In den sieben Jahren seit ihrer Gründung hat die AfD eine politische Achterbahnfahrt erlebt. Auf Höhenflüge folgten Abstürze. Der „gärige Haufen“ (Alexander Gauland) ist massiven Spannungen zwischen eher gemäßigten Bürgerlich-Konservativen und Radikalen ausgesetzt; die Beobachtung durch den Verfassungsschutz belastet die Partei. In der Corona-Krise sind ihre Umfragewerte aktuell auf zehn Prozent gesunken. Das ist eigentlich noch recht viel, wenn man bedenkt, dass die AfD ein Gutteil ihrer Energie in internen Streit steckt. Eine klare Strategie, wie die Partei wieder aus dem Umfragetief herauskommen will, ist nicht zu erkennen.
Aktuell beschäftigt sich die AfD mit einem Mitgliederentscheid, der das Potential hat, die Partei abermals entgleisen zu lassen. Zumindest würde er es erschweren, dass die AfD sich professionalisiert und „erwachsen“ wird, wie es Parteimitgründer Gauland gefordert hat.
Mit dem Mitgliederentscheid will eine Gruppe von Basismitgliedern, angeführt vom Bundestagsabgeordneten Hansjörg Müller, erzwingen, dass die AfD in diesem Jahr einen Mitgliederparteitag abhält und darüber abstimmt, dass künftig nur noch Mitgliederparteitage stattfinden. „Basisdemokratie!“ lautet ihr Schlachtruf, Delegiertenparteitage seien Zeichen einer „Oligarchisierung“. Müller hat von drei Prozent der Mitglieder Unterstützerunterschriften gesammelt und eingereicht. Deshalb muss nun laut Satzung ein Mitgliederentscheid durchgeführt werden. Am heutigen 15. Mai werden die Briefwahlunterlagen an rund 36.000 Mitglieder verschickt, allein Druck und Versand der Unterlagen kosten eine mittlere fünfstellige Summe.
Müller, ein Unternehmensberater aus Oberbayern, gilt zwar in der Bundestagsfraktion und selbst auf dem rechten Flügel der Partei, dem er angehört, als eher isoliert. Dennoch könnte es sein, dass der Hinterbänkler eine Mehrheit der Abstimmenden beim Mitgliederentscheid gewinnt. Zornige und mit der Parteiführung unzufriedene Mitglieder gibt es genug.
Gegen Müllers Antrag hat sich daher eine massive Ablehnungsfront gebildet. Der Bundesvorstand, die Landesvorstände von NRW, Rheinland-Pfalz, Berlin und Hamburg sowie 23 Kreisverbände haben Stellungnahmen dagegen beschlossen. Für den Antrag sprechen sich nur sechs Kreisvorstände und einzelne Mitgliedergruppen aus.
Der Bundesvorstand argumentiert unter anderem mit unüberwindlichen logistischen Hürden und hohen Kosten. Man müsste eine riesige Halle buchen, die bis zu einem Fünftel der Mitglieder fassen kann, da man nicht genau wisse, wie viele kommen wollen. Eine Halle für bis zu 7000 Leute zu finden, dürfte schwierig werden. Die Kosten dürften bei mindestens einer Million Euro liegen. Die Bundesprogrammkommission, die Müllers Antrag ebenfalls ablehnt, warnt, dass ein Massenparteitag ein Mehrfaches der 400.000 Euro kostet, die für einen Parteitag mit 600 Delegierten veranschlagt werden. „Ein solcher Entzug von Mitteln, welcher die ohnehin eingeschränkte Kampf- und Wahlkampffähigkeit der Partei einschränkt, gefährdet unsere Handlungsfähigkeit als Partei“, meint die Bundesprogrammkommission.
Außerdem warnt sie: „In der Atmosphäre einer Sportarena mit Tausenden von Menschen Personal- und diffizile politisch-programmatische Fragen zu diskutieren ist unmöglich.“ Einige Landesvorstände warnen, dass zu einem Mitgliederparteitag vermehrt Mitglieder aus der Umgebung des Tagungsorts kommen und er nicht so demokratisch-repräsentativ sei wie ein Parteitag, zu dem jeder Kreisverband gewählte Delegierte entsendet. Der Landesvorstand Berlin warnt, dass ein Delegiertenparteitag weniger manipulationsanfällig sei. „Einflussnahmen auf die Wahlergebnisse durch das ‚Herankarren‘ von Mitgliedern sind nicht möglich.“
Auffällig ist aber, dass die Ablehnung von Mitgliederparteitagen in Westdeutschland größer als im Osten zu sein scheint. Die Landesverbände im Osten, die den rechten, jetzt formell aufgelösten „Flügel“ von Björn Höcke unterstützen, haben keine Stellungnahmen zum Mitgliederentscheid eingesandt. Mancher mag stillschweigend mit Müllers Initiative sympathisieren, weil er erwartet, dass einfache Mitglieder in größerer Zahl für ganz rechte, „systemkritische“ Anträge stimmen könnten; zumindest sind sie weniger erfahren und eher für „Abenteuer“ zu gewinnen.
Die Kreisverbände, die Müllers Antrag unterstützen, sehen keine unüberwindlichen Hindernisse für Mitgliederparteitage. „Logistische und finanzielle Gegenargumente gegen Mitgliederparteitage existieren tatsächlich, können aber bei gutem Willen gelöst werden“, meint etwa der Kreisverband Offenbach Land, dessen Stellungnahme den Mitgliedern in einem 62-seitigen Dokument von Pro- und Contra-Stellungnahmen als erste präsentiert wird. Der Offenbach-Land-Kreisverband schreibt ganz im Sinne Müllers, dass eine „Oligarchisierung“ der AfD drohe. „Wenn die laufende Oligarchisierung unserer Alternative für Deutschland nicht sofort gestoppt wird, geht die AfD endgültig an das Altparteiensystem verloren und kann dieses nicht mehr überwinden“, heißt es dann andeutungsstark.
Welche Seite den Mitgliederentscheid gewinnt, ist offen. Bis Mitte Juni läuft die Abstimmung. Aus dem Umfeld der Parteispitze ist die Hoffnung zu hören, dass letztlich doch „die Vernunft sich durchsetzt“, weil die Mitglieder erkennen würden, dass Massenparteitage kaum durchführbar seien und zu viel Geld verschlingen. Aber das ist nicht sicher.
Vor einigen Wochen machte Schlagzeilen, dass die AfD eine Millionenerbschaft erhalten hat. Hält sie künftig häufiger Massenparteitage ab, wäre das Geld bald ausgegeben. Jedenfalls hat die AfD schon einige Male bewiesen, dass sie ein Meister darin ist, sich selbst ein Bein zu stellen.