Tichys Einblick
Zeitenwende der Ampel

Zeitenwende, Tempo, Transformation – die Ampel im Rauschzustand des Aktivismus

Schnell noch den Planeten retten: Die Ampel treibt Deutschland hektisch in eine „Große Transformation“ und „Zeitenwende“. Wenn Politiker anfangen, über die „Zeit“ zu reden, sollte man genau hinhören, schreibt Peter J. Brenner. Verstehen die Akteure eigentlich, wovon sie reden?

IMAGO

Die moderne Politikauffassung hatte sich eigentlich schon von der Vorstellung verabschiedet, dass es möglich oder auch nur wünschenswert sei, Epochenbrüche herbeizuführen und die politische Praxis in Jahrhundertzyklen zu planen. Das in Schutt und Trümmern untergegangene „Tausendjährige Reich“ ließ ein solches Denken zumindest im westlichen Teil Deutschland mehr als sieben Jahrzehnte lang als äußerst unattraktiv erscheinen. Im „Dritten Reich“ hat übrigens das Wort von der „Zeitenwende“ seinen Ursprung, das der Bundeskanzler in der ihm eigenen semantischen Unbekümmertheit wieder eingeführt hat.

Die „Fortschrittskoalition“

Wenn der Bundeskanzler anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine von einer „Zeitenwende“ sprach, dann bezog er sich einerseits auf ein konkretes historisches Ereignis, griff aber anderseits auf einen politischen Denkansatz zurück, der ein Vierteljahr zuvor schon bei der Begründung der neuen Regierungskoalition durch einen „Koalitionsvertrag“ Pate gestanden hatte. Dieser Koalitionsvertrag ist ein eigenartiges Dokument. Es formuliert den Anspruch dieser Regierung, erstmals seit mehr als fünfzig Jahren, seit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler, einen epochalen politischen Neuaufbruch zu realisieren. „Mehr Demokratie wagen“, hieß es bei Willy Brandt. Die aktuelle Regierung ersetzte – wohl mit Bedacht – in ihrem Koalitionsvertrag die „Demokratie“ durch den „Fortschritt“: „Mehr Fortschritt wagen“, heißt der Titel der Koalitionsvereinbarung, und wenn es nicht anders geht, muss die „Demokratie“ eben hinter dem „Fortschritt“ zurückstehen.

Zwei Jahre nach dem Regierungsantritt, zur Halbzeit der Legislaturperiode also, lohnt sich noch einmal ein kurzer Blick in dieses Papier. Im journalistischen Sprachgebrauch hat sich für die aktuelle Regierung der Begriff „Ampelkoalition“ eingebürgert. Verdient hat sie sich diese Bezeichnung durch ihre Regierungspraxis, die, wie eine Ampel, mal diese und mal jene Farbe zeigt und mal diese oder jede Richtung freigibt, meistens aber auf „grün“ steht.

In ihrem Gründungsdokument als Regierung haben sich die drei Parteien selbst aber einen wohlklingenderen Namen ausgedacht: Nicht „Ampel-“, sondern „Fortschrittskoalition“ wollen sie heißen. Das ist eine seltsame Begriffsschöpfung. Denn wer im Jahre 2021 noch den „Fortschritt“ zum Leitmotiv seines politischen Handelns macht, wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Die Zukunft gehört seit Jahrzehnten schon den „Fortschrittsfeinden“, den Skeptikern, die der Moderne mit ihren technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften die Gegenrechnung präsentieren – eine Rechnung von Naturzerstörung und Artenschwund, Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung.

Die Fortschrittskoalition weiß davon nichts. Sie verheißt eine glänzende Zukunft, denn sie hat „den Aufbruch in ein innovatives Bündnis verabredet, das Erneuerung, Fortschritt und Chancen bringt zur Lösung der großen Herausforderungen“. Dieses innovative Bündnis verspricht denen, die daran glauben, „Sicherheit und Respekt auch in Zeiten des Wandels. Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt“. In dem 143 Seiten langen Gründngsdokument der „Fortschrittskoalition“ kommt das Wort „Fortschritt“ einerseits derart vollmundig, andererseits aber doch nur selten und verzagt vor: „wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden“. Wer wollte hier widersprechen?

Versprochen wurde viel: „Wir verpflichten uns, dem Wohle aller Bürgerinnen und Bürger zu dienen“, heißt es im Dezember 2021 wohlgemut. Zwei Jahre später weiß man es besser. Die Fortschrittskoalition hat inzwischen ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, innerhalb von zwei Jahren aus einer florierenden Wohlstandsgesellschaft eine wirtschaftliche und soziale Trümmerlandschaft zu machen. Denn das Wohl „aller Bürgerinnen und Bürger“ muss im Zweifelsfall zurückstehen hinter höheren Zielen: „Wir wollen Europa zu einem Kontinent des nachhaltigen Fortschritts machen und international vorangehen. Durch europäische Standards setzen wir Maßstäbe für globale Regelwerke.“

Diese neue Tonlage hat die Ministerin des Auswärtigen aufgegriffen und auf die ihr eigene Art weitergeführt. Wenige Monate nach ihrer Amtseinführung entwickelt sie in ihrer Rede zur Eröffnung des „Berlin Energy Transition Dialogue“ am 29. März 2022 schwindelerregende Zukunftsperspektiven: Die „Klimakrise ist die größte internationale Herausforderung des 21. Jahrhunderts für unsere Weltgemeinschaft“, erläuterte sie. Der Planet müsse gerettet werden, und zwar sofort, und dafür seien in erster Linie die Deutschen zuständig. Und diese Rettung hätten „wir“, „als Bundesrepublik Deutschland, als neue Bundesregierung bereits vor diesem furchtbaren Krieg in unserem neuen Koalitionsvertrag verankert“.

Die Vorstellung, man könne die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nach Belieben umformen, „transformieren“, versetzt Politiker in einen Rauschzustand. Aber Politiker im Höhenrausch sind gefährlich. Am Ende stellt sich die Frage, wovor sich die Bürger in diesem Land mehr fürchten müssen: vor der künftigen Klimakatastrophe oder vor denen, die diese Katastrophe verhindern wollen.

Denn inzwischen weiß man, wie sich diese Regierung die Rettung des Planeten vorstellt. Das Mittel der Wahl heißt Deindustrialisierung; denn die gegenwärtig und schon länger hier Lebenden müssen zurückstehen gegenüber den anderswo und in der Zukunft Lebenden. Die Aufforderung, die Gegenwart zugunsten des guten Lebens künftiger Generationen zu opfern, gehört zum Kernbestand einer jeden totalitären Ideologie ebenso wie die Vorstellung, man könne die Gesetze der Physik außer Kraft setzen, sobald sie unbequem werden.

Tempo, Tempo, Tempo

Ein auffälliges Merkmal dieses Regierungshandelns ist seine atemlose Hast. Während man einerseits in planetarischen Dimensionen denkt, kann im Hier und Jetzt nichts schnell genug gehen. Man bewegt sich mit seinen umstürzenden Plänen in einem Planungshorizont von 20 bis 30 Jahren – spätestens 2050, besser noch 2030, muss alles anders sein. In diesen zwei oder drei Jahrzehnten muss die „Zeitenwende“ bewältigt, der gesamte Verkehr auf Elektromobilität umgestellt, müssen sämtliche Gebäude der EU wärmegedämmt, alle fossilen Heizungen durch Wärmepumpen ersetzt, 30.000 neue Windkraftanlagen in die Wälder gestellt, 30 bis 50 Gaskraftwerke neu gebaut, das gesamte Fernleitungsnetz wasserstofftauglich gemacht und nebenbei der Krieg gegen Putin gewonnen und alle Flüchtlinge integriert sein. Und wenn es nicht schnell genug geht, wird eben per Gesetz beschlossen, dass es schneller gehen und in der Zukunft besser werden müsse. Eine Regierung, die von ihrer Parlamentsmehrheit ein „LNG-Beschleunigungsgesetz“ beschließen lässt oder gar ein „Zukunftssicherungsgesetz“ plant, hat unverkennbar großes Vertrauen in die Kraft von Wörtern, wenn sie nur in Gesetzestexte gefasst sind.

Diese atemlose Hast steht in einem merkwürdigen Gegensatz zum Lebensgefühl einer Bevölkerung, die sich gerade anschickt, mit dem Ratschlag ernst zu machen, der ihr seit zwei Generationen von Philosophen, Psychologen, Erziehungsratgebern und Lehrkräften gegeben wird. Er heißt: „Entschleunigung“. In der Praxis bedeutet „Entschleunigung“ Work-Life-Balance, Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich, Gap Year und bedingungsloses Grundeinkommen in Form von „Bürgergeld“.

Politik im Höhenrausch

Was der Bundeskanzler und seine politische Entourage als Epochenbruch und Zeitenwende wahrnehmen, ist für den Historiker die Rückkehr zur politischen und gesellschaftlichen Normalität. Die Vorstellung, man könne anstrengungslosen Wohlstand von Generation zu Generation einfach weiterreichen und alle Welt teile „unsere westlichen Werte“, war eine Illusion, die von der Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 1970er Jahren genährt wurde und die dank glücklicher Umstände zwei Generationen aufrechterhalten werden konnte. Sie erhielt sogar einen neuen Schub durch das Epochenjahr 1989.

Aber anstrengungsloser Wohlstand führt zum Übermut. Mit seinen planetarischen Zukunftsphantasien hat sich das diskursbeherrschende Milieu in eine Wahnidee verstrickt, aus der es sich selbst nicht mehr befreien kann. Ein wesentlicher Grund dafür sind die substanziellen Bildungsdefizite der Akteure. Ihr stark verengter Bildungshorizont hält sie davon ab, ihr eigenes Denken und Handeln zu reflektieren und in größere Zusammenhänge einzuordnen, es abzuwägen und zu relativieren, das Wünschenswerte vom Gefährlichen und das Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden. Dafür ist das deutsche Bildungswesen verantwortlich.

Eigentlich müsste man keinen höheren Bildungsgang mit Abitur und Studium durchlaufen haben, um einzusehen, dass die aktuelle Energie-, Wirtschafts-, Migrations- und Sozialpolitik nicht funktionieren kann. Dazu reicht eine gewisse Aufmerksamkeit beim Erlernen der Grundrechenarten. In Bayern lernt man in der 5. Klasse – in Hannover oder Lübeck mag das anders sein –, dass eine negative Zahl herauskommt, wenn man eine größere Zahl von einer kleineren subtrahiert. Und in der anschließenden beruflichen Ausbildung lernt man dann, dass man im Geschäftsbetrieb negative Zahlen vermeiden soll.

Das Aushängeschild des deutschen Bildungssystems ist die Ministerin des Auswärtigen. Ihre unablässig der Öffentlichkeit vorgeführten historischen und geographischen Kabinettstückchen werden von den einen amüsiert zur Kenntnis genommen und von den anderen als belanglose Bagatelle beiseite gewischt. Aber sie sind weder amüsant noch belanglos. Sie sind der Kern des Übels. Wer nichts über die Grenzen weiß, welche die Geographie und die Geschichte dem menschlichen Handeln setzen, von der Physik ganz zu schweigen, der muss notwendig zu maßloser Selbstüberschätzung neigen, sobald ihm die Möglichkeiten eines hohen politischen Amtes in den Schoß fallen.

Die Griechen nannten es Hybris, im Deutschen heißt es „Vermessenheit“. Das Wort kommt aus dem Althoch-deutschen farmeʒʒan: „anmaßend sein, das Maß seiner Kräfte falsch einschätzen“. Das trifft es wohl. Davor könnte Bildung bewahren, aber an der fehlt es eben.


Unser Autor Peter J. Brenner war von 1991 bis 2009 Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. 2009 wechselte er an die Technische Universität München, zunächst als Gründungsgeschäftsführer der TUM School of Education; anschließend war er Akademischer Direktor an der Carl von Linde-Akademie der TUM. 2016 wurde er in die Klasse I: Geisteswissenschaften der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste und 2017 in den Akademischen Rat der Humboldt-Gesellschaft e.V. gewählt. Der Beitrag ist zuerst auf www.imsw.de erschienen.

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