Von 70 Prozent im Jahr 2017 auf 58 Prozent im Jahr 2023. Im Corona-Jahr 2021 waren es sogar nur 54 Prozent. Dennoch bleibt der Befund, dass immerhin eine absolute Mehrheit der Befragten der Meinung zustimmt, man könne in Deutschland seine Meinung jederzeit äußern.
Eine andere Frage zeigt jedoch, dass es nicht so einfach ist. Denn 72 Prozent sagen zugleich: „Heutzutage muss man in Gesprächen und Diskussionen aufpassen, was man sagt“. Das ist eine bemerkenswerte Diskrepanz. Denn die selbst akklamierte Meinungsfreiheit ist ideell vorhanden, aber nicht praktisch. Man darf seine Meinung jederzeit frei äußern, muss aber aufpassen, gegenüber wem man dies tut. Die Gedanken sind frei?
Ähnlich sieht es bei den Mitbestimmungswünschen aus. So fordern 86 Prozent ein größeres Mitspracherecht der Bürger. Besonders gerne wünscht man sich dies auf kommunaler Ebene (58 Prozent). Allerdings geben 92 Prozent der Befragten an, sich nicht in der Kommunalpolitik zu engagieren. 37 Prozent gaben an, dies auch nicht auf Nachfrage tun zu wollen. Mitbestimmung ja, Engagement nein.
50 Prozent der Befragten glauben überdies nicht, dass die „großen Transformationsaufgaben“, die Deutschland sich gestellt hat, bewältigt werden können. Das ist deswegen eine interessante Frage, weil sie nicht beantwortet, ob die Befragten diese Transformationsaufgaben überhaupt bewältigen wollen oder richtig sind; hier werden sowohl von Inflation betroffene Geringverdiener wie Klimaextremisten die Aussage bejahen, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
In eine ähnliche Kerbe schlägt die Frage danach, ob Politiker mehr „Macht und Durchsetzungswillen“ brauchen, um die zahlreichen Probleme zu lösen. 56 Prozent bejahen das. Aber Macht und Durchsetzungswillen sind zwei völlig verschiedene Schuhe. Etwas mehr Durchsetzungswille würde manchem Politiker nicht schaden. Aber mehr Macht? Die Aushebelung von verfassungsgemäßen Kontrollinstitutionen gehört bereits zum guten Ton. Man könnte dies als Ruf nach dem „starken Mann“ interpretieren. Mit der neuerlichen Feststellung: Auch diese Förderung hört man derzeit von weit rechts bis nach weit links. Mal wieder.